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Inland
Die Weltkrieg I-Kredite und die zwiespältige Rolle der Sozialdemokratie
Stahl und Moral
Von Michael Scheffer

Dienstag, der 4. August 1914, war ein lauer Sommertag. Er begann mit der Invasion deutscher Truppen in Belgien und endete mit der Kriegserklärung des Vereinigten Königreichs an das Deutsche Reich. Tagsüber kam der Reichstag in Berlin zu einer historischen Sitzung zusammen, die der amtierende Kanzler Theobald von Bethmann-Hollweg mit den Worten kommentierte: "Der 4. August 1914 wird bis in alle Ewigkeit herein einer der größten Tage Deutschlands sein." Es sollte einer der schwärzesten Tage in der oftmals dunklen deutschen Geschichte werden.
 

Wilhelm II., 1888 bis 1918
letzter deutscher Kaiser und
König von Preußen
Quelle: wikipedia
Per nächtlichem Telegramm nach Berlin beordert, sollten die Parlamentarier sich dem Unabwendbaren fügen und den dringend benötigten Kriegskrediten ihre Zustimmung erteilen. Kaiser Wilhelm, wie immer um markige Worte nicht verlegen, wandte sich direkt an die Abgeordneten und Vertreter der politischen Parteien: "In schicksalsschwere Stunde habe ich die gewählten Vertreter des deutschen Volkes um mich versammelt. [...] Auf Sie, geehrte Herren, blickt heute, um seine Fürsten und Führer geschart, das ganze deutsche Volk. Fassen Sie Ihre Entschlüsse einmütig und schnell - das ist mein inniger Wunsch." Abschließend forderte seine Majestät die Anwesenden auf, mit ihm "durch dick und dünn, durch Not und Tod zu gehen". Er kenne keine Parteien mehr, er kenne nur noch Deutsche. (1)
 
Die sich anschließende Abstimmung im Deutschen Reichstag zum "Gesetz, betreffend die Feststellung eines Nachtrags zum Reichshaushaltsetat für das Rechnungsjahr 1914" sowie weiteren 16 Kriegsgesetzen verlief einstimmig. Dieses Ergebnis wirft somit insbesondere auf die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ein unrühmliches Licht, die seit Januar 2012 die größte Fraktion stellte. Die Abgeordneten folgten damit einer Fraktionssitzung vom Vortage, die nicht nur die Zustimmung zu den Krediten, sondern auch mehrheitlich den Fraktionszwang beschlossen hatte. Dem beugte sich auch der Parteivorsitzende und bekennende Kriegsgegner Hugo Haase, der drei Jahre später zu den Gründern der USPD gehören sollte und 1919 ermordet wurde. Wiederum einen Tag zuvor hatten sich bereits die deutschen Gewerkschaften auf einer Vorstandskonferenz in Berlin bereit erklärt, im Kriegsfall auf Streiks und Lohnforderungen zu verzichten und die Reichsregierung bei der bevorstehenden Mobilmachung zu unterstützen. (2) Das war insofern tragisch, als dass beide im Zuge der Julikrise nicht müde wurden, massiv gegen Imperialismus, Wettrüsten, Säbelrasseln und sonstige Kriegstreiberei auf die Straße zu gehen und die Einigkeit der internationalen Arbeiterschaft zu betonen. Bislang hatte die SPD noch in jeder Haushaltsdebatte das Militärbudget rundheraus abgelehnt. Der 1913 verstorbene Gründungsvorsitzende August Bebel wird mit den Worten zitiert: "Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!" (3) 
 
Die Hinwendung zur sogenannten "Burgfriedenspolitik" exemplifiziert ein Artikel in der sozialdemokratischen Zeitschrift "Vorwärts" vom 31. Juli: „Wenn die verhängnisvolle Stunde schlägt, werden die vaterlandslosen Gesellen ihre Pflicht erfüllen und sich darin von den Patrioten in keiner Weise übertreffen lassen.“ (4) Am selben Tag wurde in Paris einer der bedeutendsten Apologeten der internationalen Friedensbewegung, der Sozialistenführer Jean Jaurès ermordet. Zwei Wochen zuvor hatte er sich in der "L'Humanité" - dem französischen Pendant zum "Vorwärts" - wie folgt geäußert: "Es gibt keinen Widerspruch, sich mit aller Kraft für den Frieden einzusetzen und sich mit allen Mitteln für die Unabhängigkeit und die Einheit der Nation einzusetzen, wenn der Krieg trotz unserer Bemühungen ausbricht." (5) Die sozialistische Internationale am Scheideweg...
 
