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Kommentar
Beschneidung und Selbstbestimmung des Menschen über seinen Körper
Aus verfassungsrechtlicher Sicht
Von Wolfgang Bittner

Die Debatte um die Beschneidung von Jungen ist an Peinlichkeit kaum noch zu überbieten. Die Befürworter, zumeist Männer, berufen sich auf die Religionsfreiheit, auf die Tradition, religiös-rituelles Brauchtum und sogar auf Gott. Übersehen wird dabei zumeist, dass wir inzwischen im 21. Jahrhundert und in der Mitte Europas leben und dass in Deutschland Gesetze gelten, die einer Beschneidung von Jungen – wie übrigens auch von Mädchen – eindeutig entgegenstehen.
 
Zum einen gewährleistet das Grundgesetz in Artikel 2, Absatz 2 die körperliche Unversehrtheit jedes Menschen, also auch die von Kindern, im Geltungsbereich der Verfassung. Des Weiteren stellt das Strafgesetzbuch in Paragraph 223 die Körperverletzung unter Strafe. Das bedeutet, dass jeder medizinisch nicht indizierte Eingriff rechtswidrig ist. Insofern ist die Rechtslage eindeutig, und dagegen hilft weder Herumlamentieren noch die Berufung auf Traditionen, Brauchtum oder auf Gott.
 
Zwar gewährleistet Artikel 4 des Grundgesetzes die Freiheit des Glaubens und des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses wie auch eine ungestörte Religionsausübung, aber diesen Rechten geht allein schon von der Bedeutung des Artikels 2 und auch von der Systematik des Grundrechtskatalogs das Individualrecht auf körperliche Unversehrtheit vor. Daher hat das Kölner Landgericht in seiner Entscheidung vom 25. Juni 2012, wonach eine Beschneidung strafbar ist, entsprechend den Gesetzen der Bundesrepublik Deutschland richtig entschieden. Eine Bestrafung des Arztes erfolgte nur deshalb nicht, weil er sich in einem Verbotsirrtum befand; die bisherige Praxis der Beschneidung ist in Deutschland illegal.
 
Nun könnte nach Artikel 2, Absatz 2 Grundgesetz in das verfassungsmäßig verbürgte Recht auf körperliche Unversehrtheit mit einem durch den deutschen Bundestag zu beschließenden Gesetz für die Zukunft eingegriffen und die Beschneidung für rechtens erklärt werden. Das jedoch wäre – sollte sich die Mehrheit der Abgeordneten aus populistischen Gründen tatsächlich dazu entschließen – ein Rückfall in mittelalterliche Verhältnisse. Im Übrigen stünde das dem zentralen Gebot unserer Rechtsordnung, das im ersten Satz des Grundgesetzes Ausdruck findet, entgegen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Denn zur Würde jedes Menschen gehört, dass ohne seine Einwilligung oder ärztliche Indikation keine Verletzung seines Körpers vorgenommen werden darf.
 
Das ist die verfassungsrechtliche Seite des Beschneidungsproblems: das Recht auf Würde und Selbstbestimmung des Menschen über seinen Körper. Hinzu kommt aber noch die persönlich-menschliche Seite. Man stelle sich vor, dass ein sieben- oder achtjähriger Junge mit entblößtem geschwollenem Penis auf dem Sofa sitzt, begutachtet von zahlreichen männlichen und weiblichen Verwandten, wie es in vielen muslimischen Familien üblich ist. Es ist die Frage zu stellen, welche Auswirkungen ein derartiger Vorgang auf die Psyche eines Kindes hat. Auf die Idee, das Geschlecht von Mädchen in dieser Weise zur Schau zu stellen, sind bisher selbst fundamentalistische Verfechter der Beschneidung nicht gekommen.
 
Des Weiteren ist die Frage nach den sozial-psychologischen Auswirkungen der Vorhautentfernung zu stellen. Was spielt sich da ab, wenn der Penis derart in den Mittelpunkt des kindlich-männlichen Lebens gestellt wird? Es dürfte wohl kaum zu bestreiten sein, dass diese Dominanz des männlichen Geschlechtsorgans Auswirkungen auf das zukünftige Verhalten hat – in welcher Form auch immer –, jedoch mit Sicherheit in keiner positiven Hinsicht, was den Umgang mit Frauen angeht.
 
Über weitere Auswirkungen körperlicher wie psychischer Art von Genitalmanipulationen liegen fachlich-seriöse Stellungnahmen von Medizinern und Psychologen vor, die für sich sprechen, und zwar nahezu einhellig ablehnend und warnend. Das gilt sowohl für die Beschneidung bereits älterer Kinder als auch für die bei Säuglingen.
 
Festzustellen bleibt, dass die Beschneidung von Jungen im Geltungsbereich deutschen Rechts nicht erlaubt und unter Strafe gestellt ist. Das kann in anderen Staaten anders gehandhabt werden – in Deutschland ist die Rechtlage bislang eindeutig, und so sollte es bleiben. Hier darf niemand mehr körperlich gezüchtigt, gesteinigt oder sonstiger körperlicher Malträtierung ausgesetzt werden. Das ist Verfassungsrecht und Kulturstandart.

PS: Im Übrigen gäbe es zurzeit andere wichtige Probleme zu diskutieren: Die Zulassung des bewaffneten Einsatzes der Bundeswehr im Innern; die Beteiligung Deutschlands mit einem Kriegsschiff am Syrienkonflikt; die immer noch fehlende Regulierung der Finanzmärkte; den Demokratieabbau in Deutschland (von den USA ganz zu schweigen); die Kumpanei von Staatsorganen mit Rechtsextremisten; die Verfolgung westlicher Dissidenten wie des WikiLeaks-Sprechers Julian Assange sowie die unmenschlichen Haftbedingungen seines Informanten Bradley Manning in den USA usw. usw. (PK)
 
Wolfgang Bittner, geb. 1941 in Gleiwitz, lebt als Schriftsteller in Göttingen. Der promovierte Jurist ist freier Mitarbeiter bei Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk und Fernsehen. Bis 1974 ging er verschiedenen Berufstätigkeiten nach, u.a. als Fürsorgeangestellter, Verwaltungsbeamter und Rechtsanwalt. Ausgedehnte Reisen führten ihn nach Vorderasien, Mexiko, Kanada und Neuseeland, Gastprofessuren 2004/05 und 2006 nach Polen. Er erhielt mehrere Preise und Auszeichnungen (2010 den Kölner Karls-Preis der NRhZ), ist Mitglied im PEN und hat über 60 Bücher für Erwachsene, Jugendliche und Kinder veröffentlicht, unter anderem 16 Romane, den Erzählband "Das andere Leben" und das Sachbuch "Beruf: Schriftsteller". Im vergangenen Jahr erschien bei VAT sein Roman "Schattenriss oder Die Kur in Bad Schönenborn", und vor einigen Wochen "Hellers allmähliche Heimkehr". Eine Rezension finden Sie in NRhZ 362 unter http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=17992
 
 


Online-Flyer Nr. 368  vom 22.08.2012

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