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Aktueller Online-Flyer vom 16. April 2024  

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Kultur und Wissen
Auch im "Volk der Dichter und Denker":
Die Barbaren sind unter uns
Von Johano Strasser

Vor siebzig Jahren wurden die wenigen Überlebenden von Auschwitz von den vorrückenden russischen Truppen befreit. Der 27. Januar ist seitdem ins Gedächtnis der Welt eingebrannt als der Tag, da die Nazi-Verbrechen in ihrer ganzen Ungeheuerlichkeit zu Tage traten. Seitdem hat die Welt, haben auch die Deutschen selbst nicht aufgehört, die Frage zu stellen, wie es möglich war, dass ein zivilisiertes Volk, das sich selbst gern als „Volk der Dichter und Denker“ betitelte, in eine solch unvorstellbare Barbarei absinken konnte.
 

Soziologe Norbert Elias
Quelle: wikipedia
Norbert Elias hat in seinem einflussreichen Werk „Über den Prozess der Zivilisation“ die Herausbildung des modernen zivilisierten Individuums als eine Konsequenz sozialstruktureller Veränderungen beschrieben. In dem Maße, in dem die Interdependenz-ketten, in die die Menschen eingebunden sind, mit der Zeit enger werden, so Elias, werden die Menschen selbst zu größerer Affektkontrolle und Selbstdisziplin gezwungen. Immer seltener können sie es sich leisten, ihrem ersten emotionalen Impuls zu folgen, immer häufiger sehen sie sich gezwungen, über mögliche Handlungsfolgen nachzudenken, bevor sie handeln. Auf diese Weise werden gesellschaftliche Normen, werden Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnisse als Formen der Selbstbeherrschung im Über-Ich verankert. Aus ‚Wilden’ werden ‚zivilisierte’ Menschen.
 
So weit die Theorie. Dass sie für die Entwicklung Europas vom Mittelalter bis in die Moderne eine gewisse Plausibilität hat, wird kaum jemand bestreiten, auch wenn der eine oder andere vielleicht einwenden wird, dass die Europäer des Mittelalters keineswegs unzivilisierte Wilde waren, ein Einwand, der weniger Elias als meine verkürzte Darstellung trifft. Aber ist dieser Prozess der Zivilisation wirklich auch ein Fortschrittsprozess, an dessen Ende die Menschen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit umgänglicher, friedlicher und weniger gewalttätig, kurz: im normativen Sinn zivilisierter sind? Ist ein solcher Prozess der Zivilisation tatsächlich eine halbwegs zuverlässige Versicherung gegen Unmenschlichkeit und Barbarei?
 
Die Unterscheidung von Zivilisation und Barbarei haben wir von den antiken Griechen übernommen. Wenn die gebildeten und zivilisierten griechischen Polisbürger des sechsten und fünften vorchristlichen Jahrhunderts um sich blickten, nahmen sie überall nur Barbaren wahr. Das war übrigens im Europa des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts nicht anders. Das Wort barbarikós oder barbarós bedeutet im Altgriechischen so viel wie fremdsprachig, unverständlich, ausländisch, aber eben auch roh, ungebildet, wild und grausam. Für die alten Griechen waren alle, die nicht ihre Sprache sprachen, auch im pejorativen Sinn Barbaren. Vor allem die Perser, deren Großreich sich östlich des griechischen Siedlungsraums bedrohlich ausdehnte. Die Perser waren zwar objektiv betrachtet nicht nur mächtiger, reicher und gebildeter, sondern auch im Sinne der Eliasschen Theorie zivilisierter als die Griechen. Aber das hielt diese nicht davon ab, auf sie mit Verachtung und Abscheu herabzuschauen.
 

