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Aktueller Online-Flyer vom 26. April 2024  

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Kommentar
Ein jüdischer Religionswissenschaftler in den USA analysiert die US-Medien
Israels Strategie und Amerikas Mythologie
Von Ira Chernus

In Gaza fallen Bomben und Menschen sterben. Das macht Schlagzeilen in den Massenmedien Amerikas. Wie üblich, bekommen wir nur die Tagesereignisse serviert, ohne historischen Zusammenhang, der erklären könnte, was wirklich geschieht und warum es geschieht


Quelle: http://hnn.us/blog/153421

Ein wesentlicher Teil der Geschichte, die unsere Massenmedien nicht zur Kenntnis nehmen, ist, dass ein Grundprinzip Israels Außenpolitik immer geleitet hat: Sorge dafür, dass sich deine mutmaßlichen Feinde uneinig sind; lasse nicht zu, dass sie sich vereinen!
Aus diesem Grund hat Israel zur Schaffung (1) der Hamas in den 1980er Jahren beigetragen. Die israelische Regierung fürchtete sich vor der Aussicht, alle Palästinenser könnten sich unter der Fahne der Palästinensischen Befreiungsorganisation vereinen, der Organisation, die von Jassir Arafats Fatah-Partei beherrscht wurde [und wird]. Die Hamas schien ein Gegengewicht zu bilden.
 
