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Kommentar
Versucht die künftige Regierung, uns für dumm zu verkaufen?
Der Koalitionsvertrag und Israel
Von Anis Hamadeh

Wie wird Deutschlands Politik gegenüber Israel und Palästina in den nächsten Jahren aussehen? Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, SPD und der Regionalpartei CSU widmet dem Thema gegen Ende auf den Seiten 171-172 siebenundneunzig Worte, die im Folgenden analysiert werden sollen. Es beginnt mit dem Satz: "Wir bekennen uns zu der besonderen Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel als jüdischem und demokratischem Staat und dessen Sicherheit." (1)

Angela Merkel mit Netanjahu bei Ihrem Knesset-Besuch: Deutschland und Israel vertreten dieselben Werte
NRhZ-Archiv
 
Dass Deutschland aufgrund des Genozids eine besondere Verantwortung für die Menschenrechte hat, ist unbestritten. Das Bekenntnis gilt hier allerdings einem Staat, und zwar einem paradoxen. Wie soll ein Staat gleichzeitig jüdisch und demokratisch sein, wenn zwanzig Prozent der Bürger nicht jüdisch sind und mehrere Millionen nicht jüdische Bewohner unter gewaltsamer Besatzung leben?
 
Gerade jetzt, zum Beispiel, wird über die Umsetzung des von der Knesset genehmigten Prawer-Plans diskutiert, nach dem etwa 40.000 Beduinen aus dem Negev zwangsumgesiedelt, also vertrieben werden sollen. Es handelt sich dabei um die größte Landnahme seit der Staatsgründung, größer als die Fläche, die durch die Mauer "gewonnen" wurde oder den kontinuierlichen Ausbau der illegalen Siedlungen in der Westbank und in Ost-Jerusalem.
 
Die Gesetze in Israel gelten nicht für alle Bürger gleich: Jeder Jude aus Brooklyn oder Moskau kann israelischer Staatsbürger werden, während etwa die vertriebenen Palästinenser - mit Abstand die größte Flüchtlingsgruppe der Welt - ihr unveräußerliches und verbrieftes Recht auf Rückkehr nicht wahrnehmen dürfen. Es gibt mehr als fünfzig Gesetze in Israel, die Juden bevorzugen. (2) Die Trennung von Juden und Nichtjuden wird vom Staat befördert, selbst bei Heiraten. Israel hat gewiss demokratische Elemente, aber eine zeitgemäße Demokratie ist es sicherlich nicht.
 
Die kommende deutsche Bundesregierung bekennt sich also zu diesem System "und dessen Sicherheit", womit wahrscheinlich eine diplomatische Immunität gemeint ist, denn die oben gezeigten Beispiele machen deutlich, dass die israelische Politik Konflikte schafft und sich weit außerhalb des Rahmens von internationalem Recht und den Menschenrechten bewegt. Der Hauptgrund dafür liegt darin, dass israelische Militärs und Politiker von der Weltgemeinschaft noch nie zur Verantwortung gezogen wurden und sich also in ihrem Handeln bestärkt fühlen können. Eine solche Politik führt allerdings zu Unsicherheit, nicht zu Sicherheit.
 
Weiter heißt es im Text: "Das Existenzrecht und die Sicherheit Israels sind für uns nicht verhandelbar." Der Begriff "Existenzrecht" ist eigens für Israel erfunden worden. Er erinnert an den Genozid und verschiebt die großdeutsche Schuld in den Nahen Osten, weil er impliziert, dass nun andere die Rolle der Nazis übernommen haben, und dass Länder wie Deutschland nun auf der richtigen Seite stehen und Juden beschützen. Deshalb ist es so leicht, sich Palästinenser als Terroristen vorzustellen und nicht als ein unterdrücktes Volk ohne Rechte. Israel ist allerdings das bei weitem höchstgerüstete Land der Region und hat neben dem militärischen einen expansiven Charakter. Existenzrecht, Sicherheit ... was genau ist da also nicht verhandelbar für die deutsche Bundesregierung? Der Zionismus, der von uns ohne Hinterfragen mit dem Judentum gleichgesetzt wird? Der Status Quo von Landnahme, staatlichen Tötungen, Segregation, Ausbeutung und Unterdrückung? Die israelische Ablehnung eines Nuklearwaffen-freien Nahen und Mittleren Ostens? Widerspricht das nicht eklatant dem deutschen Grundgesetz? Weiter geht es:
 
"2015 feiern wir das 50-jährige Jubiläum der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zum Staat Israel. Dieses Jubiläum wird die Bundesregierung angemessen würdigen." Angemessen wäre eine kritische Würdigung, was aber nicht zu erwarten ist, denn das Verhältnis ist von Bekenntnissen geprägt, nicht von der aktuellen politischen Situation. Bekenntnisse wie auch der nächste, hohle Satz: "Deutschland und Europa haben ein hohes Interesse an Frieden und Stabilität im Nahen und Mittleren Osten." Wenn das so wäre, würde Deutschland Gerechtigkeit einfordern und die Eskalation nicht durch einseitige Unterstützung des Stärkeren noch schüren. Das Land steuert in weitaus größere Katastrophen, wenn wir nichts unternehmen.
 