Kyros II. – Statue im Olympiapark von Sydney
Quelle: Wikipedia, Foto: Siamax
Dabei dürfen wir annehmen, dass die Gebildeten unter den Griechen Kenntnis davon hatten, dass Kyros II. bereits 539 v. Chr. in Babylon die erste uns bekannte Menschenrechtserklärung verkündet hatte. „Ich verkünde heute“, ließ der Barbar Kyros in einen Tonzylinder ritzen, der noch heute im British Museum in London bewundert werden kann, „dass jeder Mensch frei ist, jede Religion auszuüben, die er möchte, und dort zu leben, wo er möchte, unter der Bedingung, dass er das Besitztum anderer nicht verletzt. Jeder hat das Recht, den Beruf auszuüben, den er möchte, und sein Geld auszugeben, wie er möchte, unter der Bedingung, dass er dabei kein Unrecht begeht. Ich verkünde, dass jeder Mensch verantwortlich für seine Taten ist und niemals seine Verwandten für seine Vergehen büßen müssen und niemand aus seiner Sippe für das Vergehen eines Verwandten bestraft werden darf. Solange ich mit dem Segen von Mazda herrsche, werde ich nicht zulassen, dass Männer und Frauen als Sklaven gehandelt werden, und ich verpflichte meine Staatsführer, den Handel von Männern und Frauen als Sklaven mit aller Macht zu verhindern. Sklaverei muss auf der ganzen Welt abgeschafft werden!“
 
Das war ein ganzes Jahrhundert vor dem Peloponnesischen Krieg, in dem sich die zivilisierten Griechen viele Jahre lang gegenseitig abschlachteten, und weit über zweitausend Jahre vor den Menschenrechtserklärungen in Nordamerika und in Frankreich. Barbarei war schon immer ein Etikett, das arrogante und gedankenlose Europäer und Nordamerikaner gern den anderen Zivilisationen, den im Süden und im Orient angesiedelten, aufklebten. Auch heute noch blicken wir, wenn von Barbarei die Rede ist, vorzugsweise nach Osten, wo islamistische Fundamentalisten Ehebrecherinnen steinigen und Geiseln die Köpfe abschneiden, wo in Moskau und Peking autoritäre Herrscher die Meinungsfreiheit mit Füßen treten und mit Hilfe einer ihnen willfährigen Justiz Kritiker ins Gefängnis werfen lassen.
 
Was ist ein Barbar?
 
Was ist barbarisch, was ist ein Barbar? Ist es jemand, der seine Affekte nicht in der Gewalt hat und seinen Trieben freien Lauf lässt? Wir nennen die Taten von Selbstmordattentätern, die sich in Israel und im Irak inmitten von friedlichen Menschenansammlungen in die Luft sprengen, barbarisch. Dass solche Taten allen Grundsätzen der Humanität widersprechen, ist offensichtlich. Aber die Täter sind in aller Regel genauso wenig unzivilisierte Wilde wie die kaltblütigen Mörder des NSU oder die bärtigen Kämpfer des Islamischen Staats, die in Syrien und im Irak mit brutaler Gewalt und Terror ihr Kalifat errichten wollen. An Selbstbeherrschung und Disziplin fehlt es ihnen in aller Regel nicht, eher wohl an Empathie und Liebe zum Leben. Auch dem eigenen. Ein Blick in die jüngere deutsche Geschichte genügt, um zu erkennen, dass Menschen in gewisser Weise zivilisiert und barbarisch sein können. Sonst wären die Nazis nicht so erfolgreich darin gewesen, einen Großteil der zivilisierten Deutschen in kalte Bestien zu verwandeln, die friedliche Nachbarvölker überfielen und die Demütigung und Ermordung von Millionen Juden und anderen angeblichen „Untermenschen“ guthießen oder zumindest ohne große Anteilnahme geschehen ließen. Spätestens seit Heinrich Himmlers berüchtigter Posener Rede von 1943 wissen wir, dass es auch eine „zivilisierte“ Barbarei gibt: die gefühllose, als disziplinierte Pflichterfüllung organisierte und gerechtfertigte Ausrottung von Mitmenschen, die zu „unwertem Leben“ erklärt wurden. Und aus der Fülle der historischen Zeugnisse über diese Barbarei wissen wir, dass daran neben notorischen Gewalttätern und Totschlägern auch treusorgende Familienväter, pflichtbewusste Bürokraten und sentimentale Musik- und Tierfreunde mitwirkten.
 
Die Verbrechen, die die Kämpfer des IS im Nahen Osten begangen haben und weiter begehen, sind wie die Mordtaten, die islamistische Terroristen in Madrid, London und vor kurzem Paris begingen, zweifellos im umgangssprachlichen Sinn barbarisch. Das sehen auch die meisten unserer muslimischen Mitbürger so. Und die Ordnungsvorstellungen, die die Anhänger des selbsternannten Kalifen vertreten, ihre Auslegung und Anwendung der Scharia, die Missachtung der Menschenrechte, die brutale Unterdrückung von Frauen und Andersdenkenden, das alles ist nicht nur für christlich sozialisierte Europäer, sondern auch für moderne Muslime unerträglich. Aber gelten in Saudi-Arabien nicht im großen und ganzen dieselben inhumanen Gesetze – und im Iran und im Sudan?
 