Die Versöhnung von Hamas und Fatah in letzter Zeit hat dieses Gespenst erneut aufgeweckt. Die israelische Führung will es um jeden Preis aufhalten, sie will einen Keil zwischen die [bisher] rivalisierenden palästinensischen Parteien treiben, um den unerwünschten Frieden zwischen ihnen zu verhindern. Darum der Angriff auf die Hamas und Gaza.
Der altgediente israelische Politiker und Kommentator Uri Avnery - er ist jetzt schon in seinen 90ern -, sieht das alles (2) ganz deutlich: Nachdem drei israelische Jugendliche im besetzten Westjordanland entführt worden waren, hat „die Netanjahu-Regierung […] in dem Zwischenfall sofort eine günstige Gelegenheit gesehen. Ohne den geringsten Beweis (soweit ich weiß) hat sie die Hamas beschuldigt.“ „Am folgenden Tag“, schreibt er weiter, „unternahmen die Israelis ein[en] Versuch, Hamas im Westjordanland auszurotten“ und verhafteten massenhaft Hamas-Führer.
Avnery geht von Folgendem aus: „Das Hauptziel ist es, Druck auf Mahmoud Abbas auszuüben, seine inter-palästinensische Versöhnung auszusetzen und die neue, nur aus Experten bestehende palästinensische Regierung aufzulösen. Abbas widersetzt sich. Er wird in Palästina schon weitgehend wegen der bestehenden engen Zusammenarbeit zwischen seinen und den israelischen Sicherheitskräften angeprangert, während Israel die Operation fortsetzt.“ (3)
Avnery schrieb das vor dem Beginn der israelischen Bombardierung Gazas, wo die Hamas regiert. Sicherlich wussten er und die Strategen der israelischen Regierung, dass das scharfe Vorgehen gegen die Hamas einige wirkungslose Raketenangriffe durch Splittergruppen in Gaza provozieren würde, die Israel einen Vorwand liefern würden, der Hamas auch für diese Raketen die Schuld zu geben und Gaza zu bombardieren.
Wo jetzt schon so viele Palästinenser gestorben sind, ist der Druck auf Abbas, „hart zu werden“, umso stärker. Ebenso der Druck auf die Hamas, sich zur Wehr zu setzen und also die Politik der Gewaltfreiheit, die für die Bildung der Einheitsregierung aus Fatah und Hamas so grundlegend war, aufzugeben. Je mehr Raketen aus Gaza geflogen kommen, umso schwerer wird es, die Kluft zwischen Fatah und Hamas zu überbrücken. Und umso leichter wird es für Israel, weiterhin fadenscheinige Argumente vorzubringen: Wie könnten wir mit „Terroristen“, die uns vernichten wollen, einen Frieden aushandeln?
Die israelische Regierung muss das vorausberechnet haben, als sie der Hamas für die Entführung die Schuld gab, obwohl sie keinen Beweis zur Unterstützung der Beschuldigung anführen konnte. Jeder, der den Konflikt seit Langem aufmerksam beobachtet, hätte das voraussagen können. Die tödliche Logik der israelischen Strategie ist leicht zu erkennen.
Warum wird also diese Strategie in der Berichterstattung über den gegenwärtigen Konflikt in Israel/Palästina in der US-Presse mit keinem Wort erwähnt? Sind die amerikanischen Korrespondenten in Jerusalem zu ungeschickt, sich die entsprechenden Kenntnisse zu verschaffen? Das ist möglich, aber eher unwahrscheinlich.
Wahrscheinlicher ist, dass ihre Wahrnehmungen und die Wahrnehmungen ihrer Redakteure am Tunnelblick leiden: Sie sehen nur das, was die seit Langem wirksamen Mythen ihnen zu sehen gestatten. Zwei Mythen beherrschen die Geschichte der amerikanischen Wahrnehmung des israelisch-palästinensischen – oder allgemeiner und irreführend: des „israelisch-arabischen“ – Konflikts. 
Seit 1948, als der Staat Israel gegründet wurde und sich sofort in einen Krieg mit den ihm benachbarten Nationen stürzte, zeigen die US-Medien die Neigung, das als „Wie-du-mir-so-ich-Dir“-Kämpfe abzuhandeln. Diese Geschichte ist den Amerikanern seit der Kolonialzeit bekannt: In der Alten Welt gibt es diesen „unerklärlichen“ Drang der Nationen, gegeneinander zu kämpfen. „Unerklärlich“ bedeutet: Wir brauchen nicht einmal den Versuch zu unternehmen, den Zusammenhang zu erkennen oder die Motive der verschiedenen Seiten zu verstehen. Es ist ganz einfach: Sie hassen einander und werden in alle Ewigkeit weiter gegeneinander kämpfen.
In unserem Land ist das eine weitverbreitete Auffassung vom israelisch-palästinensischen Kampf. Sie erscheint immer wieder einmal in einer Schlagzeile nach der anderen und wird auf den Punkt gebracht: „Israel und die Hamas tauschen Bombenangriffe aus“. Basta, als ob nichts weiter dazu gesagt werden müsste.
Im Nachspiel des Sechstagekrieges 1967 rückte in den USA ein zweiter Mythos in den Vordergrund: Israel war das ewige Opfer ständigen Hasses und ständiger Angriffe seiner Nachbarn. Die Sichtweise ist Amerikanern aus endlosen Fernsehstunden geläufig: Cowboys gegen Indianer, Gendarmen gegen Räuber und zahllose andere Varianten des Mythos „der Gute gegen den Bösen“. In diesem Fall war kein Zweifel daran erlaubt, dass Israel der Gute war. Vielleicht sollten wir das den „Israel-kann-nichts-Böses-Tun“-Mythos nennen.
Diese weitverbreitete Auffassung erscheint auch jetzt in unserem Land wieder in den Schlagzeilen, sogar in denen der einflussreichsten Zeitungen. Da heißt er: „Raketen treffen ins israelische Landesinnere, während die Offensive beginnt“. Zwar ist in dem zugehörigen Text (4) von Israels Offensive gegen Gaza die Rede, der oberflächliche Leser jedoch (und sind nicht die meisten Leute oberflächliche Leser?), der nur die Schlagzeilen liest, wird annehmen, dass die Hamas eine Offensive unternommen hätte. „Wie gewöhnlich“, flüstert die mythische Stimme aus dem Unterbewusstsein. Schließlich ist die Hamas ja eine „terroristische Organisation“, oder etwa nicht? Und Israel tut nichts anderes, als sich zu verteidigen, oder etwa doch?
Diese beiden Mythen wirken jetzt zusammen und legen dem amerikanischen Journalismus Scheuklappen an.
