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Aktueller Online-Flyer vom 08. Mai 2024  

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Globales
Triumph der Sozialistin Michelle Bachelet bei der Präsidentschaftswahl
Neue Verfassung in Chile ist notwendig
Von Luz María De Stéfano Zuloaga de Lenkait

Besorgniserregend war die zu niedrige Wahlbeteiligung bei der Präsidentschaftswahl in Chile, die niedrigste in der Geschichte des Landes. Früher gab es eine gesetzliche Pflicht, zur Wahl zu gehen. Die Aufhebung dieser Wahlpflicht war eine List aus dem rechten Lager. Damit wurde das politische Engagement der Massen zurückgedrängt, die mehrheitlich nicht für einen Status-Quo stehen. Die Rechten Parteien konnten sich damit eine relativ bessere Ausgangsposition als vorher sichern. Das zeigte sich auch jetzt: Immerhin über ein Drittel (38%) der an der Wahl beteiligten Chilenen stimmten für die rechte Kandidatin. Bei einer hohen Wahlbeteiligung wäre diese Fraktion für das Beibehalten des Status Quo sicherlich auf ein Fünftel oder auf einen noch geringeren Anteil gesunken.
 

Michelle Bachelet
NRhZ-Archiv
Im Hinblick auf die gesellschaft-lichen Verhältnisse ist es wirklich alarmierend, dass rund 60% der Chilenen der Wahl fernblieben. Das gilt im besonderen Maß für die Jugend, die seit Beginn der Pinochet-Diktatur in den Schulen keine staatsbürgerliche Erziehung mehr erhält. Früher gab es im Schulunterricht das Fach Staatsbürgerkunde. Heute wächst eine Jugend ohne politisches Bewusstsein, ohne zivil-gesellschaftliche Interessen heran, was sie für übermäßigen Konsum anfällig macht und gegenüber dem verblödenden kommerziellen Medienangebot wehrlos lässt. Das signalisiert eine Tendenz zum Zerfall einer zivilisierten demokratischen Gesellschaft, die von der neuen Regierung Chiles dringend zu korrigieren ist.
 
Die dringendsten Veränderungen, die die Mehrheit der Chilenen erwarten, sind an erster Stelle eine kostenlose Bildung und eine Gesundheitsreform. Die neugewählte Präsidentin Michelle Bachelet und ihre politische "Neue Mehrheit" sind auch davon überzeugt, dass eine neue chilenische Verfassung notwendig ist, denn bisher ist immer noch die Verfassung von 1980 in Kraft, die aus der Diktatur vom General Augusto Pinochet stammt. Keine postdiktatorielle chilenische Regierung, nicht einmal die zwei christdemokratischen Regierungen Patricio Aylwin (1990-1994) und Eduardo Frei Ruiz-Tagle (1994-1998), haben es geschafft, die autoritäre Verfassung in eine demokratische zu ändern.
 
Unbegreiflich bleibt, dass der ehemalige erste christdemokratische Präsident Eduardo Frei Montalva (1964-1970) und andere intelligente Männer der chilenischen Christdemokratie damit rechneten, das Militär habe den Putsch ausgeführt, um ihnen kurz danach die Macht einfach so zu übergeben. Dieser Illusion waren die Christdemokraten vollkommen verfallen. Eine andere Illusion verbreiteten die Anhänger von Augusto Pinochet, indem sie sich selbst als Befürworter einer freien Gesellschaft und Verteidiger der Demokratie definierten. Dennoch oder gerade deshalb erhielten die Pinochetisten während der Militärdiktatur entschiedene Unterstützung von der deutschen Christdemokratie in Bonn, besonders von der CSU. Ein CSU-Professor aus Würzburg namens Dieter Blumenwitz engagierte sich sogar persönlich bei der Redaktion des autoritären Verfassungstextes der chilenischen Diktatur, vor allem was die undemokratischen Klauseln betrifft, unter anderem was den Ausschluss von großen Sektoren der chilenischen Gesellschaft und die Ernennung von General Augusto Pinochet als Senator auf Lebenszeit betrifft.

Augusto Pinochet
BRhZ-Archiv
 
Augusto Pinochet starb am 10. Dezember 2006 ohne gerichtliche Verurteilung. Ein strafrechtlicher Prozess wurde ihm zwar gemacht, aber wegen Krankheit wurde der eingestellt. Nach alledem, was in Chile im letzten Jahrhundertviertel Schreckliches geschehen ist, sind die Reaktionen der Streitkräfte und des rechten konservativen Lagers von großer Tragweite. Die chilenischen Streitkräfte erkannten an, dass während der Diktatur Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden und ließen erklären, sie würden jede gerichtliche Entscheidung respektieren. Für den weiteren notwendigen Demokratisierungsprozess des Landes ist aber die Haltung der rechten oppositionellen Parteien wichtig, denn sie haben bisher die notwendigen Verfassungsreformen im Parlament blockiert und vergeblich versucht, die Justiz auszuschalten, indem sie die Angelegenheit des Generals seit seiner Rückkehr aus London im März 2000 in Santiago auf politischem Weg lösen wollten. Zum Schluss scheiterte in letzter Minute ein vorbereiteter parlamentarischer "Kompromiss", General Pinochet vor der Justiz zu bewahren, und zwar dank der Intervention der damaligen Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Chiles, Gladys Marín, am Präsidenten. Das rechte Lager schäumte vor Wut. Allerdings berichteten die chilenischen Medien darüber vorurteilsfrei, nicht aber die deutschen.
 
