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Arbeit und Soziales
Zum Begriff „Kapitalismus“ - ein Diskussionsbeitrag
Die Ungleichheit hat wieder zugenommen
Von Markus Roller

Kürzlich hatte ich mit Bekannten eine Diskussion um die Frage: War das Kapitalismus, was wir im Westdeutschland der 1970er Jahre hatten? War das der eigentliche, wahre Kapitalismus, sozusagen der Kapitalismus, wie er leibt und lebt? Oder deutet der Begriff des Rheinischen Kapitalismus (mit der Bundeshauptstadt Bonn am Rhein) an, dass der Begriff „Kapitalismus” allein die damaligen Zustände nicht richtig beschreibt, sondern eben durch einen Zusatz ergänzt und von „Kapitalismus” (ohne Zusatz) unterschieden werden muss?


Karl Marx
NRhZ-Archiv 
 
Im dtv-Brockhaus von 1988 liest man unter dem Stichwort Kapitalismus (K.): „So gibt es heute einen K. reiner Prägung nicht mehr. In der Bundesrep. Dtl. spricht man von einer sozialen Marktwirtschaft.“ In der Schule hatte ich gelernt, im Kapitalismus gäbe es Privateigentum an Produktionsmitteln, im Kommunismus nicht. In der Tat, so einfach könnte man es sich machen. In der DDR gab es Volkseigene Betriebe, in der BRD gab es Privateigentum an Produktionsmitteln und das gibt es auch heute. Also war das Kapitalismus in der BRD und ist es auch heute.
 
Im Westdeutschland der 1970er Jahre gab es aber nicht nur Privateigentum. Die Jüngeren können es sich vielleicht nicht mehr vorstellen und manche Ältere haben es vielleicht vergessen, aber im Rheinischen Kapitalismus gab es jede Menge an „Volkseigentum”, verwaltet von staatlichen Behörden: z.B. Eisenbahn, Postbeförderung, Telekommunikation. Gaswerke, Verkehrsbetriebe und Müllabfuhr waren in kommunaler Hand. Private Versicherungen konnten mit der Altersvorsorge von Arbeitnehmern nur relativ geringe Umsätze machen, stattdessen ermöglichten die nicht-profitorientierte gesetzliche Rentenversicherung und die staatlichen Pensionskassen ein befriedigendes Überleben im Alter. Der Staat besaß das Monopol der Arbeitsvermittlung; die vorsätzliche unerlaubte (private) Arbeitsvermittlung war als Vergehen unter Strafe gestellt (§ 210 AVAVG). Der Staat verwaltete ein Maß an öffentlichem Besitz und griff in einem Ausmaß regulierend in die Wirtschaft ein, dass der dtv-Brockhaus offenbar 1988 den Kapitalismus überwunden wähnte und auch heute Manche eher von sozialistischen als von kapitalistischen Verhältnissen sprechen mögen.
 
Man kann zweierlei Interpretationen erkennen, entweder: Die BRD der 70er Jahre, das war kein Kapitalismus („reiner Prägung“). Oder: Das Ausmaß an allgemeinem Wohlstand und an relativer Gleichheit in der damaligen Periode beruht auf dem Kapitalismus. Dabei wird der Begriff sehr weit gefasst oder gar zu so etwas wie einem Synonym für die „soziale Marktwirtschaft“. Einerseits scheint in diesem Fall der Begriff des Mehrwert aus der Definition verdrängt. Andererseits gab es aber nun einmal einen gewissen Karl Marx, sein Werk „Das Kapital” und die darin beschriebene „kapitalistische Produktionsweise”, welche den Kapitalismusbegriff dereinst geprägt haben. Dort ist allerdings nicht von sozialer Marktwirtschaft die Rede, eher von Ausbeutung. Die Frage ist also, wie weit man sich bei der Definition von Kapitalismus und bei der Begriffsverwendung von Marx entfernen sollte, auch wenn man die Schlussfolgerungen von Marx nicht teilt und keinen „Kommunismus” anstrebt.
 
