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Arbeit und Soziales
Nur ein ambivalenter Fortschritt:
Gesetzlicher Mindestlohn mit Ausnahmen
Von Thomas Lakies

Das Gesetz zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns (Mindestlohngesetz – MiLoG) ist als Artikel 1 des Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz) mit der Verkündung im Bundesgesetzblatt in Kraft getreten. »Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer« hat Anspruch auf Zahlung eines Arbeitsentgelts mindestens in Höhe des Mindestlohns, der ab Januar 2015 8,50 Euro brutto »je Zeitstunde« beträgt.

Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hat den Mindestlohn mit auf den Weg gebracht, damit der Arbeitnehmer "vor unangemessen niedrigen Löhnen geschützt" werde.
NRhZ-Archiv
 
Regulierung statt Abschaffung des Niedriglohnsektors
 
Abweichend hiervon gibt es Ausnahmeregelungen für einzelne Personengruppen und zeitlich befristete Übergangsregelungen vor allem für Tarifverträge. Zudem wird das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auf alle Branchen ausgedehnt, um die Verankerung allgemeingültiger Branchen-Mindestentgelte oberhalb des Niveaus des gesetzlichen Mindestlohns zu ermöglichen, und die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen, die umfassend alle Arbeitsbedingungen regeln, erleichtert.
 
Der Niedriglohn wird definiert als ein Lohn unterhalb von zwei Dritteln des Medianverdienstes (mittleren Einkommens).[1] Nach Untersuchungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) auf der Basis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) lag die Niedriglohngrenze 2011 bei 9,49 Euro und die Niedriglohnquote bei 24%. Nach den Daten für das Jahr 2012 verdienten 15% der Beschäftigten unter 8,50 Euro, das waren 5,2 Millionen. Diese werden also von dem Mindestlohn profitieren, wobei das hochgerechnet auf das Jahr 2015 deutlich unter fünf Millionen Beschäftigte sein werden. Die Bruttostundenverdienste der Beschäftigten, die weniger verdienen, steigen im Schnitt um 38%.[2]
 

Demonstration für Mindestlohn
Da der gesetzliche Mindestlohn unterhalb der Niedriglohngrenze liegt, wird der Niedriglohnsektor nicht abgeschafft, sondern reguliert: das »Ausfransen« der niedrigsten Löhne nach unten wird begrenzt.[3] Mit 8,50 Euro wird lediglich ein unterstes Niveau definiert. Bei einer 40-Stunden-Woche ergibt sich ein Bruttolohn in Höhe von 1.470 Euro monatlich und (bei einem kirchensteuerpflichtigen Arbeitnehmer mit der Steuerklasse 1) unter Abzug von Steuern und Sozialversicherungs-beiträgen ein Nettobetrag von 1.075 Euro. Unabhängig von Unterhaltspflichten ist nach den gesetzlichen Vorschriften ein Nettolohn bis 1.050 Euro monatlich unpfändbar.[4] Das ist der Mindestbetrag, der jedem Beschäftigten zur Sicherung des Existenzminimums verbleiben muss. Der Mindestlohn liegt bei Vollzeitbeschäftigen minimal darüber. Die Zahl der Menschen, die zusätzlich zum Arbeitseinkommen auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (»Hartz IV«) angewiesen sind, wird durch den Mindestlohn kaum zurückgehen.[5]
 
Zudem wird das Entstehen von Altersarmut durch den Mindestlohn nicht verhindert. Selbst Beschäftigte, die lebenslang für einen Mindestlohn in Höhe von zehn Euro arbeiten würden, erreichten unter heutigen Bedingungen im Rentenalter gerade einmal das Grundsicherungsniveau. Bei einer Absenkung des Rentenniveaus auf 43% wäre dafür eine Mindestlohnhöhe von 11,50 Euro erforderlich.[6]
 