Der Schlusssatz lautet: "Unser Ziel ist eine Zweistaaten-Lösung mit einem Staat Israel in anerkannten und dauerhaft sicheren Grenzen sowie einem unabhängigen, demokratischen und lebensfähigen palästinensischen Staat, die Seite an Seite in Frieden und Sicherheit leben." Auch dieser Satz ist bedeutungslos und anachronistisch. Inzwischen ist das palästinensische Gebiet so klein geworden, dass ein lebensfähiger Staat dort schon technisch gar nicht mehr möglich ist. Es ist ein Oslo-Satz und Oslo ist tot.
 
Vor zwanzig Jahren hatten Israelis und Palästinenser einen Vertrag unterzeichnet, der zur Schaffung eines palästinensischen Staates führen sollte. Allerdings hat sich die Zahl der illegalen Siedler seit dieser Zeit mehr als verdoppelt und die palästinensische Wirtschaft wurde durch verschiedene Maßnahmen fast zum Erliegen gebracht. Gleichzeitig ist Israel der einzige Staat auf der Welt, der sich hartnäckig weigert, seine Grenzen festzulegen, da die Expansion zu einem konstitutiven Element der israelischen Identität zu gehören scheint, wie ein Blick auf die Geschichte verdeutlicht. Und wenn Deutschlands "Ziel" wirklich ein demokratischer palästinensischer Staat wäre, hätte man wohl kaum das Wahlergebnis von 2006 ausgehebelt, die letzte demokratische Wahl in Palästina. Die heutige "Regierung" ist nicht durch Wahlen legitimiert und nur deshalb aktiv, weil sie mit Zuckerbrot und Peitsche vom Ausland unterstützt wird, eben auch von Deutschland. Deshalb findet Mahmud Abbas auch lobende Worte für Merkel. Spätestens seit den WikiLeaks-Enthüllungen vor knapp drei Jahren gilt dieses Regime vielen Analysten als Kollaborationsregierung.
 
Keine Überraschung
 
Der Koalitionstext zu Israel ist keine Überraschung. Man erinnere sich an Merkels realitätsferne Bemerkung vor der Knesset, dass Deutschland und Israel dieselben Werte vertreten würden. Als gebe es bei uns eine Besatzung, als würden wir als Staat politische Gegner routinemäßig töten, als würden wir Tausende Olivenbäume abholzen und Kinder verhaften. Man erinnere sich auch an Gabriels Besuch in Hebron und seine Israel-kritischen Bemerkungen, die er angesichts des Schreckens, dessen er Zeuge wurde, nicht unterdrücken konnte. Die Sache endete nach dem routinemäßigen Antisemitismusvorwurf in einer demutsvollen Umkehr des Politikers, der in einer Rundmail bekannt gab, dass er sich künftig stärker mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland abstimmen würde. Für viele Beobachter hat sich Gabriel damit zum Narren gemacht; für eine Spitzenposition in einer großen deutschen Partei ist dies aber anscheinend notwendig.
 

Sigmar Gabriel kurz nach seinem Hebron-Besuch
NRhZ-Archiv
 
Mit dem Koalitionstext über Israel zeigt die künftige Bundesre-gierung, dass sie den Realitäten hinterher-hinkt, denn fortschritt- liche Politiker sind heute nicht mehr "Lösungs"- orientiert, sondern Rechte-orientiert. Bestehendes Recht umzusetzen ist das Gebot der Stunde, denn nur so kann ein Frieden entstehen und nur so kann Israels Sicherheit garantiert werden. Der Text ist ein Relikt aus früheren Jahrzehnten und ein nicht wechselndes grünes Licht für das israelische Militär. Daran konnten weder der Massenmord in Gaza etwas ändern, der - wie hinreichend belegt ist - keine Verteidigungsaktion war, noch die Tatsache, dass führende israelische Geheimdienstleute inzwischen öffentlich verkünden, dass ihre Taktiken auch Nazi-Methoden einschließen - im Film "Gatekeepers" von 2012, deutscher Titel: "Töte zuerst!". Bei all dem darf nicht vergessen werden, dass Palästina keine Armee hat und damit dem israelischen Militär fast wehrlos ausgeliefert ist. Ob die Palästinenser ihren Widerstand gewaltlos gestalten - was weitgehend der Fall ist - oder sich gewaltsam verteidigen - was völkerrechtlich erlaubt ist, außer gegen Zivilisten -, es ändert nichts an der fürchterlichen Situation, die dringend geändert werden muss.
 
