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Globales
Betrachtung zu einer post-kapitalistischen (menschlichen) Gesellschaft
Die drei Säulen
Von Elias Davidsson

In diesem Beitrag wird ein Versuch unternommen, die wichtigsten Eigenschaften einer post-kapitalistischen Gesellschaft aus der Praxis des heutigen anti-imperialistischen Kampfes abzuleiten. Mit anti-imperialistischem Kampf ist nicht bloß jener Kampf gemeint, der sich gegen den Imperialismus richtet, sondern jegliche Bekämpfung der bekannten Auswüchse des Imperialismus. Unter anti-imperialistischem Kampf verstehe ich daher auch Arbeit für den Frieden, den Klassenkampf, die Verteidigung der nationalen Souveränität, die Bewahrung des Kulturerbes und der Sprachen, den Naturschutz, die Bewahrung der Privatsphäre, usw. Alle diese Kämpfe schwächen den Imperialismus.


Foto: arbeiterfotografie.com

Bei meinen Überlegungen möchte ich traditionelle Begriffe der Linken, insbesondere Sozialismus und Kommunismus, aussparen. Dafür gibt es zwei Gründe. Der erste Grund beruht auf einer schlicht pragmatischen Erwägung: Diese Begriffe, die viele von uns so schätzen, wirken auf beträchtliche Teile der heutigen Bevölkerung abstoßend. Um eine positive Rezeption einer Zukunftsvision zu fördern, ist es geboten, nicht mit politisch negativ besetzten Begriffen zu arbeiten. Der zweite Grund ist ein prinzipieller: Die Bezeichnung einer post-kapitalistischen Gesellschaft als sozialistisch oder kommunistisch ist meines Erachtens unvollständig, denn eine solche Gesellschaft soll nicht nur soziale Gerechtigkeit gewährleisten, sondern darüber hinaus noch zwei andere Bedingungen erfüllen, die der Kapitalismus nicht erfüllen kann, nämlich das Respektieren der Wahrheit und Nachhaltigkeit. Die Begriffe Sozialismus und Kommunismus weisen in erster Linie auf Gerechtigkeit hin. Gerechtigkeit ist zwar eine der Voraussetzungen für eine post-kapitalistische Gesellschaft aber nicht die einzige.

Vorübergehend bezeichne ich die post-kapitalistische Gesellschaft als “menschliche Gesellschaft”. Eine menschliche Gesellschaft muss selbstverständlich gerecht sein und daher auf dem kommunistischen Prinzip beruhen, nämlich „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ Aber eine menschliche Gesellschaft muss auch dem Wahrheitsprinzip verpflichtet sein und dem Prinzip der Nachhaltigkeit, dem Aufrechterhalten der menschlichen Spezies und der Natur. Daher entspricht der Begriff einer menschlichen Gesellschaft heute besser unseren Bedürfnissen und Vorstellungen.

Und noch eine zweite Vorbemerkung möchte ich vorausschicken: Der anti-imperialistische bzw. anti-kapitalistische Kampf soll hier nicht gerügt werden. Diesen Kampf führen wir selbstverständlich weiter. Aber dieser ist im Grunde nur ein Mittel zum Zweck, nicht ein Selbstzweck. Menschen, die sich ständig oder hauptsächlich nur auf ihren Kampf gegen ein Übel konzentrieren, laufen Gefahr, ihr Ziel zu verkennen bzw. zu vergessen, und können daher leichter abgelenkt werden. Das hat das deutsche Volk erlebt, als es der Demagogie der Nazis ausgesetzt war. Die positiven Ziele des anti-imperialistischen Kampfes sollen daher immer den Kampf bestimmen und die wichtigste Motivation für das Überzeugen unserer Mitmenschen darstellen. Schon aus diesem Grund gebietet sich eine programmatische Aufarbeitung der Grundlagen einer post-kapitalistischen menschlichen Gesellschaft.

Wie ich schon angedeutet habe, versuchte ich, die Hauptübel des Spätkapitalismus zu erfassen und aus diesen die ethischen Grundsätze einer post-kapitalistischen Gesellschaft abzuleiten. Ich glaube nicht, dass ich hier verpflichtet bin, ethische Werte zu verteidigen. Denn jede nicht eigennützige politische Tätigkeit beruht schon im Ansatz auf ethischen Grundlagen.

Nach meiner Auffassung kann man sämtliche Übel des Kapitalismus unter drei Begriffe zusammenfassen: Betrug, Ungerechtigkeit und Zerstörung. Ich möchte nun kurz erklären, was ich damit meine.

