NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 26. April 2024  

zurück  
Druckversion

Inland
Nach jahrelanger Unterstützung nun Kritik aus Berlin an Erdoğan
Islamisten als Partner
Von Hans Georg

Die Bundesregierung übt scharfe Kritik an der brutalen Repression gegen die aktuellen Massenproteste in der Türkei. Es dürfe keinesfalls Gewalt gegen Demonstranten angewandt werden, fordert der Menschenrechtsbeauftragte der Regierung, Markus Löning. Ähnlich hat sich bereits zuvor Außenminister Westerwelle geäußert. Wie die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) urteilt, richten sich die Unruhen im Kern gegen die schon seit Jahren andauernde Islamisierung des Landes, die Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan mit Macht vorantreibt.

Montage: ben Okay
 
Erdoğan ist mit seiner Politik lange Jahre von der Bundesregierung unterstützt worden. Noch vor wenigen Wochen hat die Bundesregierung einen "Strategischen Dialog" mit der nun heftig attackierten türkischen Regierung eingeleitet. Die aktuelle Kritik an dieser erfolgt nach einem Machtzuwachs Ankaras, auf den Berlin, um seinen Einfluss zu stabilisieren, einerseits mit Einbindungsbemühungen reagiert, andererseits mit Druck.
 
Zentrale Grundrechte
 
Die Bundesregierung übt scharfe Kritik an der Repression gegen die aktuellen Massenproteste in der Türkei. Bereits am 1. Juni hat der Menschenrechtsbeauftragte der Regierung, Markus Löning (FDP), seiner "Sorge" Ausdruck verliehen und geäußert, "Meinungs- und Versammlungsfreiheit" seien "in einer Demokratie zentrale Grundrechte, die es zu wahren und zu schützen gilt".[1] Jetzt gibt Löning sich erneut "besorgt" und verlangt, es dürfe keinesfalls Gewalt gegen Demonstranten eingesetzt werden.[2] Ähnlich hatte sich bereits Außenminister Westerwelle geäußert und erklärt, die Freiheitsrechte müssten auch in der Türkei geachtet werden.
 
Islamistischer Konformitätsdruck
 
Wie eine aktuelle Stellungnahme aus der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) bestätigt, richten sich die Unruhen im Kern gegen die kontinuierliche Islamisierung der Türkei. Dass Erdoğans Adalet ve Kalkınma Partisi (Gerechtigkeits- und Entwicklungs-Partei) (AKP) im Jahr 2002 an die Regierung kam, war bereits das Ergebnis einer Entwicklung, die vor allem in den 1990er Jahren zum Erstarken einer neuen, islamistisch geprägten Elite zunächst in der Wirtschaft, dann auch in der Politik geführt hatte (german-foreign-policy.com berichtete [3]). Erdoğans Regierung drängt nun, ihre islamistische Machtbasis stets bedienend, die säkularen Kräfte in der Türkei systematisch zurück. "Der AKP-Regierung wird vorgeworfen, staatliche Aufträge bevorzugt an eine Unternehmerschicht zu vergeben, deren Wertesystem im Islam verwurzelt ist", heißt es nun bei der SWP; "religiös-konservative Menschen werden bei der Besetzung staatlicher Ämter bevorzugt und traditionelle Lebensstile zunehmend in der Öffentlichkeit sichtbar." Zugleich "wird die Meinungsfreiheit missachtet, säkular-linksliberale Journalisten werden eingeschüchtert". Besonders stark sei "der konservative Konformitätsdruck" in Provinzstädten; er richte sich dort vor allem gegen Nichtmuslime und gegen Aleviten. "Ein Großteil der Protestierenden gehört zu diesen Bevölkerungsgruppen", berichtet der Autor.[4] Ihre Befürchtungen müssten sehr ernst genommen werden.
 
Von Berlin unterstützt
 
Berlin hat die Regierung Erdoğan lange Zeit entschlossen unterstützt - gerade auch in kritischen Phasen. Hintergrund waren die Verhandlungen über den EU-Beitritt der Türkei und besonders die, wie die SWP schrieb, von der EU verlangte "Anpassung nationaler Verhältnisse an den in der EU vorherrschenden Standard" im Rahmen der Verhandlungen.[5] Bei den alten kemalistischen Eliten bissen Berlin und Brüssel mit ihren Anpassungsforderungen auf Granit; diese hätten geäußert, die EU verlange "nicht akzeptierbare Veränderungen im politischen Selbstverständnis der kemalistischen Republik", hieß es damals bei der SWP. Gefügig erwies sich hingegen die AKP, die ihre Stellung im Land noch nicht gefestigt hatte und deshalb bei ihrem Machtkampf gegen die alten kemalistischen Eliten auf Unterstützung auch aus dem Ausland dringend angewiesen war. Als im Frühjahr 2007 im Streit um die Präsidentenwahlen eine Art kalter Putsch gegen den Kandidaten der AKP drohte - den heutigen Staatspräsidenten Abdullah Gül -, da intervenierte Berlin entschlossen zu dessen Gunsten. Gül sei ihm durch seine Tätigkeit als Außenminister bestens bekannt, teilte der damalige deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) mit: Gül werde in Zukunft "auch als Präsident der Türkei seine erfolgreiche Arbeit fortsetzen". "Die AKP kann eine weit bessere Bilanz ziehen als ihre Vorgängerregierungen", lobte damals auch die Parteivorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Claudia Roth.[6]
 
