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Globales
Israel-Kritiker fallen immer wieder auf zionistische Desinformationen herein
Die Dummen von Zion
Von Knut Mellenthin

Seit vorigem Dienstag, dem 28. Oktober, sorgt vor allem in israelischen und amerikanischen Mainstream-Medien ein Gerücht für Aufregung. Auf vielen mehr oder weniger linken Websites tobt die Begeisterung für den vermeintlichen Affront der Supermacht USA gegen den zionistischen Staat. Ein selbstverständlich anonymer US-official soll Benjamin Netanjahu als "chickenshit" bezeichnet haben soll. Wörtlich: Hühnerkacke. Im übertragenen Sinn: Feigling, Hosenscheißer.

Verbreiter dieses nicht überprüfbaren Gerüchts ist Jeffrey Goldberg - ein zionistischer Journalist, dessen Neigung zum Erfinden von fragwürdigen Geschichten, zum Schüren von Intrigen und zum Befürworten von Aggressionskriegen seit Jahren bekannt ist. In der Zeitschrift Atlantic vom 28. Oktober behauptete Goldberg, der Ärger der US-Regierung über Israels Premierminister und seine Siedlungspolitik sei „rotglühend“. Die amerikanisch-israelischen Beziehungen seien noch nie so schlecht gewesen und würden nach den Kongresswahlen am 4. November voraussichtlich sogar noch schlechter werden. Im nächsten Jahr könne es sogar dazu kommen, dass die Obama-Administration ihre „diplomatische Deckung“ bei den Vereinten Nationen von Israel abzieht. Beispielsweise: Washington könne vielleicht aufhören, die Anerkennung eines Palästinenserstaates durch den UN-Sicherheitsrat mit Hilfe ihres Veto-Rechts zu verhindern. Für eine so drastische Kehrtwendung der in Jahrzehnten eingefahrenen US-Politik gibt es zwar keinerlei Anzeichen, aber einige Zionisten pflegen mit viel Geschrei die Rettungsboote klar zu machen und SOS zu senden, sobald irgendwo ein Wasserhahn tröpfelt. 
 
Goldberg behauptet, das von ihm gezeichnete dramatische Bild ergebe sich aus zahlreichen Gesprächen, die er mit hochrangigen US-amerikanischen und israelischen Funktionären geführt habe. Namen nennt er freilich nicht einen einzigen. Rein technisch gesehen könnte Goldberg sämtliche Aussagen komplett erfunden haben, denn anonyme Gewährsleute haben den unschätzbaren Vorzug, dass sie niemals widersprechen oder gar vor Gericht ziehen werden. Ebenso ist auch vorstellbar, dass der Journalist wirkliche Äußerungen mit eigenen Phantasien angereichert, verschärft und verfälscht haben könnte. Auf jeden Fall besteht kein Anlass, einfach unbesehen irgendetwas zu glauben, was Journalisten unter Berufung auf anonyme „Insider“ behaupten. Die Tendenz vieler mehr oder weniger linker Internet-Schreiber geht jedoch dahin, alles als wahr zu unterstellen und ins Feld zu führen, was ihrer eigenen Wahrnehmung und Interpretation der Wirklichkeit entspricht oder entgegenkommt.
 
Die angebliche Kennzeichnung Netanjahus als „chickenshit“ durch einen „senior Obama administration official“ soll sich hauptsächlich auf die oft wiederholten Kriegsdrohungen des israelischen Premiers gegen den Iran bezogen haben. Diese seien, laut Goldberg, in den Jahren 2010 und 2012 von der US-Regierung sehr ernst genommen worden. Inzwischen gehe man aber in Washington davon aus, dass Netanjahu nur ein Bluffer und „Feigling“ (coward) sei.
 
