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Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

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Inland
Richard von Weizsäckers Haltung, die Deutschland immer noch dringend braucht
Er sorgt für Probleme sogar in der SZ
Von Luz María De Stéfano Zuloaga de Lenkait

Franziska Augsteins Bemerkung zu Richard von Weizsäcker (SZ, 2.2.15) zeigt, wie verkrustet die regierende deutsche Klasse geblieben ist: "Anlässlich der Feier zum 40. Jubiläum (8.5.1985) des Kriegsendes verkündet er, der 8. Mai sei kein Tag der Niederlage, sondern ein "Tag der "Befreiung". Die Vertreibung der Deutschen sei nicht von ungefähr gekommen, sondern die Folge des von deutscher Seite begonnenen Krieges gewesen. So ausgewogen diese Rede war, so sehr vexierte sie doch viele Politiker der Union. ... Manch ein Unionspolitiker empfand das als Verrat. Zwanzig Jahre später (2005) kommentierte der Alt-Bundespräsident selbst seine berühmte Rede so: Er habe da nichts wirklich Neues gesagt; stolz sei er allein darauf, wie gut seine Worte im Ausland trotz allem angekommen seien."
 

Richard von Weizsäcker
Quelle: Bundesarchiv
In der Tat sagte der Alt-Bundes-präsident nichts wirklich Neues. Journalisten heute, wie Heribert Prantl, Franziska Augstein, Kurt Kister, und alle anderen sollten wissen, dass es darum geht, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrwegs deutscher Geschichte zu erkennen. So Richard von Weizsäcker: "Der 8. Mai hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Verbittert standen Deutsche vor zerrissenen Illusionen, dankbar andere Deutsche vor dem geschenkten neuen Anfang. ... Die meisten Deutschen hatten geglaubt, für die gute Sache des eigenen Landes zu kämpfen und zu leiden. Das alles war nicht nur vergeblich und sinnlos, sondern es hatte den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung gedient. ... Es gab viele Formen, das Gewissen ablenken zu lassen. ... Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen."
 
Im anderen Deutschland, der DDR, gehörte der Begriff der Befreiung seit ihrer Gründung zur Staatsräson. Dort stand er in den Schulbüchern, und das seit Jahrzehnten. Dagegen taucht der Begriff Befreiung bis heute nicht in den gebräuchlichen deutschen Schulgeschichtsbüchern auf. "Wäre es nicht an der Zeit und nun eine Pflicht, dass nicht nur die Autoren der Schulgeschichtsbücher und die Politiker, die über deren Zulassung entscheiden, vom rühmenden Gerede zur bildenden Tat schreiten?" ("Bildende Tat" von Kurt Pätzhold, junge Welt, 11.2.)
 
Im Westen war es allerdings unter fortschrittlichen Denkern und Politikern ganz selbstverständlich von der Befreiung vom Faschismus zu sprechen und zu schreiben. Warum bleibt dieses wichtige Handicap in der Süddeutschen Zeitung ausgeblendet? Mit den verbrecherischen Vorfahren ist endlich zu brechen.
 

Franziska Augstein
NRhZ-Archiv
Franziska Augstein weiter: "Weizsäcker übernahm das Amt in einer Zeit, da die Bundesrepublik mit sich selbst nicht im Reinen war: In den Achtzigerjahren begann eine vertiefte Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit. Die Selbst-Exkulpationen der Ewig-Gestrigen stießen auf die Bedürfnisse jüngerer Deutscher nach Aufarbeitung der NS-Verbrechen. ... Die Lehren der Vergangenheit wandte von Weizsäcker auf die Gegenwart an. Als liberaler Denker und als Galionsfigur des Evangelischen Kirchentages, war er um Ausgleich und Verständigung bemüht.
 
Der Vater, Ernst von Weizsäcker, war weder ein Fan Hitlers noch der Nazis, wie es »Franz Joseph Hermann von Papen auch nicht war. Im Gegenteil. Sein Vater habe die Widerstandsarbeit von "Adam von Trott zu Solz und anderen im Außenamt koordiniert. (Leserbrief von Richard von Weizsäcker an die FAZ, 22.4.2005).
 
Die Nazi-Clique war eine Ansammlung von Hochstaplern, die zum Untergang Deutschlands und Ruin Europas führte. Die CDU hat viele von ihnen assimiliert, weil sie vermeiden wollte, die westdeutsche Bundesrepublik als Post-Nazi-Deutschland bloßzustellen. Die aktive Präsenz dieser Ewig-Gestrigen bzw. Faschisten in der einflussreichen regierenden CDU hat die politische Entwicklung des Landes beeinträchtigt, ja bis heute noch behindert. Es wäre besser, unerwünschte Elemente fernzuhalten anstatt in die CDU-Partei hineinkommen lassen. Faschisten, Neonazis sollten sich erkennen lassen, so wie sie sind: Potentielle Kriminelle und undemokratische Extremisten. Gibt es eine Stiftung, um die Aufarbeitung der westdeutschen Post-Nazi-Bundesrepublik zu leisten?
 