Stärker und unabhängiger
 
Parallel zur Festigung ihrer Stellung in der Türkei und zu beträchtlichen außenpolitischen Erfolgen hat die Gefügigkeit der Regierung Erdoğan in den letzten Jahren jedoch nachgelassen. Im Inneren hat sich die AKP-Regierung mittlerweile solide und dauerhaft stabilisieren können. Basierend auf dem Konzept der "Strategischen Tiefe" [7], das der langjährige Erdoğan-Berater und heutige Außenminister Ahmet Davutoğlu entwickelt hat, ist es Ankara inzwischen zudem gelungen, seinen Einfluss vor allem in der islamischen Welt erkennbar auszubauen. Damit hat sich das Gewicht des Landes in der internationalen Politik deutlich erhöht. Gleichzeitig hat die ökonomische Bedeutung der EU für die Türkei - auch bedingt durch die Euro-Krise - drastisch abgenommen.[8] Aktuell kommt hinzu, dass Ankara von dem drohenden Zerfall Syriens stark profitieren könnte: Überlegungen, die kurdischsprachigen Gebiete Nordsyriens und wohl auch des Nordirak mit den kurdischsprachigen Gebieten der Türkei innerhalb eines türkischen Föderalstaats zusammenzuschließen, werden zur Zeit offen diskutiert (german-foreign-policy.com berichtete [9]). Kommt es dazu, dann gewönne Ankara noch mehr Macht.
 
Zuckerbrot und Peitsche
 
Berlin hat auf die neue Stärke der Türkei immer wieder mit Druck, zuletzt aber auch mit einem Einbindungsversuch reagiert. Im Mai haben die Außenminister beider Länder eine "Gemeinsame Erklärung" verabschiedet, die einen langfristig angelegten "Strategischen Dialog" vorsieht. Unter anderem werden sich die Außenminister künftig "mindestens einmal im Jahr" treffen.[10] Auch sollen Arbeitsgruppen zu unterschiedlichen Themen gebildet werden, darunter nicht zuletzt solche, die sich mit repressiven Belangen beschäftigen, etwa mit dem "Anti-Terror-Kampf". Deutsche Stellen werden in diesem Zusammenhang voraussichtlich die Kooperation mit türkischen Stellen vorantreiben, die sie derzeit wegen ihres brutalen Vorgehens gegen die Demonstranten lauthals kritisieren. Dabei ist die Regierungs-Kritik ohnehin erkennbar taktisch motiviert: So ließ der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung sich nicht vernehmen, als am 1. Juni die deutsche Polizei in Frankfurt am Main gut 900 friedliche Demonstranten grundlos einkesselte, sie stundenlang festhielt und das "zentrale Grundrecht" auf Versammlungsfreiheit, das Löning jetzt für die Türkei einfordert, im eigenen Land ignorierte. Die Berliner Kritik an Erdoğans Regierung erfolgt präzise zu einem Zeitpunkt, da Ankaras Stärke den deutschen Einfluss zu schwächen droht. Sie hilft der Bundesregierung, die AKP in die Schranken zu weisen. (PK)
 
[1] Menschenrechtsbeauftragter Löning zu Demonstrationen in der Türkei; www.auswaertiges-amt.de 01.06.2013
[2] Löning äußert sich besorgt über Polizei-Einsatz in der Türkei; www.dradio.de 11.06.2013
[3] s. dazu Anatolische Werte, Die neuen Partner in Ankara (I) und Die neuen Partner in Ankara (II)
[4] Yaşar Aydın: Radikalisierung des Kulturkampfes in der Türkei; www.swp-berlin.org 06.06.2013
[5], [6] s. dazu Anatolische Werte
[7] s. dazu Die neuen Partner in Ankara (I) und Die neuen Partner in Ankara (II)
[8] s. dazu Freunde, kommt zu uns!
[9] s. dazu Brücke in die islamische Welt und Das Ende künstlicher Grenzen
[10] s. dazu Brücke in die islamische Welt

Diesen Beitrag haben wir mit Dank von http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58622 übernommen

 


Online-Flyer Nr. 411  vom 19.06.2013

Druckversion     



Startseite           nach oben

KÖLNER KLAGEMAUER


Für Frieden und Völkerverständigung
FOTOGALERIE