Goldberg ist offenbar enttäuscht und verbittert, dass der israelische Premier seine Ankündigungen bisher nicht in die Tat umgesetzt hat. Zur Erinnerung und zum Verständnis des Kontextes: Im August 2010 hatte Goldberg einen Artikel für die September-Ausgabe des US-Magazins Atlantic ins Netz gestellt. Dort plädierte er für baldige Militärschläge gegen Iran, da dessen Atomprogramm für Israel »eine Existenzbedrohung« darstelle. Er bediente sich dabei der gleichen Methode wie im aktuellen Fall: Gestützt auf angebliche Gespräche mit 40 „Entscheidungsträgern“ Israels und ebenso vielen der USA - fast alle anonym - sagte Goldberg damals voraus, dass Israel sich in Kürze für einen militärischen Alleingang auch ohne Zustimmung der US-Regierung entscheiden werde. Für Netanjahu ende die „Zeit des Abwartens“ im Dezember 2010. Im kommenden Frühjahr, auf jeden Fall aber bis zum Juli 2011, seien mit über fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit israelische Luftangriffe gegen Iran zu erwarten.
 
Die Dramatik und scheinbare Gewissheit, mit der Goldberg vor über vier Jahren dieses Szenario entwarf, wurde allerdings stark entwertet durch die Tatsache, dass er auch schon in einem am 17. Mai 2009 erschienenen Kommentar der New York Times das nahe Bevorstehen eines israelischen Alleingangs vorausgesagt hatte. Damals allerdings bis zum Jahresende 2009.
 
Hinter Goldbergs vermutlich frei ausgedachten „Prognosen“ steckte eine gleichbleibende Botschaft: Erstens, die israelische Führung sei unter allen Umständen zu einem Angriff entschlossen, weil die „Existenzgefährdung“ durch den Iran ihr gar keine andere Wahl lässt. Zweitens, ein israelischer Alleingang würde ohnehin auf die USA zurückfallen und eine komplizierte Situation schaffen. Drittens, Schlussfolgerung: Die US-Regierung müsse einen israelischen Alleingang verhindern. Entweder, indem sie ihm mit eigenen Militärschlägen gegen Iran zuvorkommt. Oder, indem sie der israelischen Führung eine hundertprozentige Garantie, möglichst mit genauem Datum, gibt, dass sie selbst den Iran angreifen wird.
 
Gut möglich ist, dass Goldberg damit als Agent israelischer Stellen handelte, die sich über die Risiken eines militärischen Alleingangs im Klaren waren und diesen vermeiden wollten, indem sie die USA zum Handeln drängten. Goldberg hätte für eine solche Mission der richtige Mann sein können. Leidenschaftliche Zuneigung zum „jüdischen Staat“ trieb den in New York Geborenen und Aufgewachsenen während seines Studiums dazu, sich freiwillig zum Dienst in den israelischen Streitkräften zu melden. Diesen absolvierte er als Aufseher über gefangene Palästinenser während der ersten Intifada. In die USA zurückgekehrt, war er im Jahr 2002, damals noch als Autor des Magazins The New Yorker, einer der feurigsten Hetzer zum Krieg gegen den Irak. In langen Artikeln phantasierte er über angebliche Verbindungen zwischen Saddam Hussein und Al-Qaida („far closer than previously thought“) sowie über irakische Massenvernichtungswaffen.
 
Zugleich versäumte Goldberg nicht, den Einmarsch in den Irak als kurzen „Sonntagsspaziergang“ schmackhaft zu machen. Im Magazin Slate schrieb er am 3. Oktober 2002: „Die Regierung plant heute, etwas zu starten, was viele zweifellos einen kurzsichtigen und unverzeihlichen Aggressionsakt nennen werden. Ich glaube jedoch, dass man sich in fünf Jahren an den bevorstehenden Einmarsch in den Irak als einen Akt umfassender Moralität erinnern wird.“
 
Jeffrey Goldberg gilt als Freund der Demokraten. Aber er ist viel zu lange im Geschäft, um ihm die treuherzige Pose abzunehmen, dass er dem Präsidenten durch seine „Chickenshit“-Veröffentlichung nicht habe schaden wolle. Genau eine Woche vor den Kongresswahlen vom 4. November war Goldbergs Geschoss eine schwerwiegende Wahlhilfe für die Republikaner. Dieser Effekt war zwangsläufig und voraussehbar. Denn unter den realen Verhältnissen der amerikanischen Gesellschaft ist die Verdächtigung, irgendein Politiker oder gar ein Regierungsmitglied sei nicht absolut loyal gegenüber Israel, „unserem einzigen Verbündeten im Nahen Osten“, pures Gift. Die Gründe dafür mag man unterschiedlich analysieren. Sie sind sehr viel komplizierter als das dumme Geschwätz von der „Macht der Juden“. An der über Jahrzehnte empirisch bewiesenen Tatsache ist jedoch kein vernünftiger Zweifel möglich.
 