Betrug

Mit Betrug meine ich, dass der Kapitalismus nur durch Lügen funktionieren kann. Es wird gelogen, um soziale Missstände zu vertuschen; es wird gelogen, um überflüssige Waren zu verkaufen; es wird gelogen, um Kriege zu führen, usw. Der Kapitalismus ist mit der Wahrheitsfindung und der Transparenz der Institutionen nicht vereinbar.

Ungerechtigkeit

Mit Ungerechtigkeit meine ich nicht nur die bekannten und unerträglichen sozialen Unterschiede im Einkommen und Vermögen zwischen Menschen, Gruppen, Regionen und Nationen, sondern auch andere Erscheinungsformen der Ungerechtigkeit, wie die Beeinträchtigung der grundsätzlichen persönlichen Freiheiten, Rassismus oder Eingriffe in die Privatsphäre, wie z.B. polizeiliche Schnüffelei und die Sammlung von personenbezogenen Daten. Auch Kriegsführung fällt unter den Begriff der Ungerechtigkeit, denn es ist ungerecht, Menschen zu töten oder ihren Besitz zu zerstören.

Zerstörung

Mit Zerstörung meine ich nicht nur materielle Zerstörung von Gegenständen im Krieg oder die geplante Zerstörung von Produkten als Lösung von Überproduktion, sondern auch die schleichende Zerstörung der Natur, des kulturellen Erbes der Völker, der menschlichen Fertigkeiten und Beziehungen, und der Gesundheit, z.B. durch unangemessene Nahrung oder ein ungesundes Leben.

Hunderte, wenn nicht Tausende von Vereinigungen und Gruppierungen kämpfen heute gegen die vielfältigen Übel der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die ich in drei Sammelbegriffe zusammengefasst habe. Zwei wichtige Gründe für die Zersplitterung dieser Kräfte und ihrer Wirkungslosigkeit sind erstens die begriffliche Verwirrung. Als Beispiel dafür sei erwähnt, dass die Friedensbewegung sich nicht als Teil des Kampfes für Gerechtigkeit versteht, obwohl der Kampf gegen Kriege in erster Linie darauf beruht, dass die Tötung von Menschen ungerecht ist. Der zweite Grund dieser Zersplitterung ist das Fehlen einer integrierenden Zukunftsvision.

Im täglichen Kampf gegen die Übel des Imperialismus und des Kapitalismus vergisst man leicht, warum man kämpft. Aber auch Debatten über eine Zukunftsgesellschaft bleiben oft in einem engen Pragmatismus stecken. Wirtschaftliche und politische Strukturierung der Zukunftsgesellschaft sollen – ich möchte das betonen – als Mittel zum Zweck und nicht als Selbstzweck betrachtet werden. Der Zweck ist eine gesellschaftliche Vision, und diese Vision muss im Klartext artikuliert werden. Auf welchen ethischen Werten soll diese Gesellschaft beruhen? Welche ethischen Werte werden ständig vom Kapitalismus verletzt?

Ich empfehle hiermit eine einfache Umkehrung der drei Hauptübel des Kapitalismus als Leitsätze einer post-kapitalistischen und menschlichen Gesellschaftsordnung. Stichwortartig sind diese Leitsätze Wahrheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Was ich damit meine, wird im Folgenden erläutert:

Wahrheit

Der Begriff Wahrheit soll hier nicht philosophisch, sondern politisch verstanden werden. Er verweist auf drei politische Anwendungen:

Erstens sollen Amtsträger zur Wahrheitsfindung verpflichtet werden. Ob in der Politik, der Wirtschaft oder der Justiz sollen sie darauf verpflichtet werden, ihre Entscheidungen anhand nachweislicher Tatbestände zu begründen. Ein Betrug der Öffentlichkeit sollte nicht geduldet werden.

Zweitens sollen Medienvertreter verpflichtet werden, dem Wahrheitsgebot bei der Berichterstattung zu folgen. Diese Pflicht ist im Journalisten-Kodex zwar enthalten, sollte aber durch Gesetze erhärtet werden.

Drittens soll die Bevölkerung grundsätzlich Zugang und Einsicht in alle öffentlichen Akten haben, was man als Transparenz bezeichnet. Vertreter des Volkes und öffentliche Amtsträger sind Diener des Volkes, die von Steuergeldern bezahlt werden, und müssen daher ihre Tätigkeit ihrem Arbeitgeber – dem Volk – gegenüber offen legen. Mit wenigen und vom Volk demokratisch bewilligten Ausnahmen sollen Bürger ihre Rechte auf Information genießen, denn nur eine hochgradige Transparenz des öffentlichen Lebens kann die Demokratie dauerhaft gewährleisten. Das heutige Informationsfreiheitsgesetz stellt eine Karikatur dieses Rechts dar.