Sicherlich spielt es eine entscheidende Rolle, dass Chile über eine längere rechtsstaatliche demokratische Tradition verfügt als Deutschland und der Kalte Krieg deshalb dort auch weniger ausrichten konnte. Schon 1812 wurden in Chile alle juristischen Fortschritte - Magna Charta von 1215, Erklärung der Rechte von Virginia 1776, Änderung der US-amerikanischen Verfassung, was den legalen Prozess angeht, in die chilenische institutionelle Ordnung eingefügt. Sie entwickelte sich und fand sich bestätigt in den Verfassungen von 1833, 1925 bis zurVerfassung Chiles von 1980,die durch die damals herrschende Militärregierung erarbeitet und anschließend in einer Volksabstimmung, die unter großem Druck stattfand und nicht demokratischen Kriterien entsprach, mit 67 % angenommen wurde. Der legale Kontext des Landes war immer deutlich, was die Würde einer Person oder die Respektierung von Menschenrechten angeht. Trotzdem fand während der Militärdiktatur Pinochets und den folgenden zehn Jahren die Interpretation oder axiologische Auslegung der Gesetze nicht statt. Dadurch mangelte es an Justiz. Dieses Manko war während der Diktatur und danach wiederholtes Thema von Tischgesprächen in Juristenfamilien.
 
Und wie sieht es mit der Justiz in Deutschland aus? Wo bleibt die öffentliche Aufklärung in Deutschland und eine Debatte über die CDU/CSU/FDP-Unterstützung von Terror-Regimen in Südamerika und Arika und über die braune FDP-Nachkriegsvergangenheit? Mit der diktatoriellen Verfassung Chiles unter dem militärischen Terror-Regime waren die CDU/CSU/FDP-Ultras einverstanden, so sehr, dass sie mit ihren Apparaten, den Zweigstellen ihrer Stiftungen in Chile und großzügigen Finanzmitteln alles daran setzten, einen der Ihren anstelle des Diktators an die Spitze zu bekommen, um dann der Welt eine neue chilenische Regierung als Demokratie zu verkaufen. Dies misslang jedoch gründlich. Die politische Kultur der chilenischen Opposition ließ eine derartige Einmischung nicht zu. Als die Frankfurter Rundschau diese Ungeheuerlichkeit am 14.11.1988 bloßstellte, fühlte sich der CDU-Spitzenpolitiker Heiner Geissler, der für "seine Sache" nach Chile geflogen war, angegriffen wie eine Mimose. Er wollte partout nicht verstehen, dass es um die wirkliche Demokratisierung Chiles ging und nicht darum, unter einer christdemokratischen Figur im bestehenden diktatoriellen Korsett der autoritären Verfassung auf unbestimmte Zeit weiter zu leben.
 
Mit finanzieller wie persönlicher Hilfe der CDU/CSU und ihren Stiftungen entstand damals die sogenannte autoritäre Verfassung der chilenischen Diktatur, die für die volle Demokratisierung des Landes ein großes Hindernis darstellt. Dass deutsche Bundestagsparteien Sitze ihrer Stiftungen im Ausland finanzieren (auch in Santiago), die sich im demokratischen Kampf des Landes zu engagieren versuchten, ohne einen wahren Sinn und Begriff für Demokratie zu haben, ist bemerkenswert. Sie agierten in Santiago mit deutschen Steuermitteln, als hätten sie ein Mandat. In Chile mischten sie sich ein und verrieten dabei, wessen Geistes Kind sie wirklich sind. Ihr Einfluss hatte teilweise Erfolg: Pinochets Diktatur-Verfassung blieb bis heute fast vollständig erhalten. Die westdeutschen Christdemokraten waren daran interessiert, die mit ihrer Hilfe und Unterstützung geschaffene Verfassung von Pinochet unreformierbar zu halten und lediglich den General als Führer zu ersetzen. Das diktatorielle System sollte erhalten bleiben, aber mit einer anderen Figur an der Spitze, dem Christdemokraten Patricio Aylwin.
 
Nicht nur deutsche Christdemokraten geben deshalb Anlass zu Misstrauen, sondern gerade auch die chilenischen Christdemokraten, die in der sogenannten Neuen Mehrheit für die Präsidentin Bachelet vertreten sind. Es wäre ratsam, dass die Vertrauensleute von Bachelet solche "Christdemokraten" im Auge behalten, denn sie sind seit der Zeit von Präsident Salvador Allende für ihre verräterische Rolle in Chile gebrandmarkt. Es waren die Christdemokraten diejenigen, die sich immer wieder dem Aufruf des sozialistischen Präsidenten verweigerten, eine politische Einigung im Interesse Chiles zu erreichen, wie der sozialistische Präsident unermüdlich vorschlug, als das Land vor der Gefahr eines militärischen faschistischen Putsches stand. Es waren auch die Christdemokraten diejenigen, die während der früheren Regierung von Michelle Bachelet das Scheitern der sogenannten "Concertación democrática" verursachten. Infolgedessen findet keine "Fortsetzung des vormaligen Paktes Concertación" statt. Hier irrt sich der SZ-Journalist Peter Burghardt gewaltig in seinem Artikel "Sanfte Revolutionärin" vom 17.12..
 