Barbarei und Religion
 
„Die Barbarei islamistischer Gewalttäter hat im Kern nichts mit dem Islam zu tun.“ Die große Mehrheit der bei uns lebenden Muslime, die dies immer wieder beteuern, meinen es, da bin ich mir sicher, ehrlich. Aber wie würden sie wohl reagieren, wenn Christen heute behaupteten, die Abschlachtung von Juden und Muslimen während der Kreuzzüge und die Hexen- und Ketzerverbrennungen in der frühen Neuzeit, der noch immer nicht vollständig aus dem Strafgesetzbuch getilgte Paragraph über Gotteslästerung hätten nichts mit dem Christentum zu tun? Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich bin überzeugt, dass die übergroße Mehrheit unserer muslimischen Mitbürger sich wie die übergroße Mehrheit der Juden und Christen in Deutschland glaubwürdig zu Demokratie und Menschenrechten bekennt, dass alle diese Menschen Gewalt ablehnen und Gräueltaten im Namen ihrer Religion verabscheuen. Aber richtig ist auch, dass alle drei abrahamitischen Religionen eine Vergangenheit – und zum Teil eine Gegenwart – militanter Unduldsamkeit haben. Alle drei pochen auf eine ihnen jeweils exklusiv zuteil gewordene Offenbarung, deren Kerngehalt über jeden Zweifel erhaben ist und keiner Begründung bedarf, weshalb das Verständnis füreinander, wenn es um Religion geht, zumeist äußerst begrenzt ist.
 
Das ist, um es vorsichtig zu sagen, nicht gerade eine ideale Grundlage für ein friedliches Miteinander. Die Achtung der Menschenrechte, Demokratie und Meinungsfreiheit, die berühmte Trias von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die soeben in Frankreich noch einmal so eindrücklich bestätigt wurde – das alles musste in Europa ja auch gegen den dogmatischen Wahrheitsanspruch der beiden christlichen Kirchen durchgesetzt werden. Auch
Christen mussten erst in einem mühsamen Prozess lernen, dass sie in einem Rechtsstaat, erst recht in einem kulturell und religiös pluralistischen, zuerst und vor allem Bürger und erst in zweiter Linie Christen sind.
 
Christen konnten sich dabei immerhin auf das Jesus-Wort berufen: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ Dies scheint im Islam nicht ganz so einfach zu sein. Mohammed war ja nicht nur Prophet und Religionsstifter, sondern, vor allem in der Spätphase seines Wirkens von 622 bis 632 in Medina, auch Staatsmann und Führer einer irdischen Gemeinde. Die Botschaft des Koran wird von Muslimen bis heute zumeist auch als verpflichtender Corpus innerweltlicher Gesetzgebung angesehen. Nach verbreiteter Interpretation ist im Koran ein für allemal festgelegt, wie Muslime in dieser Welt zu leben haben. Kein Wunder, dass unter diesen Bedingungen, jedenfalls bisher, so gut wie kein mehrheitlich muslimischer Staat existiert, in dem es Meinungs- und Religionsfreiheit und freie Wahlen gibt, Frauen den Männern rechtlich
gleichgestellt sind und die Menschenrechte geachtet werden.
 

Blogger Raif Badawi
Quelle PEN International, Foto: Ensaf Haidar
Wo staatliche Autoritäten sich in der Pflicht sehen – man könnte auch sagen: sich anmaßen –, das offenbarte Wort Gottes unmittelbar und wortwörtlich zum Gesetz zu erheben, ist Demokratie, ist die Achtung der Menschen-rechte kaum möglich. Das beweist die lange und blutige Geschichte christlicher Theokratien, das zeigt ganz aktuell das Beispiel Saudi-Arabiens. In diesem Staat, dessen Vertreter sich soeben noch heuchlerisch mit den ermordeten Redakteuren von „Charlie Hebdo“ solidarisch erklärten, ist der Blogger Raif Badawi, weil er in seinem Blog die Trennung von Staat und Religion befürwortete, zu zehn Jahren Haft und zu tausend Peitschenhieben verurteilt worden: 50 Peitschenhiebe pro Woche, damit die unmenschliche Quälerei möglichst lange dauert.
 