Ewiger Hoffnungsträger
 
Trotz der an sich eindeutigen Ausgangssituation vermag Obama selbst heute noch, fast so wie zu Beginn seiner Präsidentschaft im Januar 2009, bei manchen unverdrossenen Optimisten die Illusion zu erzeugen, dass er zu Konflikten mit der israelischen Regierung bereit sei und dass er vielleicht sogar der Mann sein könnte, die „special relationship“ einer Revision zu unterziehen und das Verhältnis zwischen beiden Staaten auf eine rationale Basis zu stellen.
 
Ira Chernus, ein eigentlich als solider Arbeiter bekannter Autor, veröffentlichte im Dezember 2012 auf mehreren Webseiten einen Artikel unter der Überschrift „Are the US and Israel Heading for a Showdown?“ („Steuern die USA und Israel auf eine entscheidende Kraftprobe zu?“). 2013 könne, so mutmaßte er, zum „Jahr der Konfrontation“ zwischen Washington und Jerusalem werden. Dass Obamas Verhalten und selbst seine Worte zu solchen Hoffnungen nicht den geringsten Anlass geben, räumte Chernus freilich selbst ein. Aber "hinter den Kulissen" und "privat" sehe es vielleicht schon ganz anders aus. Von Peter Beinart, dem jüdischen Autor eines Buches über "Die Krise des Zionismus", übernahm Chernus das Gerücht, dass die Obama-Administration insgeheim bereits an einer "neuen Strategie" arbeite. Deren Grundsatz sei, Israel künftig "nicht mehr vor den Folgen seiner Handlungen zu schützen", sondern es "die volle Wucht seiner zunehmenden internationalen Isolation spüren zu lassen". Beinart hatte behauptet, dass amerikanische „administration officials“ ihm dies mitgeteilt hätten, aber - wie bei solchen Andeutungen üblich - keine Namen oder auch nur Tätigkeitsbereiche genannt.
Die Illusionen über einen „Gezeitenwechsel“ (Sea Change) in den amerika-nisch-israelischen Be- ziehungen erhielten neuen Auftrieb, als Obama gleich nach seiner Wiederwahl im Dezember 2012 Chuck Hagel als Verteidigungsminister nominierte. Das könne sich als „die folgenreichste außenpolitische Ernennung“ in Obamas Präsidentenzeit erweisen, kommentierte der jüdische Zionismus-Kritiker Peter Beinart. „Der Kampf um Hagel“ sei „ein Kampf, ob Obama die Rahmenbe-dingungen der Debatte um die Außenpolitik ändern kann“, mutmaßte er am 7. Januar 2013 auf der Internetseite von The Daily Beast.
 
Der Republikaner aus Nebraska war von 1997 bis 2009 Senator gewesen. Er galt als relativ unerschrockener Individualist, der zu Themen wie Irak, Iran und Israel/Palästina gelegentlich Meinungen geäußert hatte, mit denen er innerhalb und außerhalb seiner eigenen Partei Anstoß erregt hatte. Der Ermächtigung des damaligen Präsidenten George W. Bush zum Überfall auf den Irak hatte Hagel zwar am 11. Oktober 2002 ebenso wie 76 andere Senatoren (von insgesamt 100) zugestimmt. Er war aber später, selbst ein mehrfach verwundeter Vietnam-Veteran, als Kritiker dieses Krieges hervorgetreten. Wiederholt hatte er dafür plädiert, Konflikte lieber mit politischen statt mit militärischen Mitteln zu lösen, und vor den Folgen eines Krieges gegen Iran gewarnt. Im Streit um seine Nominierung als Pentagon-Chef warfen seine Gegner ihm besonders den Satz in einem Interview vor, die „jüdische Lobby“ schüchtere „viele Leute“ im Kongress ein.
 