Ausnahmen vom Mindestlohn
 
Das Mindestlohngesetz gilt »für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer«. Ausgenommen vom Mindestlohn sind Personen, die noch nicht 18 Jahre alt sind, ohne abgeschlossene Berufsausbildung,[7] Auszubildende sowie ehrenamtlich Tätige. Für die Arbeitsverhältnisse von Arbeitnehmern, die unmittelbar vor Beginn der Beschäftigung langzeitarbeitslos waren (das heißt ein Jahr und länger arbeitslos), gilt der Mindestlohn in den ersten sechs Monaten der Beschäftigung nicht. Das könnte zu »Drehtüreffekten« führen.[8]
 
Für die »Saisonarbeit« (z.B. im Gast- und Hotelgewerbe, in Touristikbetrieben, in der Landwirtschaft) gibt es keine Ausnahmeregelung im Mindestlohngesetz, sondern es werden lediglich (auf vier Jahre befristet) die Zeitgrenzen für die geringfügige Beschäftigung in Form der kurzfristigen Beschäftigung auf drei (statt zwei) Monate im Jahr ausgeweitet. Das bedeutet: »Saisonarbeiter« können bis zu drei Monate oder 70 Arbeitstage im Jahr sozialversicherungsfrei beschäftigt werden, es sei denn, dass die Beschäftigung berufsmäßig ausgeübt wird und ihr Entgelt 450 Euro im Monat übersteigt. Sie haben aber, wie alle anderen Beschäftigten, einen Anspruch auf den Mindestlohn.
 
Die Koalitionsfraktionen haben für die »Saisonarbeit« angekündigt, durch Rechtsverordnung festzulegen, dass und inwieweit vom Arbeitgeber gewährte »Kost und Logis« auf den gesetzlichen Mindestlohn angerechnet werden können.[9] Da das Gesetz vorrangig ist, wären Regelungen in einer Rechtsverordnung, die im Widerspruch zum Gesetz stehen, unbeachtlich. Nach dem Mindestlohngesetz ist der Mindestlohn jedoch zwingend in Geld (nämlich in Euro) geschuldet. Zudem ist Folgendes zu beachten: Gegen den Willen des Beschäftigten und ohne (tarif-)vertragliche Vereinbarung darf der Arbeitgeber »Sachbezüge« nicht einseitig anrechnen. Zudem darf der Wert der Sachbezüge die Höhe des pfändbaren Teils des Arbeitsentgelts nicht übersteigen.[10] Das bedeutet: der unpfändbare Teil des Arbeitseinkommens ist zwingend in Geld auszuzahlen. Da unabhängig von Unterhaltspflichten ein Nettolohn bis 1.050 Euro monatlich unpfändbar ist, besteht kaum ein Spielraum für die Anrechnung von Sachbezügen auf den Mindestlohn, sofern diese überhaupt zulässig wäre.
 
Sonderregelung für Praktikanten
 
Praktikanten sind nach der Definition des Mindestlohngesetzes – unabhängig von der Bezeichnung des Rechtsverhältnisses – solche Personen, die sich nach der tatsächlichen Ausgestaltung und Durchführung des Vertragsverhältnisses für eine begrenzte Dauer zum Erwerb praktischer Kenntnisse und Erfahrungen einer bestimmten betrieblichen Tätigkeit zur Vorbereitung auf eine berufliche Tätigkeit unterziehen, ohne dass es sich dabei um eine Berufsausbildung oder um eine damit vergleichbare praktische Ausbildung handelt. Praktikanten haben einen Anspruch auf den Mindestlohn, es sei denn, dass sie
 
> ein Praktikum verpflichtend aufgrund einer schulrechtlichen Bestimmung, einer Ausbildungsordnung, einer hochschulrechtlichen Bestimmung oder im Rahmen einer Ausbildung an einer gesetzlich geregelten Berufsakademie leisten,
> ein Praktikum von bis zu drei Monaten zur Orientierung für eine Berufsausbildung oder für die Aufnahme eines Studiums leisten,
> ein Praktikum von bis zu drei Monaten begleitend zu einer Berufs- oder Hochschulausbildung leisten, wenn nicht zuvor ein solches Praktikumsverhältnis mit demselben Ausbildenden bestanden hat oder
> an einer »Einstiegsqualifizierung« oder an einer »Berufsausbildungsvorbereitung« teilnehmen.
 
