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Aktueller Online-Flyer vom 26. April 2024  

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Globales
Ein Blick auf die jüngsten Kommunalwahlen in der Türkei
Großer Erfolg der BDP in der Region
Von Devriş Çimen

Die jüngsten Kommunalwahlen in der Türkei kann man als Referendum zur Politik des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seine Regierungspartei AKP bezeichnen. Der offen ausgetragene Machtkampf zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung, die mit der republikanischen Volkspartei (CHP) paktierte, hat die Gesellschaft in polarisierte Lager aufgespalten, die sich nun aufgrund des schmutzig geführten Wahlkampfes gegenüberstehen. Der Kovorsitzende der Partei für Frieden und Demokratie (BDP) Selahattin Demirtaş hat unmittelbar nach der Wahl erklärt, dass dieser Wahlkampf die Gesellschaft der Türkei noch stärker in geschlossene Gruppen zerschnitten hat.

Nach Auszählung fast aller Stimmen konnte die AKP um ca. 6% zulegen und kam so auf 45,5% landesweit. Die CHP konnte etwa 5%, die MHP 1,5% und die BDP/HDP konnten 2% Stimmengewinne verzeichnen. Die prozentualen Zahlen spielen dabei für die BDP/HDP keine große Rolle. Die BDP, die vor allem in den kurdischen Provinzen im Südosten der Türkei angetreten war, kann nun drei weitere Großstädte, weitere 8 Provinzen und 67 Bezirke verwalten.
 
Der Machtkampf zwischen Erdoğan und der Gülen-Bewegung hat die Allianz des islamischen Lagers in der Türkei gespaltet. Der offen ausgetragene Machtkampf hat viele bis dato unentschlossene Wähler dazu bewegt Position zu beziehen. Die meisten von ihnen waren zuvor Wähler von Kleinparteien, die ideologisch den Kriegsparteien der 90iger Jahre nahe standen. Im Ergebnis aber kann festgehalten werden, dass Erdoğan den Machtkampf für sich entscheiden konnte.
 
Auch jetzt noch, nach den Wahlen, ist eine gespannte Stimmung in der Türkei spürbar. Von Wahlmanipulation wird geredet, von Unregelmäßigkeiten bei der Stimmauszählung; und die Häufigkeit der Stromausfälle am Wahlabend war tatsächlich bemerkenswert. Wie viel Manipulation und Vertuschung oder was in den Zeiten des Stromausfalls tatsächlich passiert ist, ist noch unklar, aber es mehren sich die Bilder, auf denen verbrannte Wahlzettel zu sehen sind, die von der Bevölkerung gefunden wurden. Misstrauisch protestiert die Bevölkerung vor allem in den kurdischen Provinzen wie z.B. Qers (Kars), Reşqelas (Iğdır), Riha (Urfa), Agirî (Ağrı) und beschreibt so den Zustand in der Türkei.
 
Wenn wir nun nach der Wahl den Kampf um die Stimmen der Bevölkerung betrachten, können wir feststellen, dass keinesfalls die Arbeit der Kommunen im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit stand. Vielmehr drehte sich alles um den Machtkampf zwischen Recep Tayyip Erdoğan und Fetullah Gülen, der in den Focus gerückt worden ist. Dies wurde in der Wahlpropaganda deutlich, da hier die AKP und die mit der Gülen-Bewegung offen kooperierende CHP kaum andere Akzente gelegt haben.
 
Einzig die BDP und die HDP (Demokratische Partei der Völker) hatten in ihrem Wahlkampf ihr Augenmerk auf die Inhalte der Kommunalwahl gelegt. Beide Parteien hatten im Machtkampf eine sachliche Position eingenommen und ihre sehr begrenzten Mittel dafür eingesetzt, sich mit den Belangen der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Begrenzte Mittel, weil im Gegensatz zur AKP, CHP und MHP die BDP und die HDP keine finanziellen Mittel vom Staat bekommen haben. Dies verhindert weiterhin die 10%-Wahlhürde in der Türkei. Auch dürfen die tausenden verhafteten BDP-AktivistInnen nicht vergessen werden; etwa 8.000 von ihnen sind in Gefängnissen, darunter BürgermeisterInnen, Stadträte, JugendaktivistInnen. Dazu kommen viele weitere Tausende, die durch die sogenannten KCK-Operationen zur Flucht gezwungen worden sind.
 
