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Inland
Warum Kanzlerin Merkel für den Verbleib Großbritanniens in der EU wirbt
Die britische Frage
Von Hans Georg

Mit der Aussicht auf Teilhabe an einer Weltmachtstellung im Rahmen der deutsch geführten Union hat die deutsche Kanzlerin am vergangenen Donnerstag für den Verbleib Großbritanniens in der EU geworben. Wollten die Staaten Europas ihre Interessen sowie ihre "wirtschaftliche und soziale Stärke in der Welt des 21. Jahrhunderts dauerhaft behaupten", dann müsse die EU "stärker, stabiler und wettbewerbsfähiger werden als heute", sagte Angela Merkel in ihrer Rede vor beiden Kammern des britischen Parlaments.
Anlass für das Berliner Werben sind die erstarkenden Bestrebungen in Großbritannien, Kompetenzen aus Brüssel rückzuverlagern oder gar den EU-Austritt des Landes durchzusetzen; sie haben Premierminister David Cameron gezwungen, für 2017 ein Referendum über die britische EU-Mitgliedschaft anzukündigen. Berlin hat Interesse daran, dass London mit seiner Militärmacht auch in Zukunft für EU-Interventionen zur Verfügung steht, und sucht daher einem britischen Austritt entgegenzusteuern. Zugleich ist es aber nicht bereit, auf die immer engere Integration der Eurozone zu verzichten, die für das exportfixierte deutsche Wirtschaftsmodell nützlich ist. Die Widersprüche sollen durch gemeinsame Expansion stillgestellt werden.
 
Die Queen of Europe
 
Mit außergewöhnlichen Ehren ist die deutsche Kanzlerin in London empfangen worden. Angela Merkel hielt eine Rede vor beiden Kammern des britischen Parlaments - als vierte Deutsche überhaupt nach Willy Brandt (1970), Richard von Weizsäcker (1986) und Joseph Ratzinger (2010). Danach traf sie Premierminister David Cameron zu ausführlichen Gesprächen und absolvierte abschließend eine Audienz bei Queen Elizabeth II. im Buckingham Palace. Merkel werde wie eine "Queen of Europe" behandelt, hieß es in der britischen Presse. In Berlin werden die hohen Ehren mit der Bedeutung in Verbindung gebracht, die die britische Regierung Deutschland gegenwärtig zumisst. Premierminister Cameron hat, um die wachsende Kritik in der britischen Bevölkerung an der EU zu besänftigen, für das Jahr 2017 ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft des Landes angekündigt und will die Abstimmung mit einer Rückübertragung bestimmter Kompetenzen aus Brüssel gewinnen. Aufgrund der aktuell herausragenden Machtstellung Deutschlands in der EU sei eine solche Rückübertragung aber nur in Kooperation mit Berlin zu erreichen, heißt es. Der Bundesregierung komme deshalb eine exklusive Schüsselstellung zu.
 
Militärisches Potenzial
 
Deutschland hat, wie mehrere aktuelle Papiere aus Berliner Think-Tanks bestätigen, prinzipiell ein erhebliches Interesse am Verbleib Großbritanniens in der EU. Hintergrund ist, wie es etwa bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) heißt, vor allem die deutsche "Vision von einer EU", die "nicht nach innen schaut, sondern sich auf eine künftige globale Rolle für Europa ausrichtet" - eine höfliche Umschreibung für die aktuelle weltpolitische Offensive Berlins (german-foreign-policy.com berichtete [1]). Mit einem Austritt Londons würde die EU eine ihrer bedeutendsten außenpolitischen und militärischen Kräfte verlieren, heißt es bei der DGAP.[2] Auch eine Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) bestätigt, die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens habe aufgrund von dessen Sitz im UN-Sicherheitsrat, aufgrund seiner engen Bindungen einerseits zu den USA, andererseits auch zum Commonwealth und schließlich aufgrund "seiner noch verbliebenen militärischen Fähigkeiten" für die Bundesrepublik einen hohen Wert: "Ein Austritt würde die internationale Handlungsfähigkeit und das Ansehen der Europäischen Union nachhaltig schwächen."[3] Die DGAP weist zudem darauf hin, dass Deutschland in diesem Fall vermutlich noch erheblich stärker aufrüsten würde, um die militärischen Lücken, die Großbritannien hinterließe, zu füllen.
 
Die Eurozone hat Vorrang
 
Weiteren taktischen Vorteilen der britischen EU-Mitgliedschaft stehen aus deutscher Sicht allerdings auch erkennbare Nachteile gegenüber. So sei es zwar hilfreich, dass man etwa bei der neoliberalen Formierung der EU auf die Unterstützung Londons vor allem gegen Paris bauen könne, heißt es in Berlin. Andererseits schade die Ablehnung, die Großbritannien einer immer engeren Kooperation im Rahmen der EU entgegenbringe, herausragenden deutschen Interessen. "Das deutsche Wirtschaftsmodell mit seiner starken Konzentration auf Exporte" [4] - zentral für Berlin - setze eine glatt funktionierende Eurozone voraus, urteilt die DGAP; die Bundesrepublik habe dem Rechnung zu tragen und müsse die Zusammenarbeit wohl noch stärker intensivieren: "Die vitalen Interessen an der Eurozone führen Deutschland dazu, seine Prioritäten sorgfältig abzuwägen, und machen es besonders empfindlich gegenüber absichtlichen oder unabsichtlichen Störern." Ausdrücklich schreibt die DGAP: "Die Rettung der Eurozone durch weitere Integration könnte auch um den Preis vollzogen werden, Großbritannien zu verlieren".[5]
 