Vereinfacht gesagt: Praktikanten haben einen Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn, wenn sie begleitend zu einer Hochschulausbildung ein freiwilliges Praktikum ableisten, nur dann, wenn dieses länger als drei Monate dauert. Haben sie eine Hochschul- oder Berufsausbildung bereits absolviert und absolvieren sie danach ein Praktikum, haben sie ab dem ersten Tag einen Anspruch auf den Mindestlohn.
 
Übergangsregelung für Zeitungszusteller
 
Erst im Gesetzgebungsverfahren wurde eine besondere Übergangsregelung für Zeitungszusteller in das Gesetz eingefügt. Die Zustellung sei »notwendige Bedingung für das Funktionieren« der durch das Grundgesetz geschützten freien Presse.[11] Die Annahme, durch einen Mindestlohn werde verfassungswidrig in die Pressefreiheit eingegriffen, geht zwar fehl – die Lobby der Zeitungsverleger hat sich jedoch erfolgreich durchgesetzt.
 
Zeitungszusteller sind nach der Definition des Mindestlohngesetzes Personen, die in einem Arbeitsverhältnis ausschließlich periodische Zeitungen oder Zeitschriften an Endkunden zustellen, dazu gehört auch die Zustellung von »Anzeigenblättern mit redaktionellem Inhalt«. Diese Personen haben ab Januar 2015 einen Anspruch auf 75%, ab Januar 2016 auf 85 % des Mindestlohns von 8,50 Euro. Im Jahr 2015 ist also ein Mindestlohn von 6,38 Euro, im Jahr 2016 von 7,23 Euro zu zahlen. Im Jahr 2017 beträgt der Mindestlohn für Zeitungszusteller 8,50 Euro. Wegen der Definition der »Zeitungszusteller« als Personen, die »ausschließlich periodische Zeitungen oder Zeitschriften an Endkunden zustellen«, werden von der Übergangsregelung allerdings solche Personen nicht erfasst, die zwar Zeitungen oder Zeitschriften, jedoch auch anderes zustellen, z.B. Briefe, Pakete, Werbeprospekte oder Anzeigenblätter ohne redaktionellen Inhalt. Diese haben Anspruch auf den vollen Mindestlohn.
 
Übergangsregelung für Tarifverträge
 
Die Übergangsregelung für Tarifverträge, die nach dem ursprünglichen Gesetzentwurf nur bis Ende 2016 gelten sollte, wurde im Gesetzgebungsverfahren um ein Jahr verlängert. Bis Ende 2017 gehen nach unten abweichende Regelungen in Tarifverträgen »repräsentativer Tarifvertragsparteien« dem Mindestlohn vor, wenn sie für alle unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden Arbeitgeber mit Sitz im In- oder Ausland sowie deren Arbeitnehmer verbindlich gemacht worden sind. Das gilt entsprechend für Rechtsverordnungen für die Pflegebranche und für die Leiharbeit. Im Jahr 2017 müssen abweichende tarifliche Regelungen mindestens ein Entgelt von 8,50 Euro je Zeitstunde vorsehen.
 
Die Tariföffnungsklausel gilt für bereits abgeschlossene wie für noch abzuschließende Tarifverträge. Es handelt sich um eine gesetzliche Öffnungsklausel für Tarifverträge, die ausdrücklich eine Abweichung nach unten erlaubt. Im Hinblick darauf, dass der gesetzliche Mindestlohn ein Mindestniveau der Existenzsicherung definiert, kann man von einer Ermächtigung zu »Lohndumping durch Tarifverträge« sprechen. Vor dem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass die Gewerkschaften die gesetzlichen Ausnahmen vom Mindestlohn mit der Kampagne »Würde kennt keine Ausnahmen« bekämpft haben – offenbar gilt das nicht für Tarifverträge, die man selbst abschließt.
 
