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Inland
Merkel fordert weiter "Konsequenzen" nach dem Giftgas-Einsatz in Syrien
Die Allianzen der Rivalen
Von Hans Georg

Mit einer Volte reagiert Berlin auf die Ablehnung der Beteiligung an einem Überfall auf Syrien durch das britische Parlament. Hatten Bundesregierung und Opposition noch bis zum vergangenen Donnerstag einmütig "Konsequenzen" aus dem Giftgas-Einsatz nahe Damaskus gefordert und ihre Übereinstimmung mit dem auf Kriegskurs befindlichen britischen Premierminister bekräftigt, so ist nun zu hören, man ziehe "einen Militärschlag nicht in Betracht" (Bundesregierung) und halte "eine militärische Intervention für falsch" (Opposition). Hintergrund sind strategische Spielräume innerhalb Europas, die sich aus der neuen Situation ergeben und mit Syrien selbst nur sekundär zu tun haben.



Der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger
NRhZ-Archiv
Wie die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) festhält, hat die Londoner Entscheidung nicht nur "die 'Special Relationship' mit den USA (...) beschädigt"; dies verschafft Deutschland machtpolitisch neue Vorteile. Darüber hinaus sei auch "die französisch-britische Allianz in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik geschwächt" worden; dies stärkt die Stellung der Bundesrepublik ebenfalls. Trotz der aktuellen außenpolitischen Volte bleiben bellizistische Positionen in Berlin präsent. So dringt beispielsweise der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, in einer neuen Stellungnahme darauf, im Syrien-Krieg für den Westen keine Option "von vornherein auszuschließen" - auch nicht eine Kriegsbeteiligung.
 
Keine Abgrenzung
 
Noch am vergangenen Mittwoch hatte die deutsche Kanzlerin nach einem Telefongespräch mit dem britischen Premierminister David Cameron erklärt, beide seien sich einig gewesen, dass "das syrische Regime (...) nicht hoffen" dürfe, "diese Art der völkerrechtswidrigen Kriegführung ungestraft fortsetzen zu können": Eine internationale Reaktion sei "unabdingbar".[1] Am Donnerstag darauf hatte der SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück geäußert, er teile die Auffassung der Bundesregierung, dass man über "eine schwere Normverletzung des Völkerrechts" wie etwa den Einsatz von Giftgas nicht hinwegsehen könne: "Nur weil Wahlkampf ist, muss man sich da nicht voneinander abgrenzen".[2] Dies war der Stand, als das Unterhaus in London eine militärische Aggression gegen Syrien mit 285 zu 272 Stimmen ablehnte. Das ist für die britische Regierung zwar nicht bindend - doch de facto kann Premierminister Cameron seine Kriegspläne jetzt nicht mehr wie geplant realisieren.
 
Neue Tonlage
 
In Reaktion darauf änderte Berlin dann am Freitag früh, wie es in der Presse höflich heißt, die "Tonlage" [3] - und das parteiübergreifend. Während die Kanzlerin bei der Formulierung blieb, es müssten "Konsequenzen" aus dem Einsatz von Giftgas folgen, und damit verbale Kontinuität wahrte wie auch Optionen offen hielt, erklärte der Außenminister, Deutschland werde sich an einem Angriff auf Syrien keinesfalls beteiligen. Er habe damit für die "gesamte Bundesregierung" gesprochen, bestätigte kurz darauf ein Regierungssprecher: "Wir ziehen einen Militärschlag nicht in Betracht."[4] Fast zeitgleich zog der SPD-Kanzlerkandidat nach: "Ich will für mich und für die SPD ganz deutlich machen, dass wir eine militärische Intervention für falsch halten, weil wir nicht sehen können, dass sie den Menschen in Syrien nützt". Der außenpolitische Konsens in Berlin bleibt also nach wie vor gewahrt, wenngleich die Opposition größere Spielräume hat und offensiver formulieren kann als die Bundesregierung.
 