Der Wahlkampf der BDP und der HDP war von unzähligen Angriffen durch staatliche Ordnungskräfte und organisierte faschistische Banden behindert worden. So wurden mehrere Büros der HDP zerstört und unbenutzbar gemacht. Damit sollte der Wahlkampf der noch relativ jungen aber vielversprechenden HDP, die sich besonders im Westen der Türkei organisiert hat, behindert werden. Denn der Staat, der nicht allein auf die AKP reduziert werden kann, sieht in der basisdemokratischen Praxis von HDP und BDP eine wirkliche Gefahr für sein autoritäres zentralistisches Fortbestehen. In Folge der Repression gegen HDP und BDP gab es viele verletzte AktivistInnen und BürgerInnen. Hierbei hat man sich auch stets der paramilitärischen Organisation der vom türkischen Militär im Kampf gegen die PKK gegründeten Hisbollah bedient.
 
Zu all den systematisch gewalttätigen Übergriffen kommt hinzu, dass weder die HDP noch die BDP Gelegenheit hatte, ihre Perspektiven für die Kommunen in den staatlichen Medien zu erörtern. Laut Erklärung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks RTÜK hatte die AKP 89,52%, die CHP 4,96%, die nationalistische MHP 5,29% und die BDP zusammen mit der HDP 0,22% der Sendezeit eingeräumt bekommen. Diese Zahlen verdeutlichen die extremen Ungleichbehandlungen der Parteien.
 
Trotzdem konnte sich die BDP in all den Städten, in denen sie bereits BürgermeisterInnen stellte, halten und weiter ausbauen. Die erst fünf Monate junge Partei HDP hat zwar kein Rathaus erobern, aber auf Anhieb 2% der Stimmen gewinnen können. Die Kovorsitzende der "Kurdenpartei" HDP, Sebahat Tuncel, erklärte nach der Wahl, dass ihre Partei zu einer Alternative in der Türkei heranwachsen möchte. Der Erfolg der BDP und der HDP ist darauf zurückzuführen, dass sie sich den kommunalpolitischen Themen zugewandt hatten und ihre alternative Perspektive der Bevölkerung glaubhaft vermitteln konnten.
 
Mit BDP und HDP wächst der basisdemokratische Block in der politischen Landschaft der Türkei solide an. Die von diesen beiden Parteien ausgehende gesellschaftliche Alternative hin zu einer wirklichen Demokratisierung des politischen Systems der Türkei und die damit einhergehende Stärkung der kommunalen Ebene und die Gleichberechtigung der Frau im politischen System gewinnen an Kontur.
 
BDP und HDP stehen für eine Dezentralisierung des politischen Systems in der Türkei und für die Stärkung der Kommunalverwaltung. Sie fordern eine Berücksichtigung der lokalen und regionalen Unterschiede in Sprache, Religion, Kultur etc., so dass der pluralistischen Gesellschaftsstruktur der Türkei Rechnung getragen werden kann. Ein weiterer zentraler Punkt der alternativen Politik von BDP und HDP ist die Gleichberechtigung der Frau in Gesellschaft, Politik und Bildung, die bereits in ihren eigenen organisatorischen Strukturen umgesetzt wird. Denn beide Parteien haben das Modell des Kovorsitzenden eingeführt und in allen Bereichen der Parteien umgesetzt. Als Ergebnis kann festgehalten, dass beide Parteien in Punkto Gleichberechtigung weltweit wohl ein Novum darstellen, da die von ihnen aufgestellten Quoten bei weitem überschritten werden. In einigen Bereichen liegt der Anteil der Frauen in Führungspositionen bereits bei über 55%.
 
Zu den großen Errungenschaften beider Parteien, wenn auch im türkischen Recht noch nicht verankert, gehören:
 
>    Kovorsitz, d.h. beispielsweise, in allen Rathäusern gibt es eine Bürgermeisterin und einen Bürgermeister, die gemeinsam die Kommune regieren. Die Frauenquote liegt bei der BDP und der HDP bei über 50%. Bei der bei AKP 1,3%, CHP 4,54% und MHP 2,7%.
>    Berücksichtigung und Förderung der lokalen und regionalen gesellschaftlichen Vielfalt durch die Aufstellung von KandidatInnen aus den jeweiligen Volks- oder Glaubensgruppen, als Beispiel hier die 25-jährige aramäische Ko-Bürgermeisterin von Mêrdîn (Mardin) Februniye Akyol.
>    Die freiwillige Offenlegung und Rechtfertigung der Finanzen gegenüber der Bürgerversammlung/Volksrat und ihre Einbindung in relevante Prozesse. 
>    Die Einbindung der Jugend in Schlüsselfunktionen des politischen Systems, hier als Beispiel die 25-jährige Ko-Bürgermeisterin der Stadt Lice Rezzan Zogurlu, die 91% der Stimmen gewann und die 27-jährige Ko-Bürgermeisterin der Stadt Cizre Leyla Imret. Leyla, die in ihrer Jugend in Bremen gelebt hatte, bekam bei der Wahl 16.500 von 19.000 Stimmen. Auch die 27-jährige Ko-Bürgermeisterin der Stadt Kocaköy Berivan Elif Kılıç, wurde mit 83% der Stimmen gewählt.
 