Ganz überwiegend bewegen sich die Branchen-Mindestlöhne nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz allerdings oberhalb von 8,50 Euro. Abweichungen nach unten sind nach dem gegenwärtigen Stand in der Leiharbeit, im Friseurhandwerk, für Wäschereidienstleistungen, für die Fleischverarbeitung und die Gebäudereinigung geregelt. Die Tabelle 1 gibt einen Überblick über die derzeit geltenden Branchen-Mindestlöhne und deren Entwicklung.

 
Künftige Änderungen des Mindestlohns
 
Die Höhe des Mindestlohns kann auf Vorschlag einer ständigen »Kommission der Tarifpartner« (Mindestlohnkommission) durch Rechtsverordnung der Bundesregierung geändert werden. Die Mindestlohnkommission hat über eine »Anpassung« der Höhe des Mindestlohns erstmals bis Mitte 2016 mit Wirkung ab Januar 2017 zu beschließen, danach alle zwei Jahre. Der zweijährige Turnus wurde erst im Gesetzgebungsverfahren eingeführt, ursprünglich war eine jährliche Anpassung vorgesehen. Das Gesetz sieht u.a. vor, dass sich die Mindestlohnkommission »nachlaufend an der Tarifentwicklung« orientieren soll, allerdings – so die Gesetzesbegründung – könne die Kommission auch beschließen, »die Höhe des Mindestlohns nicht zu verändern«.[12] Geht man von der Forderung der Bundesbank nach einer jährlichen Lohnerhöhung von drei Prozent aus, müsste der Mindestlohn 2017 auf 9,02 Euro steigen.
 
Mit der Mindestlohnkommission soll auf den »Sachverstand der tariflichen Akteure« zurückgegriffen werden. Das ist verfehlt. Es geht beim staatlichen Mindestlohn nicht – wie bei der Allgemeinverbindlicherklärung (§ 5 TVG) oder einer Rechtsverordnung nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz – um eine Ausdehnung von Tarifverträgen auf Außenseiter, sondern um einen durch das Sozialstaatsprinzip legitimierten staatlichen Rechtssetzungsakt, nicht um Tarifautonomie. Bei einer Staatsintervention gibt es keine »Tarifpartner«. Die »politische Last« der Anpassung des Mindestlohns an die allgemeine Lohnentwicklung muss die Politik selbst tragen und verantworten. Die »Tarifpartner« haben überdies mit einer staatlichen Intervention schon deshalb wenig zu tun, weil das partielle Versagen der Tarifautonomie zur Ausweitung des Niedriglohnsektors geführt hat, die gerade Anlass für die Einführung des staatlich festgesetzten Mindestlohns ist.
 
Die Beschlüsse der Mindestlohnkommission bedürfen zu ihrer Umsetzung einer Rechtsverordnung der Bundesregierung. Die Bundesregierung kann nach dem Gesetz die von der Mindestlohnkommission vorgeschlagene Anpassung des Mindestlohns durch Rechtsverordnung verbindlich machen. Eine »Umsetzungspflicht« ist damit nicht verbunden. Wenn die Bundesregierung die Rechtsverordnung erlässt, darf der Beschluss der Kommission nur unverändert übernommen werden. Es bestehe kein Recht zur inhaltlichen Abweichung.[13]
 
Tarifliche Branchenmindestlöhne nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz
 
Bereits nach bisherigem Recht ermöglicht das Arbeitnehmer-Entsendegesetz für einzelne Branchen die Setzung von Mindestarbeitsbedingungen durch die staatlich angeordnete Norm­erstreckung von Tarifverträgen. Diese ist möglich durch eine »normale« Allgemeinverbindlicherklärung nach dem Tarifvertragsgesetz oder (ohne Zustimmung des Tarifausschusses) durch Rechtsverordnung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Der Anwendungsbereich war bisher begrenzt auf die im Gesetz ausdrücklich genannten Branchen, wird aber nunmehr auf alle Branchen erweitert.
 