Beschädigte "Special Relationship"
 
Der vom britischen Parlament erzwungene Kurswechsel Londons bietet Berlin Chancen auf einer Ebene, die mit Syrien nur sekundär verbunden ist. Wie es in einer aktuellen Stellungnahme aus der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) heißt, drückt das Nein des britischen Unterhauses zwar "die Zweifel der Abgeordneten" aus, ob ein Überfall auf Syrien angemessen und zielführend sei. Doch gingen "Beweggründe und Konsequenzen (...) über die Syrien-Politik weit hinaus". Einerseits sei nicht nur in der britischen Öffentlichkeit, sondern auch in der Politik nach dem gescheiterten Irak-Krieg die Zurückhaltung gegenüber kriegerischen Maßnahmen gestiegen. Andererseits werde die wachsende Parlamentskontrolle Wirkung zeigen: "Großbritannien verabschiedet sich von seinem Anspruch, international über seiner 'Gewichtsklasse' aufzutreten, und ein Stück weit auch von seiner Rolle als Juniorpartner der USA." In der Tat sei mit der Entscheidung aus der Nacht zum vergangenen Freitag "die 'Special Relationship' mit den USA (...) beschädigt, die Glaubwürdigkeit der britischen Regierung in Washington in Frage gestellt" worden: "Das oberste Ziel britischer Sicherheitspolitik, bei militärischen Einsätzen der USA militärisch und politisch relevant zu bleiben, um die USA als Schutzmacht in Europa zu halten, ist gescheitert."[5]
 
Geschwächte britisch-französische Allianz
 
Und nicht nur das. Wie es bei der SWP weiter heißt, sei mit dem britischen Parlamentsbeschluss auch "die französisch-britische Allianz in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik geschwächt". Das - im November 2010 förmlich geschlossene - Militärbündnis zwischen London und Paris (german-foreign-policy.com berichtete [6]), das im Libyen-Krieg erstmals offen zutage trat, war von Berliner Regierungsberatern überaus kritisch beobachtet worden. Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) hatte darauf hingewiesen, dass es sich zu einem Gegenmodell zur deutsch-französischen Militärkooperation in der EU, ja sogar zu einer Art Gegenmachtbildung gegen die deutsche Hegemonie zu entwickeln begann; es war sogar von einer gegen Berlin gerichteten "neuen Entente Cordiale" die Rede gewesen.[7] Waren London und Paris zuletzt auch bei den Kriegsplanungen gegen Syrien gemeinsam vorgegangen, so stehe Frankreich nun "mit seiner Bereitschaft, militärisch einzugreifen, in Europa fast alleine da", heißt es bei der SWP.[8] Davon, dass Paris sich isoliert, London aber "sicherheitspolitisch näher an den europäischen Mainstream" rückt - sprich: an die deutsche Position -, profitiert vor allem Berlin.
 
Bellizistische Forderungen
 
Während Bundesregierung und Opposition sich mit einer Volte entsprechend neu positionieren, um die sich abzeichnenden strategischen Verschiebungen im innereuropäischen Mächteverhältnis zu festigen, bleiben bellizistische Positionen in der deutschen Hauptstadt selbstverständlich präsent. Ein Beispiel bietet der aktuelle Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, der in der soeben erschienenen aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift "Internationale Politik" Stellung zum Syrien-Krieg bezieht. Ischinger zufolge sähen "die meistern Beobachter (...) den gegenwärtigen Konflikt in Syrien (...) durch eine Brille, die vor allem durch die Interventionen in Afghanistan und im Irak geprägt" sei. Aus deren Scheitern resultiere Skepsis oder gar Ablehnung gegenüber neuen Kriegen. Dies aber sei falsch. Ischinger verlangt, der Westen müsse sich auch in Syrien auf das Prinzip der sogenannten Schutzverantwortung ("Responsibility to Protect", R2P) [9] beziehen und, sofern machbar, bewaffnet intervenieren; es sei "politisch unverantwortlich, bestimmte Optionen von vornherein auszuschließen". Verzichte man prinzipiell auf kriegerische Maßnahmen, komme dies "moralisch wie politisch eine(r) Bankrotterklärung" gleich.[10]
 