Die Nominierung des Verteidigungsministers durch den Präsidenten bedarf der Zustimmung des Senats, über die dieser nach einer Anhörung entscheidet. Der wochenlange Widerstand der Republikaner gegen Hagels Ernennung wurde von unterschiedlichen Kräften als Zeichen einer Bereitschaft Obamas zum Streit mit der israelischen Regierung und der Pro-Israel-Lobby interpretiert. Übersehen wurde dabei, dass sich weder der AIPAC noch bedeutende jüdische Verbände der USA an der Kampagne gegen Hagel beteiligten. Auch die israelische Regierung wahrte äußerste Zurückhaltung. Träger der teilweise hysterischen Angriffe gegen den Kandidaten waren einschlägig bekannte neokonservative Publizisten und rechte Republikaner. Während der stundenlangen Befragung durch den Außenpolitischen Ausschuss des Senats relativierte Hagel etliche seiner früheren Äußerungen. Unwidersprochen argumentierte er, dass er in seiner Zeit als Senator nicht ein einziges Mal zum Schaden Israels gestimmt habe. Eine sorgfältige Prüfung seiner politischen Gesamtbilanz beweise seine »unzweideutige, totale Unterstützung für Israel«.
 
Tatsächlich erwies sich der Anfangsverdacht gegen Hagel, er könne eine von Israel partiell unabhängige Politik einleiten, als schwere Belastung für den Pentagon-Chef. Er hat das durch erhöhte Leistungen im Dienste der vorgeblichen israelischen Interessen zu kompensieren versucht. Letztlich befindet er sich trotzdem immer noch in einer ähnlich verletzbaren, bequem ausbeutbaren Lage wie Obama, dem rechtszionistische Kreise schon vor Beginn seiner Amtszeit erfolgreich den ungerechten Ruf anhängten, er sei der israelfeindlichste Präsident, den die USA jemals hatten.
 
Gerüchte und Stimmungskampagnen, die von Zeit zu Zeit die Zuverlässigkeit des US-Präsidenten gegenüber Israel in Zweifel ziehen, lassen sich oft auf neokonservative oder andere pro-israelische Kräfte zurückführen. So gab es beispielsweise im Januar 2012 Berichte, Washington habe aus Verärgerung über die israelische Regierung eine für das Frühjahr geplante gemeinsame Militärübung abgesagt. Erst Monate später wurde eindeutig klar, dass es sich lediglich um eine zeitliche Verschiebung handelte und dass diese auf israelischen Wunsch erfolgt war. Ausgangspunkt der Geschichte war die Website DEBKAfile, die ständig Desinformationen verbreitet und israelischen Dienststellen nahestehen soll.
 
Im Mai 2011 inszenierte Netanjahu anlässlich eines USA-Besuchs einen Skandal, indem er fälschlich behauptete, Obama habe Israel zum Rückzug auf die Grenzen vor dem Junikrieg 1967, also zur Freigabe aller seither besetzten Palästinensergebiete, aufgefordert. Daraufhin kam es am 24. Mai 2011 bei Netanjahus Auftritt in einer gemeinsamen Sondersitzung von Abgeordnetenhaus und Senat zu dem wohl unglaublichsten Affront gegen einen US-Präsidenten, den der Kongress je veranstaltet hatte: 29mal - ungefähr alle zwei Minuten - erhoben sich die Parlamentarier während Netanjahus Rede zu langen „standing ovations“. Führende Politiker der Demokraten, darunter ihr Fraktionsführer im Senat, Harry Reid, und ihr Fraktionssprecher im Abgeordnetenhaus, Steny Hoyer, distanzierten sich in scharfer Form von etwas, was Obama definitiv gar nicht gesagt hatte. Einzelne demokratische Abgeordnete warfen dem Präsidenten vor, er habe die Hamas zu noch mehr Terrorangriffen ermutigt.
 