Hier möchte ich den Versuch wagen, die wesentlichen einstigen Kriterien des Begriffs in Erinnerung zu rufen und auf einige aktuelle Erscheinungen anzuwenden. Man mag eine Reihe von Bedingungen vorausschicken, die außer den unten genannten Kriterien als unerlässlich für die kapitalistische Produktionsweise angesehen werden können, z.B. Warenzirkulation (Handel), der Gebrauch von Geld als Tauschmittel sowie eine gewisse rechtliche Gleichstellung aller Staatsangehörigen (einschließlich des rechtlichen Verbots der Leibeigenschaft). Diese Bedingungen zielen vor allem darauf ab, die kapitalistische Produktionsweise von historisch vorausgegangenen Perioden abzugrenzen. Ich gehe darauf nicht näher ein. Es ist klar, dass wir hier ausschließlich vom Industriezeitalter nach der Erfindung der Dampfmaschine sprechen und weder frühere Epochen noch die Lebensweisen etwaiger heutiger Naturvölker abgrenzen müssen. Zu ergänzen ist, dass der Begriff der Produktionsweise sinngemäß auch auf die „Produktion“ von Information und andere „Dienstleistungen“ anzuwenden ist. Der nächste Absatz enthält, kursiv gedruckt, eine Definition, die unter den genannten Voraussetzungen möglichst kurz, aber ausreichend und allgemein verständlich sein soll. In den daran anschließenden Absätzen wird noch ein wenig erläutert.
 
Der Begriff des Kapitalismus passt auf eine Gesellschaft, die von der kapitalistischen Produktionsweise geprägt und dominiert ist. Die kapitalistische Produktionsweise ist durch das staatlich geschützte Privateigentum an Produktionsmitteln und die Schaffung von „Mehrwert” (Gewinn) für die Eigentümer durch die Arbeit Anderer gekennzeichnet. Im einfachsten Fall sind mehrere Personen (hier als Mitarbeiter oder Arbeitnehmer bezeichnet), die kein Eigentum an Produktionsmitteln haben, bei einem einzelnen Eigentümer von Produktionsmitteln (hier als Unternehmer bezeichnet) beschäftigt. Aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen folgt, dass der Unternehmer auch Eigentümer der Produkte ist, welche die bei ihm beschäftigten Mitarbeiter produzieren. Die Mitarbeiter haben dabei also kein Eigentum an den Produktionsmitteln und erwerben durch ihre Arbeit auch kein Eigentum an den Produkten. Vielmehr wird die Arbeit des Mitarbeiters vom Unternehmer mit einem Entgelt (Lohn) abgegolten, das geringer ist als der Ertrag nach dem Verkauf der Produkte, d.h. als der Ertrag der Arbeit des Mitarbeiters. Aufgrund dieser, auch gesetzlichen, Gegebenheiten erhält bei der kapitalistischen Produktionsweise der Unternehmer typischerweise einen Gewinn (Mehrwert) aus der Arbeit jedes Einzelnen der bei ihm beschäftigten Mitarbeiter (ohne dass notwendigerweise die Anteile des Gewinns den einzelnen Mitarbeitern zuordenbar sind). Je mehr Mitarbeiter in dem Unternehmen beschäftigt sind, desto größer kann der Gewinn für den Unternehmer sein. Der einzelne Arbeitnehmer erhält dagegen ein Leben lang regelmäßig ein Entgelt für seine Arbeit, das geringer ist als der Ertrag seiner Arbeit; das Entgelt reicht in der Regel gerade zum Leben für den Arbeitnehmer und seine Familie (d.h. zur Reproduktion seiner Arbeitskraft) aus, im günstigen Fall ermöglicht es ihm den Erwerb eines Eigenheims. Das Entgelt reicht aber selten dafür aus, dass die betreffende Person selbst rentable Produktionsmittel erwerben oder seine Nachkommen von der Notwendigkeit zu arbeiten befreien kann.
 
Der Umstand, dass der Ertrag der Arbeit eines typischen Arbeitnehmers höher ist als sein Entgelt, mithin also zu einem Gewinn für den Unternehmer führt, dürfte von niemandem ernsthaft bestritten werden. Es wird vielmehr sogar als Ratschlag für Stellenbewerber darauf hingewiesen, der Bewerber müsse deutlich machen, dass seine Tätigkeit einen Gewinn für den Unternehmer bedeute, nur dann werde er eingestellt. Der Umstand, dass der Unternehmer typischerweise einen Gewinn aus der Tätigkeit jedes einzelnen Mitarbeiters erhält, der Arbeitnehmer aber nur ungefähr soviel, wie er zum Leben braucht, bedeutet eine systematische Tendenz der kapitalistischen Produktionsweise zur Ungleichheit der Vermögen.
 
