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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Inland
Ministerpräsident hetzt gegen Kurden und Eziden und missachtet das Völkerrecht
Proteste gegen Erdoğan-Besuch in Berlin
Von Martin Dolzer

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan wird in den Tagen vom 29. bis 31. Oktober Deutschland besuchen. Eine breites Bündnis von kurdischen, alevitischen, armenischen, ezidischen und linken türkischen MigrantInnenorganisationen hat zu einer Protestdemonstration am Mittwoch in Berlin aufgerufen. Im Demonstrationsaufruf heißt es: „Die Ereignisse der vergangenen Jahre haben die Ausrichtung der Politik der AKP Regierung deutlich gezeigt. Ministerpräsident Erdoğan steht für eine Politik der Gleichschaltung, für Rassismus, für Assimilation, für die Verfolgung der freien Presse, die Leugnung der Massaker und Genozide der Vergangenheit und für Gewerkschaftsfeindlichkeit. Mittlerweile ist die türkische Regierung zusätzlich zu einer aggressiven und kriegstreiberischen Außenpolitik übergegangen“.
 
Zu der Demonstration rufen sämtliche größeren Dachverbände gemeinsam auf. Dazu gehören u.a. YEK-KOM (Föderation kurdischer Vereine in Deutschland), DİDF (Föderation demokratischer Arbeitervereine), der BDAJ (Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland), der ZAD (Zentralrat der Armenier in Deutschland), TÜDAY (Menschenrechtsverein Türkei/Deutschland), der ZAVD (Zentralverband der assyrischen Vereinigungen in Deutschland und europäische Sektion), der BVDAD (Bundesverband der Aramäer in Deutschland), FDG (Föderation der Dersim Gemeinden), CENÎ (Kurdisches Frauenbüro für Frieden), FEDA (Föderation der Demokratischen Alewiten), YXK (Verband der Studierenden aus Kurdistan) und die FKE (Föderation der Ezidischen Vereine in Deutschland).
 
Erst vor kurzem stellte der in den westlichen Mainstreammedien bisher nur wenig kritisierte Erdoğan seine rassistische Einstellung erneut unter Beweis. In der in den kurdischen Provinzen der Türkei gelegen Metropole Diyarbakir (kurd. Amed) fand am 17. und 18. Oktober eine internationale Eziden-Konferenz mit über 100 Delegierten statt, die von der Glaubens-Kommission des Demokratischen Gesellschaftskongresses DTK veranstaltet wurde. Der Grandseigneur der kurdischen Politik Ahmet Türk, von der Demokratischen Friedenspartei BDP, hielt am 17. Oktober 2012 eine Rede, in deren Rahmen er sich im Namen des DTK u.a. für die Massaker gegenüber den ezidischen Kurden entschuldigte. Die Eziden sind aufgrund der gegen sie in der Türkei begangenen Massaker eine der wenigen Religionsgruppen, die aufgrund religiöser Verfolgung in der BRD Asyl genießen.
 
Am 21.10.2012, bei der Eröffnungsfeier eines Flughafens in Elazig, äußerte sich Erdoğan in Bezugnahme auf die Internationale Eziden-Konferenz und die Entschuldigung Ahmet Türks intolerant und aufhetzend gegenüber der kurdischen Bevölkerung und verletzte die religiöse Integrität der ezidischen Kurden. Der Ministerpräsident sagte: „Stellt Euch gegen diese Terroristen und lasst sie erblinden, denn sie betrachten Euch nicht als Menschen. Aber wir lieben Euch, weil Gott Euch erschaffen hat. Die Terroristen haben nichts mit dem Schöpfer zu tun. Es ist klar wo sie hingehören, sie sind Anhänger Zarathustras. Seht her, sie erklären es selbst, sie sprechen vom Ezidentum. Ihr werdet sehen was dabei herauskommt. Das erfahren wir nun von ihnen selbst, sie organisieren solche religiösen Zeremonien (aus dem vorherigen Kontext geht eindeutig hervor, dass das Treffen der Eziden in Diyarbakir gemeint ist). Meine lieben Geschwister. Selbst wenn jemand Ezide ist, solange er sich nicht am Terror beteiligt, werden wir dem Menschen Wert beimessen, weil er einfach ein Mensch ist.“
 
Als Terroristen bezeichnen R.T. Erdoğan wie auch die graue Eminenz der AKP, Fethullah Gülen, und weitere Regierungssngehörige regelmäßig u.a. sämtliche Menschen die in der Demokratischen Friedenspartei BDP organisiert sind, die mit 31 Abgeordneten im türkischen Parlament vertreten ist und die Mehrheit der Bürgermeister in den kurdischen Provinzen des Landes stellt. Auch Menschenrechtler, Journalisten und Gewerkschafter, die die Regierung kritisieren, werden als Terroristen bezeichnet. 9000 Menschen, darunter 6 Parlamentarier und 35 Bürgermeister, 70 Journalisten und 36 Anwälte, wurden seit 2009 meist wegen freier Meinungsäußerungen, die als Terrorismus deklariert werden, inhaftiert. Erst im September hatte Fethullah Gülen unter Nutzung der gleichen Rhetorik, wie R.T. Erdoğan in seiner jetzigen Rede, zur Vernichtung der politisch aktiven Kurden aufgerufen. Danach kam es zu progromartigen Ausschreitungen in der Türkei und Angriffen auf Kurden in Europa. Auch in Anbetracht der Tatsache, dass momentan viele Eziden in Erwägung ziehen in die Türkei zurückzukehren, ist die Rede Erdoğans als eindeutige Drohung zu verstehen.
 