Die einstige Concertación mit den Christdemokraten hat an dem neoliberalen kapitalistischen System nicht rütteln wollen. Ganz anders die Kommunistische Partei, die in der Neuen Mehrheit und im Parlament vertreten ist. Es ist auch bemerkenswert, dass die Christdemokraten zur ersten Runde der Präsidentenwahl Mitte November einen eigenen Kandidaten postulierten, wohl wissend, dass sie keine Chance hatten. Was wollten sie allein mit dieser Spaltung erreichen, anstatt sich von Anfang an für die Wende einzusetzen, die Michelle Bachelet mehrheitlich anstrebt? Die schlechten Erfahrungen Chiles mit den Christdemokraten lassen befürchten, dass sie als trojanisches Pferd für das neoliberale System innerhalb der Neuen Mehrheit agieren und die wichtigen Reformen blockieren könnten. Aus ihrem eigenen Machtkalkül heraus und ohne Rücksicht auf das Land sind sie in der Lage, im für sie geeigneten Augenblick zum rechten Lager überzulaufen. Von Patriotismus gibt es bei diesen Leuten keine Spur.
 
Übrigens ist das in Deutschland nicht viel anders, wo sie die treue Vasallentruppe US-amerikanischer Interessen darstellen - mit der NATO als ihre Heilige Kuh. In diesem Zusammenhang ist der Vergleich von Michelle Bachelet mit Angela Merkel beim SZ-Journalist Peter Burghardt nicht nur lächerlich, sondern absolut verkehrt Michelle Bachelet ist eine sozialistische Staatschefin mit Prinzipien. Angela Merkel nicht. Der Sing-Song um Angela Merkel in Chile wurde im rechten Lager gesungen und immer wieder im Fernsehen propagandistisch übertragen mit der Hoffnung, etwas für die Popularität und Wahl der rechten Kandidatin zu tun, die in Chile dann spöttisch als "die Deutsche" bezeichnet wurde und von Anfang an scheiterte. "Chile hat beschlossen, dass dies der Moment für tief greifende Veränderungen ist... Wir, die wir den Wandel wollen, sind eine weitreichende Mehrheit", so die gewählte Präsidentin. Hat jemals Angela Merkel von einem Wandel gesprochen? Nicht nur die Armut im reichsten Land Europas lässt sie kalt ("Das arme Fünftel", SZ, 18.12.), sondern auch die menschlichen Katastrophen, die ihre anmaßende Einmischung in anderen Ländern verursacht hat.
 
Dagegen sind die Kommunisten in der Neuen Mehrheit von Michelle Bachelet eine wichtige Antriebskraft für die erforderlichen Reformen. In Deutschland ist ein solches politisches Panorama nicht vorstellbar. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat noch nicht einmal irgendwann die Initiative ergriffen, mit der Partei DIE LINKE zu sprechen, wie sie es tun müsste, sollte sie wirklich etwas von Demokratie verstehen und den Willen dazu haben, eine Wende in Deutschland im Sinne der sozialen Gerechtigkeit zu schaffen. Sicherlich müsste sich dazu erst einmal eine fortschrittliche Christliche Linke formieren und sich von den Reaktionären in der CDU trennen. Italien hat das beispielhaft geschafft. Das wäre ein Anfang für eine Wende in Deutschland. Aber bisher ist diese politische Entwicklung weit entfernt. Merkels Regierung bleibt beim neoliberalen Dogma genauso wie die postdiktatoriellen christdemokratischen chilenischen Regierungen.
 
Michelle Bachelet dagegen will jetzt im Bündnis mit den Kommunisten die unmenschlichen Schäden des Neoliberalismus sanieren. Tempel des Konsums wie Malls und das „Costanera Center“ in Santiago sind kein Zeichen von Fortschritt, sondern von abstoßenden Exzessen bestimmter Unternehmer und Konzerne in einem Land, wo die Verteilung der Einkommen die ungerechteste von allen südamerikanischen Ländern ist. Hier hat die Regierung von Michelle Bachelet auch eine heikle Aufgabe vor sich. Es ist zu hoffen, dass letztendlich die rechten Parteien die Notwendigkeit der korrektiven Reformen erkennen und sie zum Wohle des Landes unterstützen. (PK)
 
Luz María De Stéfano Zuloaga de Lenkait ist Juristin und Diplomatin a.D. und lebt seit dem Putsch gegen Chiles Präsident Salvador Allende im deutschen Exil.   


Online-Flyer Nr. 438  vom 25.12.2013

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