Der Begriff des Kapitalismus ist sicherlich mehrdeutig. Wenn man aber die Definition verwendet, dass in kapitalistischen Gesellschaften nicht nur - in nicht näher definiertem Umfang - Privateigentum an Produktionsmitteln vorhanden sei, sondern dass kapitalistische Gesellschaften von der kapitalistischen Produktionsweise dominiert werden, dann schafft man Raum für Differenzierungen. Dann schafft man Raum auch für Gesellschaftsentwürfe, Utopien vielleicht, für die keines der Etiketten „Kapitalismus“ und „Kommunismus“ passt, Gesellschaften, welche Privateigentum an Produktionsmitteln zwar zulassen, aber durch unverrückbare Regeln, in der Verfassung vielleicht, eine stetig wachsende Ungleichheit verhindern. Wenn man anerkennt, dass die kapitalistische Produktionsweise über die Schaffung von Mehrwert für die Eigentümer eine Tendenz zu Vermögensungleichheiten beinhaltet, dann erübrigt sich die Frage, wie die „gute“ soziale Marktwirtschaft in einen Raubtier-, Finanzmarkt- oder Kasinokapitalismus „ausarten“ konnte. Stattdessen kann man dann eine politische Notwendigkeit erkennen, der Tendenz der kapitalistischen Produktionsweise zu wirtschaftlichen Ungleichheiten entgegen zu wirken, ohne die Produktionsweise ganz abzuschaffen. In der so genannten sozialen Marktwirtschaft des Westdeutschland der 60er und 70er Jahre schien dies in Ansätzen der Fall. Gleichwohl würde ich zustimmen, die BRD stets als kapitalistisch zu bezeichnen. Wenn auch die Dominanz der kapitalistischen Produktionsweise auf die eine oder andere Weise gehemmt oder verschleiert gewesen sein mag, so konnten die rechtlichen Bestimmungen jener Zeit nicht verhindern, dass nunmehr Ungleichheit wieder zugenommen hat. Und wenn die Ungleichheit ein bestimmtes Maß erreicht hat, wird es zunehmend schwieriger, ihr politisch entgegen zu wirken. Denn der oben beschriebene Fall eines Einzelunternehmers wird in der Realität - durch folgerichtige Weiterentwicklung - ergänzt durch Firmenzusammenschlüsse, Aktiengesellschaften und Finanzkonzerne, in denen die Gewinne aus der Arbeit Anderer immer höhere Werte erreichen.

BMW-Familie Quandt nach einer Riesenspende an die CDU: Stefan Quandt hält 17,4 Prozent am Konzern, Mutter Johanna 16,7 Prozent, Schwester Susanne Klatten, geborene Quandt, 12,6 Prozent.
Quelle: Tagesschau
 
So haben zum Beispiel, wie aus den entsprechenden Geschäftsberichten der BMW Group hervorgeht, die Mitglieder einer einzigen Aktionärsfamilie in den Jahren 2012 und 2013 insgesamt mehrere hundert Millionen Euro pro Jahr als Dividende erhalten (wobei Mitglieder dieser Familie über Anteile an weiteren Unternehmen verfügen). Gemäß dem Geschäftsbericht 2013 hatte die BMW Group 2013 am Jahresende 110.351 Mitarbeiter. Die Dividendensumme belief sich auf 1.707 Millionen Euro (1,7 Milliarden). Diese Dividende konnte nur deshalb an die Aktionäre, d.h. die Eigentümer des Unternehmens gezahlt werden, weil entsprechende Gewinne erarbeitet wurden. Von wem sollen die Gewinne erarbeitet worden sein, wenn nicht von den Mitarbeitern? Die Dividendensumme von 1,7 Milliarden Euro wurde aber nicht als Entgelt an die Mitarbeiter gezahlt, sondern offenbar wurde ein Anteil von jeweils mehr als 10 % der Dividendensumme an wenige einzelne Aktionäre (Anteilseigner) gezahlt, also jeweils deutlich mehr als 100 Millionen Euro pro Jahr für Einzelne der großen Anteilseigner. Das kann man als gerechten „Lohn” aus Kapital und „Verantwortung” ansehen. Außerdem kann man schließen, dass rein rechnerisch im Durchschnitt ein Mitarbeiter 15.469 Euro im Jahr erarbeitet hat, die nicht als Entgelt an ihn, sondern als Dividende, d.h. als Gewinn aus Eigentum, an die Aktionäre gingen. Man kann der Meinung sein, ein Großteil dieses Betrags sei dem Mitarbeiter als Fehlbetrag am Lohn vorenthalten worden. Dabei dürfte trotzdem der durchschnittliche festangestellte Mitarbeiter dieses Unternehmens eine relativ gute Entlohnung erhalten haben, die allemal für ihn und seine Familie zum Überleben ausreicht.