Damit wird ein zweites branchenbezogenes System der Mindestsicherung von Arbeitsbedingungen (die über reine Mindestlohnregelungen hinausgehen) ermöglicht und durch die Anknüpfung an Tarifverträge ein Instrument zur staatlichen Stützung der Tarifautonomie zur Verfügung gestellt. Eine Besonderheit gilt für die Pflegebranche. Wegen der Vielzahl kirchlicher oder kirchennaher Unternehmen beruht die Festsetzung des Mindestlohns hier nicht auf einem Tarifvertrag, sondern auf dem Vorschlag einer besonders eingerichteten Kommission.
 
Allgemeinverbindlicherklärung als Instrument zur Stärkung »normaler« Tarifverträge
 
Eine staatliche Stützung der Tarifautonomie erfolgt ebenfalls durch die Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen nach § 5 des Tarifvertragsgesetzes. Für die Allgemeinverbindlicherklärung gab es nach dem bisherigen Recht mehrere Hürden. Erforderlich ist zum einen das »Einvernehmen« mit dem Tarifausschuss, der sich zusammensetzt aus Gewerkschaftsvertretern und Vertretern der Unternehmerverbände. Problem ist, dass kraft Gesetzes die »Spitzenorganisationen« die Vertreter in den Tarifausschuss entsenden, nicht also die tatsächlichen Branchen-Tarifvertragsparteien. Da die Zustimmung des Tarifausschusses zwingende Voraussetzung für die Allgemeinverbindlicherklärung ist, haben die BDA-Vertreter faktisch ein Vetorecht. Vor allem die 50%-Klausel stellte ein Hindernis für die Allgemeinverbindlicherklärung dar. Voraussetzung war nämlich, dass die tarifgebundenen Unternehmen mindestens 50% »der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer beschäftigen«. Wegen der zurückgehenden Tarifbindung ist denn auch faktisch die Zahl allgemeinverbindlicher Tarifverträge seit Jahren rückläufig.
 
Die 50%-Klausel wird nunmehr abgeschafft. Eine Allgemeinverbindlicherklärung ist (allerdings nach wie vor nur im Einvernehmen mit dem Tarifausschuss und – neu – nur auf gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien) möglich, wenn diese »im öffentlichen Interesse geboten erscheint«, nämlich wenn der Tarifvertrag in seinem Geltungsbereich für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen »überwiegende Bedeutung erlangt hat« oder die Absicherung der Wirksamkeit der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklung eine Allgemeinverbindlicherklärung verlangt. Gesondert geregelt ist die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen über gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien. Die­se können zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der gemeinsamen Einrichtung erweitert werden. Ob es in der Praxis tatsächlich zu einer Zunahme von Allgemeinverbindlicherklärungen kommen wird, muss sich erweisen. Selbst Anfang der 1990er Jahre waren nur 5,4 % aller Branchentarifverträge allgemeinverbindlich.[14]
 
Lohnpolitische Bedeutung des Niedriglohnsektors wird überschätzt
 
Mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns beginnt ein neues Zeitalter der Lohnregulierung durch partielle Staatsintervention. Es mag sein, dass 8,50 Euro zu niedrig sind, auch ist die Festschreibung dieses Niveaus für zwei Jahre problematisch. Doch: dass es überhaupt einer staatlichen Lohnregulierung bedarf, folgt aus der fehlenden tariflichen Durchsetzungskraft der Gewerkschaften im Niedriglohnsektor. Gleichwohl war in Deutschland die politische Lohnregulierung jahrzehntelang ein Tabu. Auch die Gewerkschaften waren überwiegend noch vor zehn Jahren gegen einen gesetzlichen Mindestlohn. Erst der DGB-Bundeskongress 2006 hat als einheitliche gewerkschaftliche Position einen gesetzlichen Mindestlohn damals in Höhe von 7,50 Euro gefordert.
 