Diese hier aufgeführten Fakten verdeutlichen, wie grundlegend BDP und HDP die Gesellschaft verändern können. Die von diesen Parteien angebotene Alternative gewann auch im Zuge dieser Kommunalwahl an Kontur und etabliert sich zusehends in der Gesellschaft. Der Schlüssel für den Erfolg liegt darin, dass die propagierte Alternative in der eigenen Organisation und in den Kommunen konsequent umgesetzt wird. Der Grund für die schnelle und noch dazu so erfolgreiche Umsetzung liegt eben darin, dass diese Parteien und ihre jeweilige Basis erkannt haben, dass nur die Frau und die Jugend imstande sind, die nötige Dynamik zur Veränderung der Gesellschaft und damit auch des politischen Systems aufzubringen. Hierbei werden durch den dynamischen Wandel der Gesellschaft alte verkrustete Strukturen in Gesellschaft, Politik und zusehends auch in der Wirtschaft erfolgreich überwunden.
 
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die AKP bei dieser Kommunalwahl einen aus kurzfristiger Sicht sehr wichtigen Sieg für sich erringen konnte, die CHP aber trotz der umfassenden Unterstützung und Kooperation der Gülen-Bewegung und die MHP als Sammelbecken nationalistischer Kreise nur bedeutungslose Ergebnisse erzielt haben.
 
Die BDP konnte sich weiter in der Gesellschaft und im politischen System verankern, und die HDP konnte sich als junge dynamische Kraft eindrucksvoll ins politische System der Türkei einbringen. Die HDP wird sich, ähnlich wie die BDP, in den kurdischen Landesteilen langsam aber solide entwickeln und sich als wahre Alternative im politischen System der Türkei etablieren. Die Kovorsitzende der HDP, Sebahat Tuncel, sieht ihre Partei als größte Opposition der Zukunft, was nach dieser Wahl nicht als utopisch abgetan werden kann.
 
Einen Tag nach den Wahlen sagte der BDP-Kovorsitzende Selahattin Demirtaş in Amed: „Die Ergebnisse der Wahlen zeigen uns, dass sich die Türkei in verschieden Lagern befindet. Hinter uns liegt keine reine Kommunalwahl sondern es herrschte eine Stimmung wie bei Parlamentswahlen. Der Gezi-Widerstand, die Korruptionen, die Veröffentlichung der Tonbänder, all das hatte große Einflüsse auf die Wahlen. (…) Wir haben einen Erfolg zu verzeichnen, für den wir auch viel arbeiten mussten. Wir wurden von der Presse ausgegrenzt. (…) Viele unserer Funktionäre sind weiter inhaftiert, was uns an einem noch erfolgreicheren Ergebnis gehindert hat. (…) Und während des Wahlkampfs hat der Ministerpräsident eine diskriminierende Sprache gegenüber unserer Partei geführt. Das ist unakzeptabel. Wir haben immer gesagt, dass wir uns nicht im Krieg sondern im Wahlkampf befinden. Ganz wichtig ist: überall wo wir gegen die AKP angetreten sind, hat die AKP eine Niederlage erlitten. Die Anzahl unserer Kommunen hat sich erhöht. Das war nicht leicht. Überall dort, wo wir keinen Sieg erringen konnten, werden wir uns damit auseinandersetzen.“
 
Nun liegt es daran, die Debatte um eine demokratische Verfassung, um die Lösung der kurdischen Frage sowie um die Demokratisierung der gesamten Türkei, die vor dem Wahlkampf für die Kommunalwahlen die Tagesordnung bestimmte, wieder aufzunehmen. Es müssen konkrete Schritte folgen, um den Lösungs- oder Friedensprozess mit Leben zu füllen. (PK)
 
Devriş Çimen ist engagiert bei Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V. - http://www.civaka-azad.org/index.php/wir-ueber-uns.html


Online-Flyer Nr. 453  vom 09.04.2014

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