Nicht-öffentliche Kriegsbeiträge
 
Abgesehen davon steht ohnehin in Frage, ob Berlin im Falle eines von Washington und Paris gestarteten Angriffs auf Syrien tatsächlich abseits stünde. So kreuzt gegenwärtig - zum wiederholten Male - ein deutsches Flottendienstboot, die "Oker", im östlichen Mittelmeer. Die Flottendienstboote der Kriegsmarine sind mit modernster Spionagetechnik ausgerüstet, mit der sie unter anderem den Funkverkehr und Bewegungen aller Art an Land "aufklären" können. Wie Experten bestätigen, ist daran der BND beteiligt, dessen überaus enge Kooperation mit seinen westlichen Partnerdiensten spätestens seit dem NSA-Skandal allgemein bekannt ist.[11] Zudem zeigt die Erfahrung aus dem Irak-Krieg, dass der deutsche Auslandsgeheimdienst selbst dann den NATO-Verbündeten zuarbeitet, wenn Berlin offiziell gegen deren militärische Aktivitäten opponiert.[12] Die tatsächliche deutsche Position im Falle eines US-geführten Überfalls auf Syrien würde sich nicht zuletzt aus dem Umgang mit Erkenntnissen der "Oker" und anderer Spionagemittel ergeben, die als öffentlich nicht wahrgenommener Kriegsbeitrag zu werten sind.
 
Weitere Informationen und Hintergründe zur deutschen Syrien-Politik finden Sie bei german-foreign-policy.com in diesen Artikeln: Marktwirtschaft für Syrien, Schmuggelkontrolleure, The Day After, The Day After (II), Verdeckte Kriegspartei, The Day After (III), The Day After (IV), Im Rebellengebiet, Die Islamisierung der Rebellion, Ein Stellvertreterkrieg, Im Rebellengebiet (II), Im Rebellengebiet (III), Brücke in die islamische Welt, Das Ende künstlicher Grenzen, Im Rebellengebiet (IV), Deutsche Kriegsbeihilfe, Religion und Interesse, Demokratischer Interventionismus, Kriegsrat in Nahost, Wie im Irak und Die militärische Lage. (PK)
 
[1] Merkel und Cameron fordern Konsequenzen für Assad; www.n24.de 28.08.2013
[2] Kein Einsatz für die Kavallerie; www.faz.net 29.08.2013
[3] Ringen um Militärschlag gegen Assad; Frankfurter Allgemeine Zeitung 31.08.2013
[4] Was man sich so wünscht; Frankfurter Allgemeine Zeitung 31.08.2013
[5] Nicolai von Ondarza: Nach dem Nein zum Militäreinsatz in Syrien: Großbritannien vor der außenpolitischen Neuausrichtung; www.swp-berlin.org 30.08.2013
[6], [7] s. dazu Die neue Entente Cordiale
[8] Nicolai von Ondarza: Nach dem Nein zum Militäreinsatz in Syrien: Großbritannien vor der außenpolitischen Neuausrichtung; www.swp-berlin.org 30.08.2013
[9] s. dazu Das Recht des Stärkeren und Westliche Moral
[10] Wolfgang Ischinger: Die syrische Hölle. Warum wir die Lehren aus Bosnien nicht vergessen dürfen; Internationale Politik September/Oktober 2013
[12] s. dazu Der NATO-Bündnisfall und Feindliche Kämpfer
[12] s. dazu Erpressbar und Gardist
 
Diesen Beitrag haben wir mit Dank von
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58677 übernommen


Online-Flyer Nr. 422  vom 04.09.2013

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