Der Islam und seine Geschichte
 
Aber auch dies ist richtig: Ein Prozess der Entdogmatisierung, Historisierung, Subjektivierung und Sublimierung der Religion hat im Islam bereits im 12. und 13. Jahrhundert, teilweise noch früher, eingesetzt, in mystischen Strömungen in Persien zum Beispiel und in aufklärerischen in Andalusien. Aus dieser Quelle kamen wichtige Impulse für den Humanismus der europäischen Renaissance, die bis in die Epoche der Aufklärung weiterwirkten. Leider ist dieser Prozess dann aber fast überall stecken geblieben und schließlich rückgängig gemacht worden, zumeist unter Berufung auf jenen Teil des Koran, der vom Wirken des Staatsmanns Mohammed, von Glaubenskriegen, von gewaltsamer Bekehrung und von gottwohlgefälligen Massakern an Ungläubigen handelt. Es ist also nicht erst die sehr viel spätere kolonialistische Demütigung und Unterdrückung durch die Europäer, die die Modernisierung des Islam behinderte. Wohl aber tragen die Europäer und die Amerikaner eine Mitschuld daran, dass sich antiwestliche Haltungen in den muslimischen Ländern verfestigt haben. Wie anders wäre die Geschichte des Iran wohl verlaufen, wenn nicht der amerikanische und der britische Geheimdienst – im Auftrag und im Interesse der großen Ölkonzerne – den demokratisch gewählten Premier des Iran, Mossadegh, weggeputscht und durch den despotischen Schah ersetzt hätten? In Saudi-Arabien, im Iran, im Sudan und in einer Reihe südostasiatischer Länder sind seitdem nahezu alle hoffnungsvollen Ansätze zu sozialen und politischen – auch religionspolitischen – Reformen einem von konservativen Geistlichen und vom Staat verordneten Rollback zum Opfer gefallen.
 
Dass in der muslimischen Bevölkerung dieser Länder bis heute antiwestliche Ressentiments verbreitet sind, kann man verstehen. Klug ist eine solche pauschale Ablehnung der europäischen Kultur aber nicht, und als Ausrede für Unterdrückung im eigenen Land, für Gewalt und Terror kann sie erst recht nicht gelten. Es ist selbstschädigend, wenn viele Muslime mit der kapitalistischen Ausbeutung und kolonialistischen Arroganz auch gleich die universell geltenden demokratischen Prinzipien und Menschenrechte als Teufelswerk verwerfen.

Islamwissenschaftlerin und Journalistin Katajun Amirpur
NRhZ-Archiv
 
Zurzeit, so scheint es, kann – gerade unter dem Eindruck der jüngsten Anschläge – insbesondere von den in Europa lebenden Muslimen erhofft und erwartet werden, dass sie das vor langer Zeit im Islam so hoffnungsvoll begonnene Aufklärungswerk mutig fortsetzen, um so den islamistischen Gewalttätern die religiöse oder scheinreligiöse Legitimationsgrundlage zu entziehen. Es kann und es sollte von ihnen erwartet werden. Es gibt muslimische Denker, die sich dieser Aufgabe widmen. Ich nenne nur Bassam Tibi, Lale Akgün, Yasar Nuri Öztürk, Katajun Amirpur und Navid Kermani. Vor wenigen Tagen hat der an der Pädagogischen Hochschule Freiburg lehrende Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi auf die Notwendigkeit einer Historisierung der koranischen Botschaft hingewiesen. „Das Beharren auf dem absoluten und universalen Wahrheitsanspruch des Islam“, schrieb er in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 19. Januar dieses Jahres, „bedeutet Intoleranz und Entmenschlichung der Angehörigen anderer Religionen.“ Es gibt islamische Imame, die der primitiv-islamistischen eine moderne, mit Demokratie und Menschenrechten kompatible Auslegung des Islam entgegensetzen. Aber es sind zu wenige. Viele Imame in Europa lassen sich lieber ihren Moscheeneubau von den reichen Saudis finanzieren, als die Inhumanität des dortigen Regimes zu kritisieren, genauso wie jahrzehntelang viele katholische Priester und Bischöfe mit keinem Wort die despotischen Regime auf der iberischen Halbinsel und in Lateinamerika kritisierten, weil die dortige Unterdrückung im Namen und, wie sie meinten, auch zum Nutzen ihres angeblich alleinseligmachenden Glaubens geschah. Die barbarischen Taten islamistischer Terroristen enthüllen nicht den wahren Geist des Islam, genauso wenig wie Franco, Salazar und Pinochet den wahren Geist des Christentums und gewalttätige jüdische Siedler und zynische Besatzer auf der Westbank den wahren Geist des Judentums repräsentieren. Sie sind auch nicht Werk und Ausdruck einer ungezähmten, ‚wilden’ menschlichen Natur. Sie sind erst recht nicht Manifestationen eines unerklärlichen, ontologisierten radikalen Bösen. Es erklärt nichts und es hilft uns nicht einen Schritt weiter, wenn es darum geht, in Zukunft ähnliche Verbrechen zu verhindern, wenn wir im Westen nun auch noch die Gewalttäter des IS in eine Mal um Mal verlängerte „Achse des Bösen“ eingliedern. Die Barbarei, die uns so erschreckt, steckt als Möglichkeit auch in unserer eigenen ach so zivilisierten westlichen Welt. Sie hat ganz spezifische sie bedingende und auslösende Ursachen: psychologische, gesellschaftliche und politische.
 