In einem Offenen Brief der FKE - Föderation der Ezidischen Vereine in Deutschland e.V. an Bundeskanzlerin Merkel wird kritisiert: „Ein Vorgehen in dieser Art und Weise steht unserer Ansicht im Zusammenhang mit der schleichenden Islamisierung der Türkei, die vor allem durch die Politik von Ministerpräsident Erdoğan und der AKP bewusst betrieben wird. Die „Ein-Volk / Eine-Sprache / Eine-Religion-Politik“ ist eine Gefahr für alle in der Türkei lebenden Bevölkerungsgruppen und somit auch ein Angriff auf die Demokratie in Form der nicht vorhandenen Meinungs- und Religionsfreiheit. Religiöse und ethnische Minderheiten werden in der Türkei nach wie vor systematisch diffamiert. Zudem werden ihnen ihre Rechte verwehrt. Wir befürchten eine große Gefahr für die in der Türkei lebenden ezidischen Kurden, da ähnliche Äußerungen des Ministerpräsidenten immer wieder zu Übergriffen bis hin zu Lynchattacken auf die erwähnten Gruppen geführt haben. Sollte es zu Übergriffen kommen, ist ganz klar und deutlich der Premierminister mit seinen Äußerungen dafür verantwortlich - und muss daher auch zur Rechenschaft gezogen werden.“
 
Der Bundestagsabgeordnete und Mitglied in der „Parlamentarischen Versammlung des Europarats“, Andrej Hunko, Die Linke, wandte sich mit einem Brief an den Türkischen Botschafter: „Ich bin noch immer der Hoffnung, dass sich die Ausgangssituation der Eziden in der Türkei verbessern könnte. Dazu wären allerdings andere Signale der Regierung notwendig. Die Fürsorgepflicht hält verantwortliche Mitglieder einer Regierung und somit insbesondere einen Ministerpräsidenten dazu an, Toleranz und gesellschaftlichen Frieden zu bewirken und insbesondere das Völkerrecht zu achten und dessen Umsetzung durchzusetzen. Die Äußerungen von Ministerpräsident Erdoğan könnten im negativen Fall jedoch genau das Gegenteil davon bewirken. Ich bitte Sie hiermit darum, alles im Rahmen Ihrer Möglichkeiten zu unternehmen um etwaige Ausschreitungen gegenüber kurdischen und ezidischen MigrantInnen in der Bundesrepublik zu verhindern. Zudem bitte ich Sie, Ministerpräsident Erdoğan gegenüber zu thematisieren, dass Bundestagsabgeordnete seine Äußerungen kritisieren, da sie den gesellschaftlichen Frieden gefährden – und gleichzeitig hoffen, dass er sich zukünftig dafür einsetzt, dass im Rahmen der Rechtstaatlichkeit und des Völkerrechts (u.a. der UN Charta der Menschenrechte, des UN Zivilpakts und des UN Sozialpakts) die kulturellen- und Grundrechte sämtlicher ethnischer und religiöser Bevölkerungsgruppen in der Türkei anerkannt werden.“ Die Türkei verstößt täglich gegen sämtliche dieser internationalen Verträge und führt die Statistik der Verurteilungen wegen Menschenrechtsverletzungen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte an. Im Jahr 2011 wurden 1555 Fälle von Folter und 29 extralegale Hinrichtungen, sowie mehrere Kriegsverbrechen, darunter auch Chemiewaffeneinsätze angezeigt.
 
Für die Demonstration gegen den Besuch Erdoğans in Berlin werden mehrere tausend Menschen erwartet. Offenbar wollen die MigrantInnenorganisationen die diskriminierende Politik der AKP nicht mehr ohne Widerstand hinnehmen. Sie werfen dem Ministerpräsidenten Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen sowie die Leugnung von Massakern und Genoziden und eine gewerkschaftsfeindliche Politik vor. Zudem kritisieren sie auf schärfste die „kriegstreiberische Politik“ gegenüber Syrien und die ständige Gewalt gegenüber den KurdInnen. „In der Türkei wurden seit der Staatsgründung Oppositionelle verhaftet, gefoltert und Inhaftierte in Gefängnissen ermordet. Die Dunkelziffer der Opfer derartiger Taten liegt weit höher als in den Berichten im Ausland zu lesen ist. Die Geschichte der Türkei ist auch eine Geschichte der psychischen und physischen Vernichtung von politischen Gefangenen. Auch in der Zeit dieser Regierung wird diese Mentalität ungebremst fortgeführt. Mehr als Zehntausend Fortschrittliche, Intellektuelle, Gewerkschaftler, Parlamentarier, Anwälte, Journalisten, Frauenaktivistinnen und gewählte Politiker, überwiegend Kurden, befinden sich aktuell in türkischen Gefängnissen“, begründen sie die Demonstration. „Mehr als 700 Inhaftierte befinden sich derzeit seit 49. Tagen im Hungerstreik. Sie fordern die Aufhebung der Isolationshaft von Abdullah Öcalan und die Gewährleistung seiner Gesundheit, Sicherheit und Freiheit, sowie die umfassende Anerkennung der kurdischen Sprache. Der gesundheitliche Zustand der Hungerstreikenden wird von Tag zu Tag schlechter. Ab dem vierzigsten Tag drohen anhaltende Gesundheitsschäden bis zum Tod. In keinem einzigen demokratischen Land könnte sich ein Premierminister erlauben, einen lebensbedrohlichen Hungerstreik von mehr als 700 Gefangenen zu ignorieren und totzuschweigen. Erdoğan tut dies! Auch dagegen protestieren wir! Wir protestieren gegen R.T. Erdoğan, der das Völkerrecht missachtet und ein Feind der religiösen Vielfalt ist!“, heißt es im Aufruf. (PK)


Online-Flyer Nr. 377  vom 28.10.2012

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