Der „Wie-du-mir-so-ich-Dir“-Mythos herrscht vor, wahrscheinlich aus historischen Gründen. Mit der Invasion Israels in den Libanon 1982, als die israelische Armee untätig zusah, wie Hunderte, vielleicht Tausende Palästinenser in den Flüchtlingslagern Sabra und Schatilla abgeschlachtet wurden (5), begannen die amerikanischen Journalisten vom Mythos „Israel-kann-nichts-Böses-Tun“ Abstand zu nehmen. Im Laufe der Jahre haben sie uns immer häufiger mitgeteilt, dass eine gewisse Schuld auch der israelischen Politik zugeschrieben werden müsse.  
Allerdings verstärkt die übliche US-Berichterstattung über die gegenwärtige Situation - sogar in den seltenen Fällen von Kritik an Israel - die mythische Perspektive.
Zum Beispiel erwähnt Isabel Kershner in der New York Times kurz (6) einen Kritikpunkt: „Israelische Fachleute nennen Israels regelmäßig wiederkehrende Einsätze in Gaza gegen begrenzte Ziele, um das Abfeuern der Raketen zu verhindern, ‚Rasenmähen‘. Dabei zerstört Israel die Infrastruktur militanter Gruppen soweit wie möglich und stellt die Abschreckung wieder her. Kritiker sagen, der Gebrauch einer derartigen Terminologie entmenschliche die Palästinenser und zeige die Tendenz, die Opfer an Zivilisten und Kämpfern möglichst gering erscheinen zu lassen.“
Jeder Leser von Kershners Bericht oder Betrachter des Videos der Times (7) über „Rasenmähen“ kommt leicht zu dem Schluss, dass, selbst wenn die Terminologie entmenschlicht, die Praxis vollkommen sinnvoll erscheint, weil der Krieg nur als „Wie-du-mir-so-ich-Dir“ oder „die Guten gegen die Bösen“ verstanden werden kann. In einem solchen Krieg möchte die stärkere Nation natürlich sehr oft den „Rasen mähen“.
Für keine andere Auffassung ist in amerikanischen Massenmedien Platz – und schon gar nicht für das Nennen des Ziels, das Israels gegenwärtige Angriffe auf die Hamas in Gaza verfolgt: die Annäherung zwischen den beiden palästinensischen Parteien, die noch in den Kinderschuhen steckt, zu zerstören und damit den internationalen Druck auf Israel zur Beendigung der Besetzung des Westjordanlandes und der Isolierung Gazas abzuschwächen. Das passt eben nicht in den Rahmen der herrschenden Mythologie.
Natürlich wird die Strategie Israels von seiner eigenen seit Langem bestehenden Mythologie gestaltet. Ich habe sie den Mythos von Israels Unsicherheit (8) genannt. Es ist die Geschichte, die besagt, Juden werden immer von Feinden angegriffen, die ihren Staat einzig und allein aus antisemitischem Hass zerstören wollen. Avnery nennt das „den Ghetto-Reflex, der sich in Jahrhunderten der Verfolgung entwickelt hat, dass Juden gegen die bösen Gojim [Heiden] zusammenstehen müssen“. Dieser Mythos ist bei den israelischen Juden jetzt so mächtig, dass er die politischen Strategien ihrer Regierung bestimmt. 
Jeder politische Mythos enthält Tatsachen. Im Mythos werden sie in imaginäre Strukturen verpackt. Natürlich gibt es bei den Palästinensern Antisemitismus. Sicherlich steht die Hamas unter dem Druck anderer militaristischer Parteien in Gaza und es könnte ja sein, dass sie Raketen einsetzt, um ihre politische Macht zu behalten. Sicherlich gibt es jetzt eine so lange Geschichte gegenseitiger Feindseligkeiten, dass es schwierig ist, aus dem Teufelskreis auszubrechen.
Im Mythos erdrückt jedoch das Imaginäre das Tatsächliche, indem es dafür sorgt, dass viele Tatsachen – oft die wichtigsten Tatsachen – weggelassen werden.
Ein Beispiel dafür ist, dass die israelische Regierung und die große Mehrheit der israelischen Juden die offensichtliche Tatsache nicht anerkennen, dass diejenigen, die die drei israelischen Jugendlichen entführt und wahrscheinlich getötet haben, nicht im Namen der Hamas und noch viel weniger im Namen des palästinensischen Volkes als Ganzem gehandelt haben. Im Gegenteil: Zweifellos haben die Entführer die Absicht, die Versöhnung zwischen Fatah und Hamas zu stören. Sie haben ebenso deutlich wie Avnery verstanden, dass die Israelis mit Gewalt reagieren und damit die Versöhnung untergaben würden. Tragisch wie so oft: Die Extremisten beider Seiten werden zu Partnern beim Ansteuern eines gemeinsamen Zieles.
Grundsätzlicher ist: Die Israelis ignorieren seit Jahren Langzeitwaffenstillstandsangebot der Hamas. Während eines Waffenstillstandes könnten die beiden Seiten einen ständigen Frieden aushandeln. Dazu würde auch die De-facto-Anerkennung Israels durch die Hamas gehören.
Hier in den USA begann das Angebot der Hamas vor einigen Jahren einige Aufmerksamkeit (9) zu erregen. Es gab einen Hauch von Möglichkeit, dass ein neuer Mythos, einer, der den Tatsachen eher gerecht würde, im Entstehen sei.
Aber der ist jetzt verschwunden. Die Hamas wird, wie gewohnt, als eine „auf die Zerstörung Israels ausgerichtete“ Organisation dargestellt. Auch das gehört wieder einmal zur herrschenden Mythologie. Diese macht es den US-Medien leichter, die Berichterstattung über die gegenwärtigen Ereignisse auf die Mythen „Wie-du-mir-so-ich-Dir“ und „die Guten gegen die Bösen“ zu reduzieren.
Das Zusammenwirken dieser beiden Mythen schreibt den US-Massenmedien vor, den Amerikanern die israelische Version der Ereignisse zu liefern: Die Entführer werden aus Einzeltätern zu „Palästinensern“ verallgemeinert und die mythische Erzählung, die Hamas - oder vielleicht einfach „die Palästinenser“ -, verübe einen tödlichen Angriff auf das unschuldige Israel, geht jetzt als Realität durch. Vom offensichtlichen strategischen Zweck von Israels Reaktion schweigen die Medien.
Die Geschichte der Berichterstattung der US-Medien über Israel zeigt jedoch, dass sich Mythen verändern können. Eine weitere Veränderung, die den Mythos der Realität annähern würde, ist immer möglich. Und wenn nicht jetzt, hat ein berühmter Jude einmal gesagt, wann dann? (PK)
 