Die Barbarei, die aus der Zivilisation kommt
 
Wo immer Staaten zerfallen, in Afrika ebenso wie in Asien und Lateinamerika, erleben wir, dass die Gefahr entfesselter Gewalt wächst. Im vom Bürgerkrieg zerrissenen Kolumbien gab es lange Zeit keine legitime Rechtsordnung und Verwaltung. Staatlich geförderte paramilitärische Milizen in Kolumbien wie auch die Guerilleros des „Sendero Luminoso“ in Peru mordeten ungehemmt, folterten, vergewaltigten, verstümmelten die Leichen ihrer Feinde, verbreiteten, wohin sie kamen, Angst und Schrecken. Ähnliches erleben wir heute in Mexiko, wo ebenfalls von einem funktionierenden Rechtsstaat, von gerechter Verwaltung, von einem die Bürger schützenden und leitenden Gerüst im Lebensalltag schon länger keine Rede sein kann. Im Drogenkrieg sind dort bis heute schätzungsweise 100 000 Menschen ermordet und verstümmelt worden. Das Drogenkartell Los Zetas – wie die Guerrilleros vom „Leuchtenden Pfad“ und die kolumbianischen Paras aus lauter christlich sozialisierten Menschen bestehend – machte mit Enthauptungsvideos von sich reden, lange bevor es den IS gab.
 
Der Mensch ist nicht von Natur aus zivilisiert. Aber er ist auch nicht von Natur aus böse. Er ist, wie Immanuel Kant und seine aufklärerischen Zeitgenossen wussten, gesellig und ungesellig zugleich, egoistisch und altruistisch; das zóon politikón kennt neben seinen egoistischen Antrieben auch originäre empathische Neigungen. Was aus dem Menschen wird, ein individualegoistischer Nutzenkalkulierer, ein Gewalttäter, ein Mörder, ein Barbar oder ein friedliches und anteilnehmendes Mitglied der Gesellschaft, hängt auch ganz wesentlich vom Zustand der Gesellschaft ab, in der er lebt. Zivilisation im normativen Sinn ist nur in einer Rechtsordnung möglich, die sich von dem Gedanken humanitärer Grundrechte für alle, auch für die Anders- und Ungläubigen, leiten lässt. Zivilisation im normativen Sinn lebt vom Vertrauen, einem Vertrauen, das nur in alltäglich gelebter sozialer Praxis wachsen kann.
 
Wenn ich in München oder in Berlin durch die Straßen gehe, habe ich normalerweise keine Angst. Wenn mir Jugendliche in Kapuzenparkas auf dem Bürgersteig entgegen kommen, schaue ich nicht verstohlen, ob einer von ihnen ein Messer in der Hand hat oder einen Baseball-Schläger. Ich vertraue darauf, dass die vielen Menschen um mich herum sich an die gleichen Regeln halten, die auch ich verinnerlicht habe. Welche Religion der andere hat, welcher Partei er angehört, ob er lange Haare oder einen Bart trägt, ist für mich nicht wichtig. Dabei weiß ich, dass in Ausnahmesituationen in unserer so friedlichen und geregelten Gesellschaft urplötzlich Gewalt ausbrechen kann. Aus zivilisierten Menschen können, wie jeder aus den Medien weiß, unter bestimmten Bedingungen wüste Randalierer, Amokläufer und Terroristen werden. Und Folterer.
 
