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Kommentar
Die neue "Deutsche Frage": Angela Merkel als Kanzlerin Europas?
Schlafende Dämonen
Von Hans Georg

Berlin startet eine neue Offensive zur Festigung seiner Dominanz über die EU und zur Stärkung seiner weltpolitischen Position. "Stimmen" im In- und Ausland nähmen zu, die "in Europa und in der Welt (...) eine starke Rolle Deutschlands" forderten, behauptete Bundespräsident Joachim Gauck vergangene Woche zum diesjährigen Nationalfeiertag. Die Bundesrepublik sei "keine Insel" und dürfe sich in Zukunft nicht mehr "klein mach(en)"; schließlich handle es sich bei ihr um "die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt". Der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker sieht in Gaucks Äußerungen starke Parallelen zu der Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg.

Jean-Claude Juncker: "Die Dämonen sind nicht weg, sie schlafen nur."
NRhZ-Archiv
 
Als Stichwortgeber nennt der Bundespräsident unter anderem den polnischen Außenminister, der schon Ende 2011 "deutsche Führung" forderte, sowie einen prominenten transatlantischen Publizisten, der kürzlich äußerte, nach der Bundestagswahl müsse Berlin in der EU "entschlossener" auftreten. Gaucks Vorstoß ist im außenpolitischen Establishment sorgfältig vorbereitet worden. Während Teile der Eliten in anderen EU-Staaten bereit sind, einer deutschen "Führung" zuzustimmen, kritisieren übergroße Mehrheiten der Bevölkerung in südlichen EU-Mitgliedstaaten die deutsche Dominanz. Die innereuropäischen Machtkämpfe dauern an.
 
Von "Stimmen" gerufen
 
Unter Rückgriff auf überlieferte rhetorische Verschleierungsmuster behauptete Gauck, Deutschland, das zurzeit fast 6.000 Soldaten in mehr als zehn Staaten weltweit stationiert hat und der EU - als ihre stärkste Macht - brutale Sparprogramme diktiert, trete bislang zurückhaltend auf, werde jetzt aber ohne eigenes Zutun in den Vordergrund geschoben: "Manche Nachbarländer" wünschten sich "eine starke Rolle Deutschlands"; es mehrten sich "die Stimmen innerhalb und außerhalb unseres Landes, die von Deutschland mehr Engagement in der internationalen Politik fordern".

Joachim Gauck - Bundespräsident oder Dämon?
NRhZ-Archiv
 
Deutschland sei "bevölkerungsreich, in der Mitte des Kontinents gelegen und die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt"; er lehne es ab, sagte Gauck, "dass Deutschland sich klein macht". Vielmehr sehe er "unser Land als Nation, die (...) 'Ja' sagt zu sich selbst". Deutschland sei "keine Insel"; es solle sich künftig stärker als bisher an der "Lösung" globaler Konflikte - auch militärischer - beteiligen.[1]
 
Die Kanzlerin Europas
 
Gaucks Vorstoß ist im außenpolitischen Establishment Berlins sorgfältig vorbereitet worden. Die Berliner Dominanz in der EU wird seit gut zwei Jahren in Leitkommentaren führender Medien und in Fachpublikationen demonstrativ offen benannt. Anfang 2011 etwa erklärte ein mit dem Bundeskanzleramt bestens vernetzter Publizist Angela Merkel zur "Kanzlerin Europas".[2] Im Juni 2013 äußerte sich der Leiter des Planungsstabes im Auswärtigen Amt, Thomas Bagger, gegenüber dem Washingtoner Think-Tank "Center for European Policy Analysis" über die "Natur der Führung in Europa". Bagger erklärte, in Berlin sei man sich angesichts der "Rufe nach einer aktiveren 'Führungsrolle'" der Bundesrepublik bewusst, dass man aufgrund der deutschen Gewaltgeschichte stets ein gewisses Fingerspitzengefühl bei der Realisierung deutscher Dominanz bewahren müsse. Der britische Publizist Timothy Garton Ash berichtet, Berliner Staatsvertreter räumten - ganz in diesem Sinne - hinter den Kulissen ein: "Wir müssen vortäuschen, Frankreich als ebenbürtig zu behandeln."[3] Dabei sei die ökonomische Vormacht der Bundesrepublik unverkennbar.
 
Gespaltene Eliten
 
Teile der europäischen Eliten stimmen der deutschen Hegemonie in Europa offen zu - und tragen zudem dazu bei, sie durchzusetzen. Eine herausgehobene Rolle als Stichwortgeber für Berlin hat dabei der polnische Außenminister Radosław Sikorski übernommen. Sikorski äußerte im November 2011 bei einem Auftritt vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP): "Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit".[4] Seither wird der offene Ruf nach "deutscher Führung" in der EU in gewissem Maße akzeptiert. Im August hat sich Timothy Garton Ash in einer einflussreichen transatlantischen Zeitschrift über "Die Neue Deutsche Frage" geäußert. Verweisend auf persönliche Gespräche mit der Bundeskanzlerin sowie anderen deutschen Regierungsvertretern behauptete Ash, Deutschland habe die "Führungsrolle in Europa nicht gesucht", habe sie aber - wegen seiner ökonomischen Stärke - objektiv längst inne. Nach der Bundestagswahl werde die Bundesrepublik sich "entschlossener" der Schwierigkeiten in der EU annehmen müssen.[5] Bundespräsident Gauck hat in seiner Rede zum Nationalfeiertag auf Sikorski und auf Ash Bezug genommen: Zu denjenigen, die "von Deutschland mehr Engagement in der internationalen Politik" forderten, gehörten etwa "ein polnischer Außenminister ebenso wie Professoren aus Oxford oder Princeton". Ash ist Professor in Oxford.
 