Ob sich die Erwartung, durch den Mindestlohn werde das allgemeine Lohnniveau nach unten stabilisiert und Spielräume für höhere Tarifabschlüsse eröffnet,[15] erfüllt, kann heute niemand seriös prognostizieren. Entgegen der Fixierung der politischen Diskussion auf den Niedriglohnsektor liegt dort allerdings nicht das zentrale lohn- und verteilungspolitische Problem. Volkswirtschaftlich und für die Kaufkraftentwicklung ist die Bedeutung des Niedriglohnsektors gering. Durch den Mindestlohn wird die Gesamtbruttolohnsumme gerade einmal um drei Prozent steigen.[16] Drei Viertel der Beschäftigten arbeiten für Löhne oberhalb des Niedriglohns. Der Anteil der Beschäftigten mit Stundenlöhnen unterhalb der Niedriglohnschwelle hat sich zwar seit 1996 von 19% auf 24% im Jahr 2008 erhöht, seitdem gab es jedoch keine weitere Erhöhung.[17] In Ostdeutschland sinkt sogar der Anteil, allerdings auf hohem Niveau (von 39% im Jahr 1996, 41% im Jahr 2007 auf 36,6% im Jahr 2012).[18] Ökonomisch und für die Gewerkschaftspolitik von größerer Bedeutung ist die generell schwache Lohnentwicklung. Die »Effektivlöhne« sind in Deutschland in den letzten Jahren nicht gestiegen, sondern im Vergleich des Jahres 2013 zum Jahr 2000 real um 0,7% gesunken. Zwar steigen die Löhne seit 2010 preisbereinigt wieder, doch konnten die erheblichen Verluste, die in den 2000er Jahren zu verzeichnen waren, noch nicht ausgeglichen werden.[19] Die Konzentration der lohnpolitischen Debatte auf Verteilungsfragen am unteren Ende der Lohnskala trägt die Gefahr in sich, die Lohnpolitik mehr und mehr auf Sozialpolitik zu reduzieren.[20] Demgegenüber zeigt sich, dass die Verteilungsspielräume, insbesondere in Sektoren mit hohen Löhnen, in den letzten Jahren nicht ausgeschöpft wurden. Die Lohnpolitik der Industriegewerkschaften muss offensiver werden.[21]
 
Ein »Sog nach unten« durch den gesetzlichen Mindestlohn ist indes nicht auszuschließen. Jedenfalls wurde die politische, auch die gewerkschaftspolitische Diskussion um den Mindestlohn rhetorisch aufgeladen nach dem Motto »Würde kennt keine Ausnahmen« geführt, was sich perspektivisch als kontraproduktiv erweisen könnte. Abgesehen davon, dass der Mindestlohn schlicht einen Mindestpreis für die Ware Arbeitskraft festsetzt und nicht den »Wert« der »Arbeit« definiert – wer meint, durch 8,50 Euro werde die »Würde der Arbeit« wieder»hergestellt«, könnte alsbald vor dem Problem stehen, dass er damit für den Arbeitsmarkt insgesamt eine Art Lohnleitlinie definiert (und durch Tarifverträge für einzelne Branchen sogar noch nach unten »korrigiert«). Löhne darüber könnten dann als zu »hochwertig« denunziert werden, weil ja die »Würde der Arbeit« bereits mit 8,50 Euro abgegolten sei. (PK)
 