Die Barbarei des Westens
 
Die amerikanische Regierung glaubte, im Irak und in Afghanistan die Demokratie herbeibomben zu können. Aber als die Gewaltherrscher besiegt waren, vergaß man, legitime, leistungsstarke und gerechte Verwaltungsstrukturen aufzubauen. Oder es war den Politikern zu mühevoll. Vielleicht hatten sie auch vergessen, dass, wenn es darum geht zu verhindern, dass ein Land in Barbarei versinkt, eine legitime rechtsstaatliche Ordnung, eine funktionierende, nicht korrupte Bürokratie, eine Verwaltung, die die Angehörigen der verschiedenen Stämme und Glaubensrichtungen, die Sunniten, Schiiten, Aleviten und Christen gleichermaßen anerkennt, allemal wichtiger ist als eine formale Demokratisierung, noch dazu als eine, die in ungehemmter Anwendung des Mehrheitsprinzips die Exklusion und soziale Frustration der Minderheiten betreibt und damit den Boden für Terrorismus bereitet. Die barbarischen Demütigungen und Folterungen im Gefängnis von Abu Ghraib im Jahre 2004 waren die Taten zivilisierter, zu Disziplin und Gesetzestreue erzogener amerikanischer Soldaten. In den Kleinstädten des mittleren Westens, aus denen sie stammten, kannte man sie als freundliche und zuverlässige junge Leute. Aber nun waren sie in einer fremden, bedrohlichen Umgebung, verstanden die Sprache nicht, die die Menschen hier sprachen, kannten nicht die Bräuche, begriffen nicht, nach welchen Regeln diese fremde Gesellschaft funktionierte, sahen sich außer Stande, halbwegs zuverlässig zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. In dieser ohnehin prekären Situation verschoben ihre militärischen und politischen Autoritäten die moralischen Koordinaten, setzten Bestimmungen der Genfer Konvention außer Kraft, erklärten die Folter unter Umständen für rechtens. Der kürzlich
veröffentlichte Bericht des Kongresses über die Folterpraktiken der CIA zeigt das ganze Ausmaß der offiziellen Verrohung, die dem Schock vom 11. September 2001 folgte. Es war, als würden verängstigte und bissige Hunde von der Leine gelassen. Der eigene Präsident, George W. Bush, rief in der berüchtigten West Point Address vom 3. Juni 2002 den Ausnahmezustand aus, in dem, wenn es gegen das Böse geht, alles, auch ein Präventivkrieg, auch gezielte Tötung von Zivilisten, und eben auch Folter erlaubt ist: „If we wait for threats to fully materialize, we will have waited to long.“ – „Wenn wir warten, bis Bedrohungen Wirklichkeit werden, haben wir zu lange gewartet.“ Die Folterer von Abu Ghraib waren biedere Menschen, die in einem Ausnahmezustand taten, was sie sich selbst vorher wohl niemals zugetraut hätten, von dem sie wohl tatsächlich nicht wussten, dass es als Möglichkeit zur Barbarei von Anfang an in ihnen schlummerte. Sie hätten eine sie stützende, ihnen Grenzen aufzeigende, auch den Feind einbeziehende Rechtsordnung gebraucht, um nicht asozial, nicht unmenschlich zu werden. Die aber war von höchster Stelle aufgekündigt worden und mit ihr der Kompass verinnerlichter Normen – wie dies auch der geistliche Führer des Iran, Chomeini, tat, als er mit der Fatwa gegen das Buch „Die satanischen Verse“ zum Mord an dem Schriftsteller Salman Rushdie aufrief.
 
Bloß ein »Rückfall« in die Barbarei?
 