Zentrifugale Gefahren
 
Die Gespräche waren aus deutscher Sicht notwendig geworden, weil dieses Jahr in Brüssel Entscheidungen anstehen, die gegensätzliche Interessen Deutschlands und Großbritanniens betreffen. "Die britische Frage" drohe "in viele Einzelbereiche von europapolitischer Bedeutung hineinzudiffundieren", ist bei der SWP zu lesen - "in die Festlegung des EU-Haushalts, die Ausgestaltung der Bankenunion" sowie "die Bestimmung der politischen Prioritäten für die nächste Legislaturperiode". Auch müsse bei den kommenden Verhandlungen über eine Reform der Eurozone wohl oder übel die britische Position einbezogen werden.[6] London möchte die Gespräche nutzen, um seinerseits die Rückübertragung von Kompetenzen aus Brüssel in die Wege zu leiten, ohne die das für 2017 geplante Referendum zu einem Austritt führen könnte. Berlin fürchtet, zentrifugale Kräfte in der EU könnten dadurch gestärkt werden und eventuell sogar die Eurozone gefährden. "Die Krise der Währungsunion ist nur vordergründig gebändigt", warnt etwa die DGAP: Die "britische Frage" drohe "die Union zu zerreißen, wenn Berlin keine Antwort findet". Deutschland müsse sich "dringend in die Debatte einschalten".[7]
 
Divide et impera
 
Dabei rät die SWP zum Versuch, unterschiedliche Kreise britischer EU-Kritiker zu spalten. Es gebe nicht nur "die fundamentalen Euroskeptiker", die offen auf einen Austritt aus der EU setzten, sondern auch "die moderaten Euroskeptiker", die sich "zum Verbleib ihres Landes in der Union" bekennten und "lediglich darauf" hinarbeiteten, zentrale britische Interessen "speziell in Sachen Binnenmarkt" durchzusetzen. Entsprechend müsse man in London "die Vorteile eines Verbleibs im Binnenmarkt herausstellen", heißt es bei der SWP; nur so könne es gelingen, "zumindest signifikante Teile der moderaten Euroskeptiker" auf die eigene Seite zu ziehen.[8]
 
Einigung per Krieg
 
Entsprechend hat Kanzlerin Merkel am Donnerstag in ihrer Rede im britischen Parlament die Vorzüge des europäischen Binnenmarkts gepriesen, der "uns neue Chancen" eröffne, allerdings auch die von Berlin gewünschten Reformen verlange. Darüber hinaus hat sie mit der Perspektive geworben, nur die EU könne London die Teilhabe an einer Weltmachtstellung sichern. Es gehe zur Zeit um nichts Geringeres "als darum, ob Europa seine ... Interessen und seine wirtschaftliche und soziale Stärke, die den Menschen Wohlstand gibt, auch in der Welt des 21. Jahrhunderts dauerhaft behaupten kann", erklärte die deutsche Kanzlerin: Dazu müsse die EU "stärker, stabiler und wettbewerbsfähiger werden als heute", also - anders als London es wünscht - enger kooperieren: "Sie muss ihre Kräfte bündeln und sich auf die großen Herausforderungen konzentrieren."[9] Gemeinsames Weltmachtstreben wird damit zum Kitt für die EU-Integration. Das "europäische Projekt einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik wird ein Motor für das weitere Zusammenwachsen Europas sein", hatte der damalige Außenminister Guido Westerwelle bereits 2010 erklärt.[10] Der Gedanke, durch gemeinsame Kriege Einigung zu erreichen, ist in der deutschen Geschichte nicht neu: Auf dieser Grundlage schmiedete bereits Preußen bis 1871 das Deutsche Reich. (PK)
 
 
[1] S. dazu Die Neuvermessung der deutschen Weltpolitik, Die Erwartungen der Welt, Deutschlands Befreiungsschlag und Der Weltordnungsrahmen.
[2] Almut Möller: Britain outside the EU? The German View. DGAPkompakt No. 1, Januar 2014.
[3] Nicolai von Ondarza: Großbritannien und die EU-Reform. Empfehlungen für den Umgang mit den britischen Forderungen an die Europäische Union. SWP-Studie S4, Februar 2014.
[4] S. dazu Der deutsche Glaube ans Sparen und Hartz IV für alle.
[5] Almut Möller: Britain outside the EU? The German View. DGAPkompakt No. 1, Januar 2014.
[6] Nicolai von Ondarza: Großbritannien und die EU-Reform. Empfehlungen für den Umgang mit den britischen Forderungen an die Europäische Union. SWP-Studie S4, Februar 2014.
[7] Almut Möller: Reformen oder Austritt? dgap.org 18.02.2014.
[8] Nicolai von Ondarza: Großbritannien und die EU-Reform. Empfehlungen für den Umgang mit den britischen Forderungen an die Europäische Union. SWP-Studie S4, Februar 2014.
[9] Rede von Bundeskanzlerin Merkel vor beiden Häusern des britischen Parlaments. London, 27. Februar 2014.
[10] S. dazu Europas Motor.

Diesen Artikel haben wir mit Dank von 
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58810 übernommen


Online-Flyer Nr. 448  vom 05.03.2014

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