Das Foreign Policy Journal veröffentlichte in seiner Ausgabe vom 28. August 2012 einen Artikel des schon mehrfach durch seinen Reichtum an Phantasie aufgefallenen Franklin Lamb unter dem Titel „US Preparing for a Post-Israel Middle East?“. Der Autor behauptete dort, Kenntnis von einer 82 Seiten starken Studie der US-Geheimdienste zu haben, deren Titel angeblich genau so lautete wie die Headline seines Artikels. Die Verfasser des Papiers seien der Ansicht, dass Israel „gegenwärtig die größte Gefahr für die nationalen Interessen der USA“ darstelle, „weil seine Natur und seine Handlungen normale Beziehungen der USA zu arabischen und muslimischen Staaten und, in zunehmendem Maß, auch zur internationalen Gemeinschaft ganz allgemein verhindern“. Israel könne ebenso wenig gerettet werden wie seinerzeit das südafrikanische Apartheidregime. Außerdem habe die Regierung der Vereinigten Staaten weder die Mittel noch die öffentliche Unterstützung, um Israel weiterhin zu finanzieren. Als Informationsquelle gab Lamb einen selbstverständlich anonymen „Mitarbeiter einer bestimmten Forschungseinheit der CIA“ an. Obwohl dies Geschichte auf den ersten Blick als haarsträubender Blödsinn zu erkennen war, wurde sie ausgerechnet von Kritikern Israels mit großer Begeisterung weiterverbreitet. 
 
Im September 2012 ließen sich vorgeblich seriöse Mainstream-Medien für die Falschmeldung einspannen, Obama habe Netanjahu durch die Ablehnung eines von diesem erbetenen Treffens während der UN-Vollversammlung in New York bewusst brüskiert. In die Welt gesetzt hatte diese Behauptung höchstwahrscheinlich das Büro des israelischen Regierungschefs. Bei seinem Israel-Besuch im März 2013 verwies Obama darauf, dass er mit Netanjahu öfter zusammengetroffen war als mit irgendeinem anderen ausländischen Politiker, nämlich zehn Mal. Das Weiße Haus hatte im September 2012, vor allem wegen der Endphase des Wahlkampfs, lediglich entschieden, den Terminplan des Präsidenten von allen an ihn herangetragenen Wünschen nach Gesprächen am Rande der UN-Vollversammlung freizuhalten.
 
Anfang September 2012 machte im Internet das Gerücht die Runde, die Obama-Administration habe dem Iran durch „verdeckte Kanäle“ über zwei europäische Länder ein Angebot zukommen lassen: Die USA würden Israel im Fall eines militärischen Alleingangs ihre Unterstützung versagen, sofern Teheran im Gegenzug darauf verzichten würde, US-amerikanische Ziele in der Golfregion anzugreifen. Ausgangspunkt der Falschmeldung war in diesem Fall die größte Tageszeitung Israels, Jediot Achronot, die sich auf anonyme „Regierungsquellen“ berief.
 
Ein ebenso aus der Luft gegriffenes, völlig absurdes Gerücht kam Anfang März 2013 von einer obskuren US-amerikanischen Website World Tribune und wurde scheinbar ernsthaft von einigen israelischen Medien aufgegriffen. Es besagte, dass Obama bei seinem bevorstehenden Besuch in Israel von den Gastgebern einen „Zeitplan“ für einen „einseitigen Rückzug von der Westbank“ verlangen werde.
 
Im August, während Israels jüngstem Feldzug gegen das Gaza-Gebiet, veröffentlichte der staatlich finanzierte israelischer Fernsehsender Kanal 1 das angebliche „Protokoll“ eines Telefongesprächs zwischen Obama und Netanjahu, das den Amerikaner als grobschlächtigen, herrischen Ignoranten dastehen ließ. Der verantwortliche Redakteur, Oren Nahari, behauptete, das „Protokoll“ von einem „senior US official“ erhalten zu haben - vermutlich eine bewusst gelegte falsche Spur. Um sich über den Wert dieses zumindest stark und sinnentstellend bearbeiteten „Protokolls“ klar zu werden, hätte eigentlich die Tatsache ausgereicht, dass es dem US-Präsidenten die barsche Forderung nach einer „einseitigen“ Einstellung der israelischen Militäraktionen zuschrieb. Die israelischen Kommentatoren tobten, die amerikanischen Republikaner hatten wieder für ein paar Tage Stoff gegen Obama, und die US-Regierung publizierte die üblichen reflexartigen Dementis, die erst recht den Eindruck hervorrufen, an der Geschichte müsse wohl doch etwas dran gewesen sein.
 