Karikatur: Kostas Koufogiorgos
Karikatur: Kostas Koufogiorgos
www.koufogiorgos.de


 
Gleichzeitig erhalten in demselben Land aber andere Arbeitnehmer millionenfach Arbeitsentgelte, die kaum oder gar nicht zum Leben für sie und ihre Familien ausreichen und daher mit staatlichen Leistungen ergänzt werden müssen oder mehrere Jobs innerhalb einer einzigen Familie notwendig machen. Die Zahl der erwerbsfähigen Hartz IV-Empfänger betrug im Juni dieses Jahres rund 4,4 Millionen; davon war weniger als die Hälfte „arbeitslos“ (rund 1,96 Millionen). Die Höhe dieser Grundsicherung wird auch als soziokulturelles Existenzminimum bezeichnet, kann aber in Form so genannter Sanktionen gegebenenfalls zu 100 % gekürzt werden. Die Einkommensungleichheit ist daher derzeit in Deutschland durch folgende Extreme gekennzeichnet: Annähernd 1.000.000.000 Euro im Jahr für einzelne Kapitaleigner gegenüber maximal rund 10.000 Euro pro Jahr für Millionen von Menschen am Existenzminimum beziehungsweise Null Euro in einzelnen Monaten für manche legal sanktionierte Empfänger staatlicher Grundsicherung. Auf die Not, die in anderen Ländern, auch innerhalb des „gemeinsamen Hauses Europa“, zeitgleich zur Exportstärke Deutschlands auftritt, sei hier nur kurz hingewiesen. Man kann unterschiedlicher Meinung sein. Man kann riesige Gewinne aus Kapitalvermögen als wunderbare Motivation und Triebfeder von Fortschritt und Wohlstand für Viele ansehen, verbunden mit der Hoffnung, dass davon letztlich Alle profitieren. Und man kann den Reichtum der Kapitaleigner, größer als ein einzelner Mensch jemals erarbeiten könnte, auf der einen Seite und einen „vorenthaltenen” Lohn und teilweise sogar Armut auf der anderen Seite als ungerecht und als Vorboten kommender Katastrophen ansehen. Ich kann aber keinen Grund erkennen, weshalb man eine solche Produktionsweise nicht als kapitalistisch und eine solche Gesellschaft nicht als Kapitalismus bezeichnen sollte. (PK)
 
Dr. rer. nat. Markus Roller (geb. 1956) war von 1986 bis 1998 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Medizinischen Institut für Umwelthygiene an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Forschungsschwerpunkt: Regulation gesundheitlicher Risiken an Gefahrstoff-Arbeitsplätzen.
Seit 1999 freiberuflicher Wissenschaftler und intensivierte Beschäftigung mit den Zusammenhängen von wirtschaftlichen Bedingungen und staatlichem Gesundheitsschutz: www.bmr-online.de. Bis 2013: Verschiedene ehrenamtliche Tätigkeiten in Gremien, die dem Gesundheitsschutz dienen; unter anderem für den DGB (2002 bis 2009). Mitglied im Beraterkreis Toxikologie des Ausschusses für Gefahrstoffe.


Online-Flyer Nr. 470  vom 06.08.2014

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