Wenn so etwas wie in Abu Ghraib passiert, sprechen wir zumeist von einem Rückfall in die Barbarei. Wir neigen dazu, die Barbarei in einer Entwicklungsphase anzusiedeln, die für uns zivilisierte Menschen weit hinter uns, in unserer ‚wilden’ Vergangenheit liegt. Aber diese optische Täuschung kommt nur zustande, weil wir die Verletzlichkeit der Grundlagen nicht erkennen, auf denen unsere Zivilisiertheit ruht. Es gibt in der westlichen Kultur neben den großartigen Errungenschaften der Freiheit, der Demokratie und der Menschenrechte auch eine ganz und gar moderne, sogar eine sich als avantgardistisch verstehende Barbarei, ein bewusstes und selbstgewisses Überschreiten aller Grenzen der Moral und der Humanität im Namen eines besonders avancierten Verständnisses vom Menschsein.


Ernst Jünger
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Ernst Jünger hat dies in seinem Kriegstagebuch „In Stahlgewittern“ exemplarisch vorgeführt, als Ästhetisierung der Gewalt und als Weg aus der Langeweile, aus dem Ennui einer angeblich allzu abgesicherten Existenz: „Aufgewachsen in einem Zeitalter der Sicherheit, fühlten wir alle die Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, nach der großen Gefahr. Da hatte uns der Krieg gepackt wie ein Rausch.“ Und zwei Jahre später in dem Essay „Der Kampf als inneres Erlebnis“ heißt es: „Die Ekstase, dieser Zustand des Heiligen, des Dichters und der großen Liebe ist auch dem großen Mut vergönnt. Da reißt Begeisterung die Männlichkeit so über sich hinaus, dass das Blut kochend gegen die Adern springt. Es ist eine Raserei ohne Rücksicht und Grenzen, nur den Gewalten der Natur vergleichbar. Da ist der Mensch wie der brausende Sturm, das tosende Meer und der brüllende Donner. Da ist er verschmolzen in das All, er rast den dunklen Toren des Todes zu wie ein Geschoss dem Ziel.“
 
Vielleicht ist es eine ähnliche Sehnsucht nach der großen Gefahr, die manchen jungen Mann, zuweilen sogar junge Frauen, heute aus dem friedlichen, aber langweiligen Europa in den Dschihad ziehen lässt. Vielleicht geht es einigen von ihnen, ähnlich wie Jünger, vor allem um die Ekstase, um das Abenteuer der Gewalt, das sie auf einen Schlag meilenweit über ihren tristen Alltag zu erheben verspricht. Vielleicht sagt sich gar der eine oder andere, wenn er einer Geisel den Kopf abschlägt, mit Jüngers französischem Schriftstellerkollegen, dem snobistischen Anarchisten Laurent Tailhade: „Qu’importe la victime si le geste est beau“ – „Was kümmert mich das Opfer, wenn die Geste schön ist.“
 
Die Inseln des Rechts – und die Barbarei in uns
 
„Recht ist als Idee universell und unersetzlich, als gelungene Praxis aber insulär und prekär“, schrieb Andreas Zielcke kürzlich im Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“. Heute gibt es für charakterlich ungefestigte Menschen in der virtuellen und in der realen Welt ein großes und offenbar wachsendes Angebot, ihren Frust, ihren aufgestauten Hass, ihre Verachtung von Frauen und Minderheiten, ihre Lust am Quälen und Töten auszuleben. Haben wir es hier, wie Zielcke erwägt, tatsächlich mit einer „Zivilisationskrise“ zu tun, müssen wir uns zu der Einsicht durchringen, dass sich hier etwas Bahn bricht, was unsere hyperindividualistische, den rücksichtslosen Wettbewerb und das Recht des Stärkeren favorisierende kapitalistische Gesellschaft selbst erzeugt? Kann es sein, dass es für den Bestand einer im normativen
Verständnis zivilisierten Gesellschaft, nicht ausreicht, wenn man jungen Leuten als Erfüllung aller ihrer Träume einen Job, einen Ausbildungsplatz, ein neues Handy oder Tablet, wenn man ihnen Karriere und Konsum und ein wenig Spaß am Feierabend und im Urlaub anbietet und sie ansonsten mit ihrem Bedürfnis nach Sinn und Tiefe des Lebens und Erlebens allein lässt?
 