Falschmeldungen als Methode
 
Israelische Dienststellen haben eine langjährige Übung im Verbreiten von Falschmeldungen, die die bedingungslose Solidarität der USA mit Israel in Frage stellen. In der Regel treten die angestrebten Ergebnisse ein: Der jeweilige Hausherr des Weißen Hauses und seine Leute müssen heftig dementieren und sind bestrebt, die Gerüchte durch noch größere Unterwürfigkeit zu widerlegen. Pro-israelische Milliardäre, von deren Spenden die Parteipolitiker und Kongressmitglieder abhängen, bekommen Gelegenheit zu besorgten Anrufen, ob denn noch alles in Ordnung sei.
 
Bei allen Meldungen dieser Art sollte man erstens genau hinschauen, in welchen Medien sie zuerst aufgetaucht sind - sehr oft sind es israelische oder neokonservative - und auf was für Quellen sie sich berufen: Meist sind diese anonym, könnten also frei erfunden oder falsch wiedergegeben worden sein. Und man sollte zweitens bedenken, ob Obama das, was ihm jeweils unterstellt wird, wirklich machen könnte, ohne aufs heftigste mit dem Kongress, einschließlich der meisten Abgeordneten und Senatoren seiner eigenen Partei, zusammenzustoßen. Nach seinem bisherigen Verhalten ist der 44. Präsident der USA ganz und gar nicht der ersehnte „game changer“, der einen solchen Konflikt riskieren würde. Obama ist, gefördert durch die ständigen scharf personalisierten Angriffe der Pro-Israel-Lobby, von der Angst getrieben, gegenüber Israel ein mindestens 150prozentiges Übersoll erfüllen zu müssen und sich um Himmelswillen nicht das Geringste zuschulden kommen zu lassen. 
 
Es ist, das muss man fairerweise sagen, auch nicht zu erkennen, auf welche politischen und gesellschaftlichen Kräfte der Präsident sich bei einer versuchten Auflehnung stützen könnte. Vielen Amerikanern ist das ganze Thema und überhaupt die Außenpolitik ziemlich gleichgültig. Aber unter denen, die sich dafür interessieren, ist eine klare 2-zu-1-Mehrheit der Ansicht, dass Obama noch mehr für Israel tun müsse. Ein selbstbewußteres Auftreten Washingtons gegenüber der israelischen Regierung ist nicht in Sicht. Eine grundsätzliche Überprüfung der „special relationship“ schon gar nicht.
 
Den einfachsten und schwerwiegendsten Grund für Netanjahus stolz und rücksichtslos zur Schau gestellte Selbstsicherheit, er werde aus jedem Konflikt mit dem „mächtigsten Mann der Welt“ als Sieger hervorgehen, beschrieb der Fraktionsführer der Republikaner im US-amerikanischen Abgeordnetenhaus, Eric Cantor, am 10. Juli 2010 während eines jüdischen Gottesdienstes auf Long Island (New York) so: Der derzeitige Kongress sei in politischer Hinsicht einer der am meisten gespaltenen in der jüngeren Geschichte der USA. Republikaner und Demokraten seien über fast jedes Thema unterschiedlicher Meinung. Aber trotz so vieler Differenzen in außen- und innenpolitischen Fragen, sagte Cantor, stehe der ganze Kongress in einem Punkt einig zusammen: die Unterstützung Israels und seiner Lebensinteressen. (Haaretz, 11.7.2010)
 