So wie sich der Vater verrannt hatte, das war Weizsäckers Lehre, so hatten sich viele Deutsche verrannt. Am aller wichtigsten ist es, Fehler anzuerkennen, und sie einzugestehen, denn nur dadurch ist eine Richtigstellung möglich. Jeder macht einen Fehler. Den Mut zu haben, ihn einzugestehen und aus ihm zu lernen, ist die beispielhafte couragierte Lehre eines Richard von Weizsäcker. Daher die Stichhaltigkeit von Walter Steinmeiers: "Seine Worte waren wahrhaftig vor Jung, vor Alt, vor Deutschland, vor der Welt, weil sie eben wahrhaftig vor sich selbst waren."
 
Beim Abschied von Richard von Weizsäcker im Berliner Dom am 11.2. erinnerte der Berliner Pastor und ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland Bischof Dr. Martin Kruse an von Weizsäckers Worte auf dem Kirchentag in Köln 1965: "Das Evangelium gewährt uns die Hoffnung auf die Zukunft, aber wir erfassen die lebendige Kraft überhaupt nur in vollen Einsatz für unseren gegenwärtigen Aufgaben." Eine selbstsüchtige Freiheit verdient diesen Name nicht.
Die Freiheit darf nicht missbraucht werden. Der Alt-Bundespräsident war ein überzeugter Christ, der im besten Geist Martin Luthers als Herr seiner selbst zu denken und zu handeln wusste, nicht als Untertan von anderen. In diesem Zusammenhang kann man sich gut vorstellen, dass ihn auch seine Freundschaft mit dem tschechoslowakischen Präsidenten, Vaclav Havel, tief prägte, als der fortschrittliche tschechische Politiker und Vordenker vor seiner Reise nach Washington und New York (20.-22.2.1990) grundsätzlich und aufklärerisch für ein unabhängiges Deutschland und ein unabhängiges Europa, gelöst von dem NATO-Bündnis, öffentlich plädierte. Warum es nach dieser Reise anders kam und die Tschechoslowakei Mitglied der NATO wurde, bleibt vor der Öffentlichkeit verborgen. Von Weizsäcker war ein brillanter Intellektueller und vor allem ein Realist, um die Lage von West-Europa nüchtern und ohne ideologische Vorurteile zu beurteilen. Sicherlich war er überzeugt davon, dass Deutschland seine volle Souveränität erlangen und ausüben sollte, um über sich selbst, über seine Sicherheit verantwortungsvoll bestimmen und eine Friedensordnung und die Zukunft Europas selbständig, frei von außereuropäischen Einmischungen, mitgestalten zu können. Dieser Gedanke ist völlig kongruent mit der persönlichen Entwicklung von Richard von Weizsäcker zu eigener und keiner fremden Selbstbestimmung.
 
"Wir müssen die Maßstäbe für uns allein finden. Wir brauchen und wir haben die Kraft, der Wahrheit so gut wir es können, ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung, ohne Einseitigkeit." Eine Lehre, die die politische Klasse und Medien noch zu lernen haben. Der Alt-Bundespräsident plädierte immer wieder dafür, die Verständigung unter allen Umständen mit den Ländern zu suchen, im Besonderen mit Polen und Russland, wo das deutsche Militär gewütet hatte. Alle sprächen immer von "Versöhnung". Das sei ein falsches, ein anmaßendes Wort, Deutschland habe diese Länder schließlich überfallen. Mehr als "Verständigung" dürften Deutsche nicht anstreben.
 