Der vorübergehende Hurra-Patriotismus ergriff nicht nur das postrevolutionäre Frankreich oder das vorrevolutionäre Russland. Das Vorspiel zum großen Sterben war geprägt von einer heillosen Abfolge von Ultimaten und Drohgebärden, von hektischer Diplomatie innerhalb komplexer wie chaotischer Entscheidungsstrukturen (Der australische Historiker Christopher Clark bemüht in seinem Bestseller "Die Schlafwandler" das treffende Bild vom Bienenstock). Generationen von Geschichtswissenschaftlern und Militärhistorikern sind bis heute mit Ursachenforschung befasst; die Schuldfrage kapriziert dabei wesentlich auf den Letzten der Hohenzollern und den greisen Habsburger, in schicksalhafter Nibelungentreue einander verbunden. Der Bellizismus der Staatenlenker elitär geprägter, chauvinistischer Gesellschaften sowie die entfesselte Dynamik der Scharfmacher und Militärs, also derer von Hindenburg, Ludendorff, Falkenhayn, Moltke oder Tirpitz, die an Deeskalation naturgemäß keinerlei Interesse hegten, ließen in Europa die Lichter ausgehen.
 
Der Krieg sollte 27 Monarchien vom Thron fegen, darunter das deutsche Kaiserreich, die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie und das zaristische Regime. Geschätzte 17 Millionen Menschen fanden den Tod. Niemand war im August 1914 in der Lage, die epochalen Folgen auch nur abzuschätzen, geschweige denn, der unheilvollen Maschinerie Einhalt zu gebieten. Dennoch muss sich die deutsche Sozialdemokratie auch hundert Jahre später die Frage gefallen lassen, warum sie sich mit dem scheinbar Unvermeidlichen gemein gemacht hat. Entgegen weit verbreiteter Mythen- und Legendenbildung, stimmte auch der Abgeordnete des Wahlkreises Potsdam-Spandau-Osthavelland, Dr. Karl Liebknecht, einer der brillantesten Analytiker des militärisch-industriellen Komplexes am 4. August nicht gegen die Bewilligung der fünf Milliarden Reichsmark schweren Kredite.
 
Nachdem das große Schlachten aber einmal losgebrochen war, besann er sich rasch auf seine Überzeugungen und Einsichten und votierte am 2. Dezember 1914 als einziger von fast 400 Abgeordneten gegen die zweite Tranche nötig gewordener Kriegsanleihen: "Der Krieg ist kein deutscher Verteidigungskrieg. Sein geschichtlicher Charakter und bisheriger Verlauf verbieten, einer kapitalistischen Regierung zu vertrauen, dass der Zweck, für den sie die Kräfte fordert, die Verteidigung des Vaterlandes ist." (6) Bereits in seiner berühmt gewordenen Rede vom 11. Mai 1914 beklagte er vor dem Reichstag die aggressiver werdende deutsche "Weltpolitik". Seiner Einschätzung nach werde "die auswärtige Politik unserer jetzigen Epoche schon längst nicht mehr in den Auswärtigen Ämtern gemacht, sondern in den Fabrik- und Bankkontoren und daß ihre Mittel weit weniger diplomatische Noten als andere Noten sind." (7) Nur wenige mochten Liebknecht folgen. Bei der dritten Kreditbewilligung am 20. März 1915 oblag es ihm und seinem Genossen Otto Rühle mit Nein zu stimmen; immerhin 30 SPD-Abgeordnete entzogen sich der Abstimmung durch demonstrative Abwesenheit. Sich der Phalanx der Kriegsbefürworter beharrlich zu verweigern, sollte Karl Liebknecht nicht gut bekommen. In der Folge wurde er zum Kriegsdienst eingezogen, bald aus der SPD-Fraktion ausgeschlossen und wegen der Teilnahme an einer Antikriegsdemonstration am 1. Mai 1916 schließlich verhaftet und zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach seiner Amnestierung im Oktober 1918 blieb er bis zu seinem baldigen gewalttätigen Tod ein umtriebiger Revolutionär. Er beteiligte sich an den Aufständen und Revolten in Berlin, rief eine Freie Sozialistische Republik Deutschland aus, mitbegründete die KPD und beschwor bis zuletzt die sozialistische Weltrevolution.
 
"Noske, Ebert, Scheidemann - kaisertreu und Biedermann. Rot, vom Blute der Genossen, die anno 18 sie erschossen!" So lautete in den zwanziger Jahren ein bitterliches Spottlied, nachdem die Geschichte ironischerweise ausgerechnet die Sozialdemokraten als die Gewinner des verlorenen Weltkriegs gebar, die die erste gesamtdeutsche Republik begründen, gestalten, prägen sollten. Es ist hier nicht der Platz über dieses schmerzliche Kapitel der deutschen Sozialdemokratie zu lamentieren, die Geburtswehen der deutschen Demokratie, in welchen bereits ihr Todeskampf angelegt war. Die Zeitläufte sind geschrieben.
 