Der Kongress tanzt
 
Realistisch betrachtet sind es in Wirklichkeit fast niemals hundertprozentig sämtliche Abgeordneten und Senatoren, die bereit sind, Israels „Lebensinteressen“ über alle anderen Gesichtspunkte zu stellen und sie in vielen Fällen auch gegen den Präsidenten der USA durchzusetzen. Aber Mehrheiten von mindestens 75 bis 80 Prozent in beiden Häusern des Kongresses sind der zionistischen Lobby in fast jeder umstrittenen Frage, die auch nur entfernt etwas mit Israel zu tun hat, sicher. Sehr oft erreicht die Pro-Israel-Lobby für ihre Lieblingsprojekte sogar 95 oder 100 Prozent. Das gilt schon seit Jahrzehnten, spätestens seit den 1970er Jahren. An diesen sehr konstanten, zuverlässigen Mehrheiten scheiterte letztlich jeder Versuch des einen oder anderen Präsidenten, die US-amerikanische Nahostpolitik von absoluter Einseitigkeit zu einer auch nur geringfügig ausgewogeneren und mehr vermittelnden Stellung zu verändern. „Evenhanded“ ist eines der schlimmsten Schimpfworte, die die Lobby für Präsidenten und andere Politiker bereit hält, die sie einer Distanz zu ihren eigenen Forderungen verdächtigt.
 
Einige Beispiele: Während der Angriffe gegen das Gaza-Gebiet im Januar 2009 verabschiedete das Abgeordnetenhaus - elf Tage vor Obamas Amtseinführung - eine Resolution, die sich ohne jede Einschränkung mit der Kriegführung Israels solidarisierte, der Hunderte von Zivilisten zum Opfer fielen. 390 Parlamentarier stimmten für die Resolution, nur fünf dagegen; außerdem gab es 37 Enthaltungen.
 
Anfang Juni 2009 wurde ein von mindestens 329 Abgeordneten und 76 Senatoren unterzeichneter Brief an Obama veröffentlicht, in dem der Präsident dringend aufgefordert wurde, auf gar keinen Fall irgendeine Form von Druck auf die israelische Regierung auszuüben. Das ist eine ständige zentrale Forderung der Lobby. Weit mehr noch als kritische Worte zur israelischen Politik fürchtet und bekämpft sie politischen Druck auf Jerusalem schon im Entstehen, das heißt: Sobald auch nur der Gedanke daran diskutiert wird.
Im August 2009, während die US-Regierung mit Israel zäh und ergebnislos über ein Siedlungsmoratorium verhandelte, veröffentlichten 71 der 100 Mitglieder des Senats einen offenen Brief an Obama, in dem sie entgegen der wirklichen Lage vorbehaltlos die Haltung der israelischen Regierung lobten und den US-Präsidenten aufforderten, jetzt die arabischen Staaten zu „Gegenleistungen“ zu drängen.
 
Im November 2009 beschloss das Abgeordnetenhaus eine Resolution, die in scharfer Form den im Auftrag der UNO erstellten Goldstone-Bericht über den Gaza-Krieg verurteilte. 344 Abgeordnete stimmten dafür, 36 dagegen, 52 enthielten sich. 33 der Gegenstimmen und 44 der Enthaltungen kamen von demokratischen Abgeordneten.
 
Nach dem blutigen israelischen Angriff auf ein türkisches Hilfsschiff für das abgeriegelte Gaza-Gebiet am 31. Mai 2010 überboten sich Abgeordnete und Senatoren beider Parteien mit enthusiastischen Solidaritätserklärungen für das „zur Selbstverteidigung gezwungene“ Israel und mit abenteuerlichen Vorschlägen. Beispielsweise verlangte eine Reihe namhafter Parlamentarier, alle Teilnehmer der Hilfsflotte auf eine schwarze Liste zu setzen und ihnen die Einreise in die USA zu verweigern. Andere forderten den Ausschluss der Türkei aus der NATO. Aus einem Gewirr abstruser Profilisierungsversuche kristallisierten sich schließlich zwei offene Briefe heraus: der eine von 87 Senatoren unterschrieben, der andere von mindestens 315 Abgeordneten. Im Brief der Senatoren wurde unter anderem gefordert, die türkische Hilfsorganisation IHH als „Terrororganisation“ zu ächten und „unfaire“ Resolutionen des UN-Sicherheitsrats grundsätzlich durch das amerikanische Veto zu verhindern.
 