Die Islamismus-Expertin Claudia Dantschke sprach kürzlich in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ von „Pop-Dschihadismus“. Die große Mehrheit der jungen Leute, die sich heute von militanten Salafisten anwerben ließen, seien allerdings keine gelangweilten snobistischen Ästheten. Sie seien frustriert, fühlten sich nicht genügend beachtet, hätten das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein. Sie suchten nach einem Weg, auf spektakuläre Weise mit all den Erwartungen zu brechen, die sie allzu lange zu erfüllen trachteten und an denen sie doch immer wieder scheiterten. Dazu bräuchten sie eine neue Identität und eine neue dazu passende Gemeinschaft, und diese müssten möglichst scharf von ihrer bisherigen Umgebung und Lebensweise abgegrenzt werden.
 
Darum das ostentative Gebaren der Konvertiten: Man lässt sich den Bart nach Art fundamentalistischer Muslime wachsen, betet mehrmals am Tag auf dem nach Mekka ausgerichteten Gebetsteppich (am besten im Wohnzimmer vor den Augen der entgeisterten Eltern), trinkt von einem auf den anderen Tag keinen Tropfen Alkohol, isst kein Schweinefleisch, hört sich im Internet stundenlang religiöse Sprechgesänge, die sogenannten Naschids, an, trägt T-Shirts mit islamistischen Symbolen, trennt sich von den bisherigen
Freunden und umgibt sich nur noch mit Gleichgesinnten. Und wem diese Identitätsmaskerade immer noch nicht genügt, der sucht schließlich die große Bewährung der Männlichkeit im Dschihad.
 
Auch die Barbarei hat in unserer von Medien beherrschten Gesellschaft auffällige Konjunkturen. Vor kurzem waren es noch die gespenstischen Aufmärsche der NPD, Ausländer jagende rechtsradikale Schläger und die kaltschnäuzigen Mörder des NSU, die die Berichterstattung beherrschten. Heute sind es die Kämpfer des IS mit ihren schwarzen Fahnen und den grausigen Enthauptungsvideos und die islamistischen Mörder von Paris. Aber, sagt Claudia Dantschke, was Rechtsradikale und Dschihadisten für verunsicherte und frustrierte junge Leute so anziehend macht, ist mehr oder weniger dasselbe: sie bieten eine klar von der Normalgesellschaft abgegrenzte Identität und ein Klima der Kameradschaft, das Sicherheit und Zugehörigkeit vermittelt.
 
Die Barbaren, das ist die schmerzliche Einsicht, der wir uns kaum verschließen können, sind nicht nur die Anderen, die da draußen, die im Osten, in der islamischen Welt. Die Barbarei steckt als Möglichkeit in unserer eigenen, sich so überaus rational und zivilisiert gebenden Gesellschaft. Auch deshalb darf es nicht als Entwarnung gedeutet werden, wenn – zurecht – darauf hingewiesen wird, dass an den Pegida-Demonstrationen neben rechtsradikalen Hetzern auch viele ganz normale Menschen aus der Mitte unserer Gesellschaft teilnehmen. Wenn wir verhindern wollen, dass für junge Menschen auf einmal Krieg, Gewalt und Heldentod als Ausweg aus einer Lebenskrise oder als faszinierende Alternative zu ihrem wenig inspirierenden Alltag erscheinen, sollten wir auch nach den Gründen fahnden, die in unserem eigenen Zivilisationsmodell liegen. Wir müssen lernen, die Zeichen zu lesen, unsere Aufmerksamkeit auf die Anfänge zu richten und helfend und korrigierend eingreifen, bevor Demütigung und Frustration, bevor die Sehnsucht nach einer nicht alltäglichen Herausforderung von denen ausgenutzt werden, die Hass und Gewalt predigen, weil sie nicht zu lieben wagen. (PK)
 
Johano Strasser (* 1939 in Leeuwarden, Niederlande) ist ein deutscher Politologe, Publizist und Schriftsteller. Ab 1995 war er Generalsekretär des PEN-Zentrums Deutschland und von 2002 bis 2013 dessen Präsident. Seinen Beitrag haben wir mit Dank von der politischen Monatszeitschrift "Blätter für deutsche und internationale Politik" 2/2015 übernommen, bei denen die in diesem Text erwähnte Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur eine der HerausgeberInnen ist. Unter dem Link https://www.blaetter.de/shop/%C2%BBblaetter%C2%AB-ausgabe-22015 finden Sie noch mehr lesenswerte Artikel. 
 


Online-Flyer Nr. 498  vom 18.02.2015

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