Mehr als 80 Prozent dagegen
 
In deutlichem Kontrast zu der Zustimmung zur deutschen Dominanz, die Teile der europäischen Eliten erkennen lassen, steht die Meinung übergroßer Bevölkerungs-Mehrheiten in den am meisten unter den deutschen Spardiktaten leidenden Staaten. So sind einer Umfrage vom Juni zufolge rund 82 Prozent der Bürger Italiens sowie gut 88 Prozent der Bürger Spaniens der Ansicht, der Einfluss der Bundesrepublik in der EU sei zu stark. In Frankreich, das ebenfalls in wachsendem Maße von der Berliner Austeritätspolitik getroffen zu werden droht, schließen sich dieser Auffassung inzwischen bereits 56 Prozent der Bevölkerung an.[6] Die Umfrage bezog Portugal und Griechenland nicht ein. Dort kommt es seit geraumer Zeit bei Armutsprotesten zu ungewöhnlich deutlicher Kritik an der deutschen Dominanz über Europa.[7]
 
Kampf um die EU-Außenpolitik
 
Dabei dauern die innereuropäischen Machtkämpfe an. So hat kürzlich ein einflussreiches französisches Nachrichtenmagazin darauf hingewiesen, dass die Bundesrepublik ihre ökonomische Dominanz zunehmend in die Vorherrschaft auch über die EU-Außenpolitik zu transformieren sucht. Es zeige sich spätestens seit dem Streit um die EU-"Mittelmeerunion" von 2008 [8], dass Deutschland die französische Außenpolitik nicht mehr unterstütze, sondern sie immer stärker in Frage stelle und damit die Position Frankreichs in seiner traditionellen Einflusssphäre untergrabe, hieß es kurz vor der Bundestagswahl. Das sei für Paris schon an sich bedrohlich genug; hinzu komme aber, dass Deutschland ganz Europa künftig auch außenpolitisch "als seine eigene Einflusszone" betrachte, wie es das längst auf wirtschaftlichem Gebiet tue, und damit Frankreich noch weiter schwächen werde.[9] Machtkämpfe um die Außen- und Militärpolitik der EU wurden und werden etwa in Libyen, Mali und Syrien geführt; dabei kam und kommt es immer wieder zu massiven deutsch-französischen Streitigkeiten.[10] Bundespräsident Gauck hat letzte Woche den deutschen Führungsanspruch auch in dieser Hinsicht bekräftigt: "Einer meiner Vorgänger, Richard von Weizsäcker, ermuntert Deutschland, sich stärker einzubringen für eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik."[11]
 
Wie vor hundert Jahren
 
Insider warnen davor, das Eskalationspotenzial solcher Machtkämpfe zu unterschätzen. Bereits im März hat der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker öffentlich erklärt, er sehe starke Parallelen zur Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg: "Mich frappiert die Erkenntnis, wie sehr die europäischen Verhältnisse im Jahr 2013 denen von vor 100 Jahren ähneln." Wie schnell bestehende Spannungen eskalieren könnten, hätten etwa die Proteste in Griechenland und in Italien gegen die deutschen Spardiktate gezeigt: "Plötzlich kamen Ressentiments hoch, von denen man dachte, sie seien definitiv abgelegt." Juncker warnte in ungewöhnlicher Offenheit: "Wer glaubt, dass sich die ewige Frage von Krieg und Frieden in Europa nie mehr stellt, könnte sich gewaltig irren. Die Dämonen sind nicht weg, sie schlafen nur."[12] (PK)
 
[1] "Die Freiheit in der Freiheit gestalten"; www.bundespraesident.de
[2] s. dazu Die Kanzlerin Europas
[3] Timothy Garton Ash: The New German Question; www.nybooks.com 15.08.2013
[4] "Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit"; dgap.org 8.11.2011
[5] Timothy Garton Ash: The New German Question; www.nybooks.com 15.08.2013
[6] Adults in Five Largest European Countries Have Mixed Feelings on Their Countries' Influence in the European Union; www.harrisinteractive.com 27.06.2013
[7] s. dazu Nur Missverständnisse
[8] s. dazu Schrumpfende Spielräume, Im Schatten und Kein Gegenpol
[9] Le nouveau défi allemand de la diplomatie; www.lexpress.fr 21.09.2013
[10] s. dazu Der erste Alleingang, Nur ein erstes Signal und Die Allianzen der Rivalen
[11] "Die Freiheit in der Freiheit gestalten"; www.bundespraesident.de
[12] Euro-Krise: Juncker spricht von Kriegsgefahr in Europa; www.spiegel.de 10.03.2013
 
Diesen Beitrag haben wir mit Dank von GERMAN-FOREIGN-POLICY:COM übernommen: http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58703 


Online-Flyer Nr. 427  vom 09.10.2013

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