Im März 2010 unterzeichneten 327 der insgesamt 435 Abgeordneten einen offenen Brief an die damalige Außenministerin Hillary Clinton. Ihre Forderung: Einstellung der öffentlichen Kritik an der israelischen Regierungspolitik. Das Bestehen von Meinungsverschiedenheiten zwischen beiden Staaten sei nicht zu leugnen, schrieben die Parlamentarier, aber „unserer Ansicht nach lassen sich solche Differenzen am besten im Stillen, mit gegenseitigem Vertrauen und Zutrauen lösen“. Die US-Politiker, die die Meinungsverschiedenheiten ihres Landes mit Israel ins Reich der Geheimdiplomatie verbannen wollen, haben aber gleichzeitig keine Scheu, ihren Präsidenten öffentlich anzugreifen und ihm bei jedem Streit mit der israelischen Regierung in den Rücken zu fallen. Die Entscheidung der Abgeordneten, ihren Appell zur Schweigepflicht gegenüber Israel mit einem offenen Brief vorzutragen, veranschaulicht das Absurde der Situation. 
 
Für das Aufzählen der ganz wenigen Ausnahmen, in denen sich die Kongress-Mehrheit bisher noch nicht zum bedingungslosen Fürsprecher israelischer Interessen machte, reichen die Finger einer Hand bequem aus. Genau betrachtet geht es überhaupt nur um zwei Themen: Die Freilassung des 1987 zu lebenslanger Haft verurteilten israelischen Spions Jonathan Pollard und die Anerkennung ganz Jerusalems als Hauptstadt Israels. An beiden Punkten lag und liegt selbstverständlich allen israelischen Regierungen viel. Aber weder sie noch die Pro-Israel-Lobby in den USA haben jemals die Auseinandersetzung um diese beiden Themen zugespitzt: Sie vermeiden nach Möglichkeit politische Schlachten, die das Risiko einer öffentlichen Niederlage beinhalten könnten.
 
Hat der Kongress der USA überhaupt jemals eine Resolution verabschiedet, in der sich auch nur ein einziger kritischer Satz zum Agieren Israels fand? Jedenfalls nicht in den letzten 40 Jahren. Die „special relationship“ mit Israel wird in den USA einer rationalen Diskussion entzogen und gegen eine sachliche Überprüfung abgeschottet. Bereits die Erwähnung, geschweige denn die Erörterung der logischen, vielfach praktisch bewiesenen Tatsache, dass die Interessen beiden Seiten nicht immer identisch sind, sondern sogar im Widerspruch zueinander stehen können, löst in den USA reflexartige Vorwürfe, natürlich immer nur gegen die eigene Regierung, aus. Die Doktrin der Sonderbeziehung verlangt, wie es immer wieder wörtlich heißt, dass in allen wesentlichen Fragen zwischen den Positionen beider Regierungen „no daylight“, kein Tageslicht, erkennbar sein darf. Das bedeutet, dass sie zumindest nach außen hin stets lückenlos übereinstimmen müssen. Ewig wird das nicht so weitergehen. Aber man hüte sich vor allen Gerüchten oder Prophezeiungen, die rasche und radikale Veränderungen verheißen. (PK)
 
 
Knut Mellenthin ist ein deutscher Journalist und Autor. Hauptthema seiner Veröffentlichungen ist die internationale Politik der Gegenwart. In den 1990er Jahren standen der Zerfall des „sozialistischen Lagers“, die Auflösung der Sowjetunion und der jugoslawische Bürgerkrieg im Zentrum seiner Arbeit. Seit dem 11. September beschäftigt er sich vor allem mit der US-amerikanischen Kriegführung und Strategie im Nahen und Mittleren Osten. In mehreren Büchern ist er mit Texten zu diesem Themenkreis vertreten. Knut Mellenthin veröffentlicht regelmäßig in der Berliner Tageszeitung junge Welt.


Online-Flyer Nr. 483  vom 05.11.2014

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