Gerechtigkeit

Mit Gerechtigkeit sind – wie schon angedeutet wurde – nicht nur weitgehende soziale Gerechtigkeit gemeint, sondern sämtliche Menschenrechte, darunter das Recht auf Frieden, auf grundsätzliche Freiheiten und auf weitere Rechte, die noch zu erkämpfen sind. Es ist anzumerken, dass Gerechtigkeit historisch nicht für alle Ewigkeit definiert wird. Was gerecht ist, mag je nach Entwicklungsgrad der Gesellschaft umstritten sein. Darüber hinaus ist eine absolute Gerechtigkeit nicht erreichbar – schon wegen des Unterschiedes zwischen den Menschen, der Unterschiede hinsichtlich Konstitution, Alter, Geschlecht, Anlage, Erziehung, Bedürfnissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten usw. Oft müssen Rechte einer Gruppe mit den Rechten einer anderen Gruppe abgewogen werden, wobei nur eine relative Gerechtigkeit möglich ist. Der Grundsatz der Gerechtigkeit ist aber ein Leitfaden, der politische und wirtschaftliche Entscheidungen immer begleiten und durchdringen sollte.

Nachhaltigkeit

Der Begriff Nachhaltigkeit soll umfassend verstanden werden. Damit ist nicht nur ein sorgfältiger Umgang mit der Natur gemeint, sondern auch Respekt gegenüber der Vielfalt der Kulturen und Sprachen, der Pflege der menschlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten, der Fürsorge für zukünftige Generationen und die Förderung des gesunden Lebens.

Man wird nun mit Recht fragen, wie diese Begriffe im politischen Umfeld umgesetzt werden können? Mit einem Beispiel des politischen Einsatzes möchte ich meinen Beitrag beenden.

Man könnte sich z.B. vorstellen, dass wichtige Entscheidungen der Parlamente, Regierungen und wirtschaftlicher Instanzen von drei permanenten Ausschüssen überprüft werden - hinsichtlich Wahrheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Diese Ausschüsse könnten z.B. direkt vom Volk gewählt werden. Darüber hinaus könnte man sich auch Gesetze vorstellen, die einen wirksamen Zugang der Bevölkerung zur Information gewährleisten, Journalisten zur Wahrheitstreue verpflichten, Kriegshetze und Rassismus verbieten, die Konzentration von persönlichem Vermögen verhindern, einen gesunden Lebensstil fördern, usw.

Die Vision von einer post-kapitalistischen und menschlichen Gesellschaft zu entwerfen, ist meines Erachtens weder ein utopisches noch ein verfrühtes Unternehmen.  Diese Vision existiert bereits als Negativum in der Bekämpfung des Imperialismus und des Kapitalismus. Es bleibt uns nur die Aufgabe, diese Vision mit positiven Begriffen zu ergänzen. Eine solche Vision ist heute gefragter denn je. Um Zynismus oder Resignation zu verhindern, sollte eine solche Vision die Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft beleben. Eine positive Vision von der post-kapitalistischen Gesellschaft könnte den Kampf gegen Imperialismus und Kapitalismus beflügeln. (PK)


Elias Davidsson ist Komponist, Musiker und Menschenrechtsaktivist. Er wurde 1941 in Palästina als Sohn jüdischer Eltern geboren, die ihre Heimat Deutschland im Rahmen des zwischen Nazis und Zionisten geschlossenen Ha'awara-Abkommens verlassen hatten und nach Palästina ausgewandert waren. 1962 ging er nach Island. Als Rentner kehrte er in die Heimat seiner Eltern zurück und lebt seither in Bonn. Im Zentrum seines politischen Betätigungsfelds steht das Thema Menschenrechte und Terrorismus.


Vorab-Veröffentlichung aus der Quartalsschrift DAS KROKODIL, Ausgabe 5 (Juni 2013) – Grundsatzschrift über die Freiheit des Denkens – bissig – streitbar – schön und wahr und (manchmal) satirisch.



Mehr dazu und wie es sich bestellen lässt, hier: http://www.das-krokodil.com/


Online-Flyer Nr. 404  vom 01.05.2013

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