Richard von Weizsäcker war keine traumatisierte Person, kein traumatisierter Politiker. Trotz aller geistigen CDU-Engstirnigkeiten konnte er den richtigen Weg finden und die richtigen Lehren aus dem Krieg ziehen. Das ist sein persönliches Verdienst. "Wir jungen Soldaten verstanden das wenigste und glaubten das meiste", sagte er selbstkritisch. Durch persönliche Aufarbeitung seiner Vergangenheit und der deutschen Geschichte, hatte er sich durch seine selbstkritische Intelligenz und Ehrlichkeit zu einem liberalen Demokraten gebildet. Deswegen war er in der Lage, selbstsicher auf der Grundlage des Friedensmandats aufzutreten." Heribert Prantl würdigt ihn zutreffend (SZ, 2.2.):
 
"    Von Weizsäcker hatte alles, was Kohl fehlte: Noblesse, die Aureole der Weisheit, glänzende Intellektualität. Wie Antje Vollmer ihn einmal richtig einschätzte, er vermittelte den Deutschen die traumhafte Sicherheit: In mir habt ihr einen, mit dem werdet Ihr euch nicht blamieren!     Der Präsident von Weizsäcker war der Gegentyp zu Helmut Kohl. Wo Helmut Kohl als biederer Pfälzer erschien, war von Weizsäcker Weltmann und Weltgeist. Er verkörperte die geistig-moralische Erneuerung."
 
Eine geistige Erneuerung, die Deutschland dringend immer noch braucht, denn aufgrund der jahrelangen CDU-Herrschaft ist diese Erneuerung bei konservativen Politikern und unterentwickelten obrigkeitshörigen Medien nicht eingetreten.
 
Weil der Alt-Bundespräsident geistig weit entwickelter, gebildeter und fortschrittlicher war als sein CDU-Umfeld, hat er sich gut mit dem ostdeutschen Staatschef Erich Honecker verstanden. Gute Beziehungen zu der Schwester-Republik, zur DDR, waren ihm wichtig. Man kann sich gut vorstellen, dass ein Alt-Bundespräsident, der die deutsche Vergangenheit gründlich aufgearbeitet hatte, der DDR-Staatsraison Antifaschismus bedenkenlos zustimmen konnte.
 
Hat die westdeutsche Bundesrepublik jemals humanistische Werte und die Bedeutung des Weltfriedens betont? Die Weltgemeinschaft erinnert sich jedoch sehr wohl an die eindeutige wiederholte Botschaft eines anderen Deutschland, ein Deutschland, das auf internationale universelle humanistische Prinzipien gegründet war, ein Deutschland, das heute leider nicht mehr existiert, aber Motiv für Ehre und Stolz aller Deutschen und friedfertigen Menschen ist: Die Deutsche Demokratische Republik. Darüber zu sprechen oder zu schreiben ist im heutigen Deutschland tabu. Nicht aber für einen liberalen Denker wie Richard von Weizsäcker. Der Alt-Bundespräsident war der erste Politiker, der gegen jede dumme Ausgrenzung eintrat. Ausgrenzung, Hass, Antisemitismus, blinder Antikommunismus, Islamophobie gestalten den Boden für eine neue Auflage des Faschismus.
 
Jeder Form von Faschismus, Rassismus, Antisemitismus, Anti-Islamismus, Anti-Kommunismus, jeder Form von Hass und Ausgrenzung ist konsequent entgegenzutreten. Dessen war sich Richard von Weizsäcker voll bewusst. Das Grundgesetz als oberste republikanische Gesetzesordnung setzt den gleichen Rahmen für alle in Deutschland lebenden Menschen. Das Grundgesetz gilt nicht nur für die Deutschen, sondern für alle Menschen, die hier leben, egal welche Religion oder Ideologie sie haben. Alle Menschen in Deutschland, allen voran deutsche Staatsbürger sollten das Grundgesetz kennen, es verstehen lernen und verinnerlichen. Medien an erster Stelle. Es gibt keine Trennung in der Gemeinschaft hierzulande, wo sich Christen, Juden, Moslems und Atheisten treffen. Wir alle gestalten eine Gemeinschaft, die sich alltäglich dem Grundgesetz unterordnet.
 
Die Deutsche Demokratische Republik betonte immer wieder den Weltfrieden, die Abrüstung und die menschliche Solidarität mit allen Unterdrückten. Diese Ansätze haben ihre Außenpolitik geprägt. Deshalb wurde die DDR mehrmals Mitglied des UN-Sicherheitsrates und sogar Präsident der Vollversammlung mit größter Unterstützung der Weltstaatengemeinschaft, ohne besondere Bestrebungen, ohne großes Aufheben, ohne Brimborium. Nicht aber die westdeutsche reaktionär geprägte Bundesrepublik, die sich seit der sogenannten Wiedervereinigung 1990 auf eine aggressive Außenpolitik eingelassen hat. In der Tat ist die Bundesrepublik Deutschland seitdem in den Kreis der aggressivsten imperialistischen Staaten zurückgekehrt und weltweit in Militär- und Kriegseinsätze verwickelt. In dieser unehrenhaften Gesellschaft fühlt sie sich wohl und möchte offiziell mit mehr Gewicht agieren, und zwar in nichts weniger als im höchsten Weltorgan, dem UN-Sicherheitsrat.
 