(1) http://online.wsj.com/news/articles/SB123275572295011847
(2) http://zope.gush-shalom.org/home/en/channels/avnery/1403876541
(3) Uri Avnery am 8. Juni 2014, Ein bewaffnetes Ghetto. http://www.lebenshaus-alb.de/magazin/008565.html und http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=20500, dort in meiner Übersetzung.
(4) http://www.washingtonpost.com/world/middle_east/israeli-army-launches-offensive-on-gaza-strip/2014/07/07/92148c6e-063b-11e4-a7ef-9ed5d8510e81_story.html
(5) http://www.countercurrents.org/pa-fisk180903.htm
(6) http://www.nytimes.com/2014/07/09/world/middleeast/israel-steps-up-offensive-against-hamas-in-gaza.html?_r=1
(7) http://www.nytimes.com/video/world/middleeast/100000002989054/cutting-the-grass-of-hamass-militancy.html
(8) http://chernus.wordpress.com/the-myth-of-israels-insecurity/
(9) http://www.truth-out.org/news/item/6718:media-may-give-hamas-extreme-makeover
 
(10) http://www.tomdispatch.com/blog/175728/Ira_chernus_I_haven%27t_a_dream
(11) http://mythicamerica.wordpress.com/
(12) http://hnn.us/blog/author/7
(13) https://www.facebook.com/tomdispatch
(14) http://tomdispatch.tumblr.com/
(15) http://www.amazon.com/dp/1608463710/ref=nosim/?tag=tomdispatch-20
 
Ira Chernus, nach eigener Darstellung "seit mehr als 30 Jahren jüdischer Friedensaktivist" in den USA, schreibt regelmäßig bei TomDispatch(10), ist Professor der Religionswissenschaft an der University of Colorado Boulder und Autor der Online-"MythicAmerica: Essays“(11). Er schreibt im Blog MythicAmerica.us(12). Verbindungen bei TomDispatch auf Twitter, Facebook(13) und Tumblr(14). Er empfiehlt das neueste Dispatch-Buch von Ann Jones"They Were Soldiers: How the Wounded Return From America’s Wars - The Untold Story(15) .
 
Quelle: http://hnn.us/blog/153421 Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler
 
 


Online-Flyer Nr. 468  vom 23.07.2014

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