[1] Der Median ist der mittlere Lohn, bei dem die Hälfte aller Beschäftigten mehr und die andere Hälfte weniger verdient. Er ist zu unterscheiden vom Durchschnittsverdienst, der durch das arithmetische Mittel aller Löhne berechnet wird.
[2] Karl Brenke, DIW-Wochenbericht 5/2014.
[3] Vgl. Matthias Knuth/Petra Kaps: Arbeitsmarkreformen und »Beschäftigungswunder« in Deutschland, WSI-Mitteilungen 2014, S. 173-181, hier S. 179.
[4] Bekanntmachung zu § 850c ZPO (Pfändungsfreigrenzenbekanntmachung 2013) vom 26.3.2013 (Bundesgesetzblatt I S. 710). Je nach Unterhaltspflichten erhöht sich das unpfändbare Arbeitseinkommen.
[5] Vgl. Kerstin Bruckmeier/Jürgen Wiemers: Die meisten Aufstocker bleiben trotz Mindestlohn bedürftig, IAB-Kurzbericht 7/2014. Das »Aufstocker-Phänomen« ist allerdings nicht durch die »Hartz«-Reformen entstanden, sondern Erwerbstätige mit Anspruch auf Transferleistungen gab es auch schon vorher; vgl. Helmut Rudolph: Aufstocker – Folge der Arbeitsmarkreformen?, WSI-Mitteilungen 2014, S. 207-217.
[6] Vgl. Johannes Steffen: Reformvorschläge für die Rente, Januar 2013, www.portal-sozialpolitik.de.
[7] Kritisch Marc Amlinger/Reinhard Bispinck/Thorsten Schulten: Jugend ohne Mindestlohn?, WSI-Report 14/2014.
[8] Vgl. Marc Amlinger/Reinhard Bispinck/Thorsten Schulten: Kein Mindestlohn für Langzeitarbeitslose?, WSI-Report 15/2014.
[9] Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales, Bundestag-Drucksache 18/2010 (neu), S. 16.
[10] Das ergibt sich aus § 107 Abs. 2 Satz 5 der Gewerbeordnung (GewO).
[11] So die Gesetzesbegründung, Bundestag-Drucks. 18/2010 (neu), S. 25.
[12] Bundestags-Drucksache 18/1558, S. 37.
[13] So die Gesetzesbegründung Bundestags-Drucksache 18/1558, S. 39.
[14] Vgl. Thorsten Schulten/Reinhard Bispinck: Stabileres Tarifvertragssystem durch Stärkung der Allgemeinverbindlicherklärung?, Wirtschaftsdienst 2013, S. 758-764, hier S. 760.
[15] Insoweit ist vom »Hebebühneneffekt« die Rede: Für die Unternehmen sei es zur Erhaltung eines »Markenimages« erforderlich, zumindest etwas mehr als den Mindestlohn zu zahlen, und wegen des Bestrebens, Lohnabstände aufrechtzuerhalten, werde der gesamte untere Lohnbereich vom Mindestlohn profitieren; vgl. Matthias Knuth/Petra Kaps: Arbeitsmarkreformen und »Beschäftigungswunder« in Deutschland, WSI-Mitteilungen 2014, S. 173-181, hier S. 179.
[16] Karl Brenke/Kai-Uwe Müller: DIW-Wochenbericht 39/2013, S. 9f.
[17] Die Niedriglohnbeschäftigung nahm vor allem zwischen 1998 und 2003 rapide zu, also vor den »Hartz«-Reformen und der Einführung der Grundsicherung (SGB II); vgl. Helmut Rudolph: Aufstocker – Folge der Arbeitsmarkreformen?, WSI-Mitteilungen 2014, S. 207-217, hier S. 212f.
[18] Vgl. Matthias Knuth: Rosige Zeiten am Arbeitsmarkt? – Strukturreformen und »Beschäftigungswunder«, Expertise im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung, Juli 2014, zur Entwicklung der Arbeitsentgelte, S. 58ff.
[19] Heiner Dribbusch/Peter Birke: Die DGB-Gewerkschaften seit der Krise – Entwicklungen, Herausforderungen, Strategien. Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, April 2014, S. 8f.
[20] Karl Brenke/Kai-Uwe Müller: DIW-Wochenbericht 39/2013, S. 17.
[21] Vgl. Karl Brenke: DIW-Wochenbericht 33/2014; teilweise kritisch hierzu, u.a. weil die »komplette Ausschöpfung der sektoralen Produktivität in einer fortschreitenden Spaltung der Lohnentwicklung münden würde«. Richard Detje, Sozialismus 9/2014, S. 42-44.
 
Autor Thomas Lakies ist Richter am Arbeitsgericht in Berlin.
 
Quelle: http://www.sozialismus.de/heft_nr_10_oktober_2014/
Wir danken Franz Kersjes von der www.weltderarbeit.de dafür, dass er uns diesen Beitrag zugemailt hat.
 


Online-Flyer Nr. 481  vom 22.10.2014

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