Bundespräsident Richard von Weizsäcker konnte oder wollte sich nicht gegen die Entscheidung von Kanzler Helmut Schmidt stellen, in den 80iger Jahren US-Raketen auf deutschem Boden installieren zu lassen. Gegen diesen militaristischen Unfug, der aufgrund einer damaligen USA-NATO-Forderung erfolgte, hat sich die überwältigende Mehrheit der deutschen Bevölkerung erhoben hinter der bravourösen Führung einer hervorragenden unvergesslichen europäischen Friedensaktivistin, Petra Kelly. Die CDU-SPD-Clique blieb aber weiter im NATO-Dogma befangen, in einem dogmatischen Glauben, das die CDU-SPD-Partei vor rationalen Überlegungen und sachlicher Debatte über die destruktive NATO-Ideologie verschließt. Das gilt sogar noch heute. Der dogmatische Glaube schaltet jeden Verstand aus. Natürlich ist es einfacher und bequemer, an ein Dogma zu glauben als rational zu denken, wobei der eigene Verstand herausgefordert ist.
 
In diesem Aspekt kontrastiert der Alt-Bundespräsident Gustav Heinemann: Ein Jahr nach seiner Ernennung (1949) zum CDU-Bundesinnenminister war er 1950 zurückgetreten, weil er sich dezidiert und mit großem Format gegen die Wiederbewaffnung unter Bundeskanzler Konrad Adenauer stellte. In der "Notgemeinschaft für den Frieden Europas" sammelte Heinemann Gegner der Remilitarisierung um sich, die aus seiner Sicht eine Gefahr für die Wiedervereinigung darstellte. Er trat aus der CDU aus und gründete die "Gesamtdeutsche Volkspartei", die sich jedoch 1957 wieder auflöste. Heinemann trat daraufhin der SPD bei, für die er dann auch im Bundestag saß.
 
1969 wurde Gustav Heinemann zum dritten Bundespräsidenten gewählt. Als eines seiner wichtigsten Anliegen bezeichnete er die Überwindung der Untertänigkeit und die Erziehung der Deutschen zu mündigen Menschen mit bürgerlichem Handeln und Verhalten, die sich aktiv für die freiheitliche Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit und soziale Gerechtigkeit einsetzen sollten.
 
Für Richard von Weizsäcker blieben die großen Linien der Außenpolitik ein wichtiges Anliegen. Die Aggressivität Israels ließ ihn nicht gleichgültig. Das völkerrechtswidrige Verhalten Israels lehnte der Alt-Bundespräsident entschieden ab. Er hat sogar öffentlich von der EU, zusammen mit Helmut Schmidt und anderen europäischen Persönlichkeiten, wie Romano Prodi, entschiedene Maßnahmen gegen Israels völkerrechtswidrige Politik gefordert. (Meldung vom 13.12.10)
 
Auch gute Beziehungen zu Russland waren ihm wichtig. Gewiss erkannte der Alt-Bundespräsident mit großer Sorge, wie irrational es ist, dass sich West-Europa mit Russland verfeindet. Von Weizsäcker war einer, der sich nicht mit Autorität aufpumpen musste: Er hatte sie. Sein letztes Interview mit der SZ im September 2013 hatte aber keinen Kommentar bewirkt, was die Unbildung der Redaktion, ihre fehlende Aufklärung und ihre Befangenheit bloßstellte. Das Vermächtnis Richard von Weizsäckers muss erst noch Redaktionen und Journalisten prägen, den nüchternen Verstand zu bewahren und nicht immer wieder in Irrationalität zu verfallen. Dieses letzte SZ-Interview mit Richard von Weizsäcker, das im September 2013 stattfand, wurde damals von der Süddeutschen Zeitung auch nicht publiziert. Eine offensichtliche Kurzfassung erfolgte erst nach seinem Tod in der SZ, und zwar nur diese Passagen:
 