Zählt man ihre Quellparteien und Vorgängerorganisationen hinzu, blickt die SPD auf eine 150-jährige Geschichte zurück. Sie hat Großes und Großartiges bewirkt, sie brachte historisch bedeutsame Denker und Lenker hervor. Die Partei von August Bebel und Wilhelm Liebknecht, von Otto Wels und Kurt Schuhmacher, von Willy Brandt und Oskar Lafontaine ist eine stolze Partei mit ruhmreicher Tradition. Und dennoch ist beim Lichte der Schatten oft nicht fern. Es ist der "guten alten Tante" zu wünschen, dass sie nicht zu selten kritisch mit sich selbst ins Gericht geht. So wie sie sich ihrer historischen Verdienste sicher sein kann, so möge sie sich ihrer Anfälligkeit, Verführbarkeit und Fehlerhaftigkeit gewahr sein und gleichsam in Demut üben. Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, als es galt dem Anspruch und Charakter einer Volkspartei gerecht zu werden, hat die SPD es nicht vermieden, im Schnitt jede Dekade einen neuerlichen Sündenfall hinzulegen. Von der Notstandsgesetzgebung und dem Radikalenerlass nebst Berufsverboten, über die Zustimmung zum Asylkompromiss und Großen Lauschangriff, hin zu deutschen Kriegs- und Kampfeinsätzen, zu Hartz IV und Agenda2010. Nichts von alledem ist auch nur im Ansatz mit der Katastrophe, die vor hundert Jahren entbrannte, vergleichbar.
 
Und dennoch: Der Parforceritt durch die jüngere Geschichte endet konsequenterweise dort, wo die beschriebenen Ereignisse ihren Anfang nahmen: Als die Linksfraktion am 3. Juli 2014 im Deutschen Bundestag einen Antrag einbrachte (Drucksache 18/1950), die Ablehnung der Kriegskredite durch den Sozialdemokraten Karl Liebknecht durch die Anbringung einer Gedenktafel am Reichstagsgebäude zu würdigen, lehnte die Mehrheit des Bundestages rundweg ab. SPD inklusive. Die teils emotional geführte Debatte ist in der "jungen Welt" vom 5.7. in Auszügen dokumentiert. (8) Da schließt sich der Kreis. Was bleibt ist der Blick in die nähere Zukunft. Es kommt eine Zeit, in welcher der Linkspartei Fleischtöpfe offeriert, und Kröten zu schlucken gegeben werden. Es wird die SPD sein, die "Einsicht in die Notwendigkeit" abverlangen wird, die Überwindung von "starren Ideologien und Dogmatismus", die Abkehr von "weltfremdem Idealismus, revolutionärem Pathos oder unverantwortlichem Gutmenschentum". Es ist der Linken zu raten, dem zu widerstehen und nicht für eine wie auch immer geartete Regierungsbeteiligung, ihre rote Seele zu verkaufen. Sonst - das gemahnt die Geschichte - wird man vielleicht in hundert Jahren empört mit dem Finger auf sie zeigen und die bitterböse Frage stellen: Wer hat uns verraten...? (PK)
 
(1) http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003402_00012.html
(2) Protokoll der Vorständekonferenz vom 2. August 1914 aus: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert – Die Gewerkschaften in Weltkrieg und Revolution 1914 – 1919, bearbeitet von Klaus Schönhoven, Köln 1985
(3) http://www.fes.de/archiv/adsd_neu/inhalt/stichwort/bebel.htm
(4) Vorwärts am 31. Juli 1914; zitiert nach Susanne Miller: Die SPD vor und nach Godesberg, in: Susanne Miller/Heinrich Potthoff: Kleine Geschichte der SPD, Darstellung und Dokumentation 1848–1983. 5. überarbeitete Auflage, Verlag Neue Gesellschaft GmbH, Bonn 1983
(5) L'Humanité vom 18. Juli 1914, zitiert nach Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014, S. 111.
(6) http://www.marxists.org/deutsch/archiv/liebknechtk/1914/12/reichstag.htm
(7) aus "Eine Jahrhundertrede" von Reiner Zilkenat, junge Welt, 10/11. Mai 2014, Seite 10-11
(8) http://www.jungewelt.de/2014/07-05/020.php?sstr=Bundestag|gedenktafel

Michael Scheffer (45) ist seit Jahren in diversen Funktionen und Gremien der LINKEN in Köln aktiv (Vorstand Innenstadt, Sprecher Arbeitskreis Soziales) sowie in verschiedenen unabhängigen Initiativen (Recht auf Stadt, Blockupy, Linke Erwerbslosenorganisation).
 


Online-Flyer Nr. 470  vom 06.08.2014

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