Gesellschaftliche Wirkung
 
Der kurze Text, den man ohne weiteres als anti-demokratisch und als anti-palästinensisch bezeichnen kann, betrifft nicht nur Israel und Palästina, sondern auch das Verhalten in der deutschen Gesellschaft. Gabriel, der Hebron vor Ort als "rechtsfreien Raum für Palästinenser" bezeichnet hat und der "keinerlei Rechtfertigung" für die israelische Politik gelten ließ, hat diesen Koalitionsvertrag unterschrieben. Er hat jetzt Angst davor, Israel zu kritisieren, und dieses Gefühl projiziert er auf sein Publikum. (Merkel hat die Unterordnung unter die USA und Israel schon lange verinnerlicht und erkannt, wie sehr der Vasallen-Status ihre Machtposition stärkt.) Angst ist kein guter Ratgeber und auf eine Gesellschaft wirkt sie lähmend. Mancher hier zu Lande redet sich ein, mit diesem Verhalten die Schuld des Nationalsozialismus abarbeiten zu können, doch hält diese lächerliche Vorstellung keiner Analyse stand.
 
Die gesellschaftliche Wirkung des Israel-Tabus wird weit unterschätzt, schon weil ein Tabu per Definition weitgehend im Unterbewussten stattfindet und damit nicht inhaltlich reflektiert wird. Israel wird ausgeklammert, in Bekenntnisse einzementiert, da ist keine Bewegung. Man kommt gar nicht erst auf den Gedanken zu fragen, wie eine Alternative aussehen könnte, denn beim Wort "Alternative" erscheinen ziemlich schnell - und zu Unrecht - das Angst- und Machtwort "Antisemitismus" und die Selbstzensur. So kann es passieren, dass inzwischen selbst die USA, die Israel jährlich ohne Gegenleistung und ohne Not Waffen im Wert von drei Milliarden Dollar schenken, zu einer kritischeren Haltung gegenüber Israel tendieren, während Deutschland mal wieder in seiner Geschichte pappen bleibt und den Zug verpasst.
War Erich Fried vielleicht kein großer Dichter? Hat sich Einstein so getäuscht in seiner Kritik des Zionismus? Ist Jimmy Carters Buch ein Wahn? Irrt sich die UNO tatsächlich so gewaltig? Sind die YouTube-Videos alle gefälscht? Stimmen die täglichen Nachrichten auf www.theheadlines.org und dem Palästinaportal nicht? Oder versucht die künftige Bundesregierung schlicht, uns in einer Zeit militärischer Eskalation für dumm zu verkaufen? Wundert sich irgendjemand darüber, dass Politikern und Journalisten so wenig Vertrauen entgegen gebracht wird? Und wenn sie über Israel lügen und damit durchkommen, warum sollten sie dann nicht auch anderswo lügen?
 
Viele verantwortungsbewusste Intellektuelle, Christen und Künstler in Deutschland teilen diese Kritik und verlangen Gerechtigkeit. Nach der Logik des Tabus müssen sie marginalisiert werden. Also wird zum Beispiel die exzellente und seriöse Nakba-Wanderausstellung über die Entrechtung und Vertreibung der Palästinenser 1948 seit Jahren denunziert und angegriffen, unbequeme Journalisten ebenso und viele andere. Unsere Meinungsfreiheit ist deutlich eingeschränkt, da berufliche und soziale Nachteile zu befürchten sind, wenn man sich mit diesem Thema beschäftigt und dabei nicht der fragwürdigen Staatsräson folgt, die im vorliegenden Koalitionstext neu formuliert ist.
 
Das ist aber längst nicht alles. Ein Erich Fried oder ein Albert Einstein sind derzeit bei uns gar nicht möglich! Da würde sich sofort der Zentralrat einschalten und die üblichen verdächtigen Zionisten, Journalisten und Politiker. Unser Land verliert sich in Oberflächlichkeit und Selbstverdummung auf Kosten progressiver Kräfte, die bei diesem bösen Spiel nicht mitmachen können und wollen. Auch darüber sollten wir nachdenken. (PK)
 
(1) Quelle: welt.de
(2) siehe http://adalah.org/eng/Israeli-Discriminatory-Law-Database
 
 
Mehr vom Autor Anis Hamadeh finden Sie unter http://www.anis-online.de/1/essays/28.htm
Er ist auch auf Facebook verlinkt.
 


Online-Flyer Nr. 435  vom 04.12.2013

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