"    Die Deutschen haben auf hartem Weg, in zwei europäischen Kriegen, gelernt, dass hegemoniales Denken diesem Kontinent nicht gut tut. Dringend benötigt wird ein gemeinsames Europa. So wenig wie Deutschland seine Geschichte umdeuten kann, so wenig wird es eine Zukunft allein für sich definieren können. Auf die Anspielung von Stefan Kornelius, "eine Teilung zwischen Norden und Süden und die Deutschen spielen plötzlich eine Führungsrolle" antwortete von Weizsäcker: "Die Teilung zwischen Norden und Süden in Europa hat mir nie eingeleuchtet. Ich will nicht sagen: noch weniger als die Teilung zwischen Ost und West, denn die ging ja sozusagen mitten durch unsere eigenen Eingeweide hindurch ... gerade durch die Art und Weise, wie wir die Teilung Europas und Deutschlands überwunden haben, Prägendes für ein wachsendes Europa gelernt haben. Mit dieser Erfahrung sollten wir besser beitragen können zur Bekämpfung der aktuellen Spaltungen. Nun haben wir uns ... in eine Position gebracht, die für ganz Europa von entscheidender Bedeutung sein wird. ... Wir sind ringsherum von Völkern umgeben, die gute Gründe haben, uns nicht nahezustehen nach allem, was sie mit uns und durch uns erlebt haben, in der Kriegs- und Nazizeit."
 
Stefan Kornelius verstand diesen wichtigen Standpunkt offenbar nicht und beharrte auf der Frage, ob Deutschland einen Führungsanspruch in Europa habe.
 
Von Weizsäcker: "Das sehe ich nicht. Es gibt keinen weitgehenden politischen Führungsanspruch, und erst recht nicht in Verbindung mit wirtschaftlichen Leistungen. Fast im Gegenteil.... Es wird nicht schnell und nicht zu weit gehen. Wir sind nach der Vereinigung, nach der Überwindung der Teilung in keiner Weise scharf darauf, nun eine Art von Führungsrolle zu übernehmen. Umgekehrt aber gilt: Wir können denjenigen Teilen der EU, die auf Hilfe angewiesen sind, diese Hilfe auch anbieten, indem wir sie stützen und indem wir unserer eigenen Bevölkerung klarmachen, wie viel wir diesen Ländern zumuten. ... das heißt nicht, dass wir eine Führungsrolle in diesem Europa anstreben und dafür besonders geeignet wären."
 
Kornelius: "Aber die Wahrnehmung gerade in den Krisenländern zeugt ja von dieser Furcht vor einem zu dominanten Deutschland. Es leben die Klischees."
 
Von Weizsäcker: "Das ist unvermeidlich. Wer mal in Griechenland war, wer mal die Friedhöfe besucht hat, der kann doch verstehen, dass die Griechen sich zunächst daran erinnern, wie schrecklich es war, als die Deutschen im Krieg als Soldaten und politische Besatzer im Land waren.... Ohne solche Sorgen geht es ja auch nicht vorwärts. Und es wird vorwärts gehen. Die Sorgen werden helfen."
 
Man fragt sich, was Stefan Kornelius dazu veranlasst haben könnte, das Interview mit dem Alt-Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker nicht rechtzeitig zu veröffentlichen, sondern erst nach seinem Tod und dann noch nicht einmal in voller Länge, sondern nur in wenigen ausgesuchten Passagen. (PK) 

Korrigendum und Ergänzung:

Entgegen der Behauptung in meinem Artikel war das letzte Interview von Alt-Bundespräsident Richard von Weizsäcker in der Süddeutschen Zeitung (SZ) publiziert worden, und zwar am 11.9.2013 und in voller Länge, ein Interview, das mir erst jetzt mittelbar zur Kenntnis gelangt. 
Der Alt-Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat darin für eine europäische Sicherheitsordnung für den Frieden plädiert. Dieser weise Gedanke vom Alt-Bundespräsidenten in Bezug auf die Außenpolitik Deutschlands konnte aber in seiner Wichtigkeit und Tragweite nicht begriffen werden:

<Es bleibt die Aufgabe, an eine europäische gemeinsame Politik zu denken, an den Ostteil Europas – das ist eine uns Deutschen wirklich zufallende Aufgabe, die auch gelöst werden kann. Wann etwa schaffen wir die Instrumente, die unsere europäische Hauptaufgabe erzwingt: die gemeinsame Außenpolitik, die gemeinsame Sicherheit?>

Dieser präzise Hinweis des Alt-Bundespräsidenten
verdiente keinen Kommentar von der SZ-Redaktion. Die SZ reduzierte das Interview auf ein paar Absätze, die am 1.2.15 nach seinem Tod veröffentlicht wurden. Darin wurde seine wesentliche Mahnung zur Friedens- und Sicherheitsordnung Europas unterschlagen. Warum? Angesichts der gegenwärtigen höchst gefährlichen Situation Europas und einer aktuellen Würdigung des Alt-Bundespräsidenten, der bis zum Schluss für die Außenpolitik engagiert blieb, wäre es angemessen gewesen, nach seinem Tod das Interview in voller Länge erneut bekanntgegeben zu haben. (PK)




Online-Flyer Nr. 498  vom 18.02.2015

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