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Inland
Erneute Kriminalisierung trotz jahrelang in der Türkei erlittener Folter
Prozessauftakt gegen den Kurden Ali Ihsan Kitay
Von Martin Dolzer

Seit dem 12. Oktober 2011 saß der kurdische Politiker Ali Ihsan Kitay in Hamburg wegen des Vorwurfs der „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ nach § 129b in Isolationshaft. Am 13. August, hat nun endlich das Verfahren gegen ihn vor dem Oberlandesgericht (OLG) Hamburg begonnen. Etwa 90 Menschen waren solidarisch zum Prozessauftakt gekommen.
 

Solidarität mit Ali Ihsan Kitay zu
Beginn des ersten Prozesstages
Fotos: Annett Bender
Die Bundesanwaltschaft (BAW) wirft Ali Ihsan Kitay vor, dass er sich von Mai 2007 bis Mitte September 2008 in Hamburg, Kiel, Bremen, Oldenburg und an weiteren Orten in der Bundesrepublik Deutschland sowie im Nord-Irak als Mitglied an einer „terroristischen Vereinigung im Ausland“ beteiligt habe. Als "Kader der PKK" sei er für die Stadt und die Region Hamburg verantwortlich gewesen. Straftaten in Deutschland werden ihm allerdings nicht vorgeworfen.
 
Das Verfahren müsse eingestellt und der Mandant frei gelassen werden, da es an der Verfahrensvoraussetzung, einer rechtmäßig zustande gekommenen Ermächtigung zur Strafverfolgung durch das Bundesministerium für Justiz (BMJ) fehle, so die Verteidigung von Ali Ihsan Kitay. Die dem Gericht vorliegende Ermächtigung sei unter einem derart „krassen Ermessensausfall“ zustande gekommen, dass diese nur als nichtig betrachtet werden könne. Der „krasse Ermessensausfall“ liegt aus Sicht der Verteidigung u.a. darin, dass die Ermächtigung zur Verfolgung gemäß §129b StGB gegeben wurde, ohne menschenrechtliche und völkerrechtliche Aspekte in Erwägung zu ziehen.
  
Das BMJ habe lediglich die völlig einseitigen Ausführungen der BAW zur Grundlage genommen, in denen weder auf die Geschichte des Konflikts zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Bewegung, noch auf die gesellschaftliche Realität in der Türkei sowie die kontinuierlichen staatlichen Gewaltakte gegen die kurdische Bevölkerung Bezug genommen werde. Jahrzehntelanges Leid und gravierende Menschenrechts-verletzungen bis hin zu extralegalen Hinrichtungen und Folter wären in der Entscheidungsfindung völlig ausge-blendet worden.
 
Durch die Erklärung der Verteidigung wurde deutlich, dass in der Türkei in den letzten Jahrzehnten bis heute kontinuierlich schwerste Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen stattfinden. Belegt wurde dies anhand von Zitaten aus Urteilen von europäischen und deutschen Gerichten, Berichten des Auswärtigen Amtes, Berichten von Amnesty International, Expertengutachten und Zeitungsartikel. Besonders kritisierte die Verteidigung die Inhaftierung mehrerer tausend KurdInnen (darunter u.a. von über 200 gewählten PolitikerInnen und 50 AnwältInnen) seit 2009 und systematische Angriffe auf die Zivilbevölkerung, wie z.B. im Dezember 2011 in Roboski, nahe der türkisch-irakischen Grenze, wo 34 ZivilistInnen durch Bomben der türkischen Luftwaffe getötet wurden. Rechtsanwalt Carsten Gericke legte die historische Entwicklung und Kontinuität dieser staatlichen Gewalt seit den 1990er Jahren an vielen Beispielen anschaulich dar.
 
Außerdem geht die Verteidigung davon aus, dass der Beamte des BMJ, Dr. Boehm, der die Ermächtigung unterzeichnete, nicht dafür zuständig gewesen ist, da ihm die Kompetenz für eine derart weitreichende politische Grundsatzentscheidung gefehlt habe. Diese Entscheidung hätte vielmehr auf höchster Ebene getroffen werden müssen. Zusätzlich werde sehenden Auges und politisch gewollt durch den § 129 b StGB zur Politisierung und Instrumentalisierung der Strafjustiz geführt. Dies sei ein Novum deutscher Rechtsgeschichte. Es würde damit der Regierung ein breiter Spielraum gegeben, die strafrechtliche Verfolgung nach strategischen und außenpolitischen Interessen zu steuern. In der strafrechtlichen Literatur werde dies auch durchaus kritisch gesehen. Das Gericht vertagte die Entscheidung über einen entsprechenden Antrag auf einen „angemessenen Zeitpunkt“ und entschied, das Verfahren bis dahin fortzusetzen.
 
Unfaires Verfahren - Bundesanwaltschaft hält Akten zurück
 
In einem weiteren Antrag kritisierte die Verteidigung mangelnde Akteneinsicht. Dies bedeute massive Verstöße gegen die Grundsätze der "Waffengleichheit“ und eines fairen Verfahrens. An mehreren Beispielen machten die die RechtsanwältInnen Carsten Gericke und Cornelia Ganten Lange klar, dass wesentliche Teile des Anklagekonstrukts auf Erkenntnissen aus Rechtshilfeersuchen an Belgien und die Türkei sowie auf Akten über die Struktur der PKK - und der ihr seitens der Verfolgungsbehörden zugeordneten Organisationen - beruhen, die seitens der BAW zurückgehalten werden. „Die BAW hält mit Absicht Erkenntnisse und Akten zurück, um diese, wenn es ihr passt, aus dem Hut zu zaubern“, so Gericke in der Antragsbegründung. Das Gericht lehnte diesen Antrag ohne nachvollziehbare Begründung ab, da die Akteneinsicht auch im Verlauf des Verfahrens rechtzeitig möglich gemacht werden könnte.
 
Prozesserklärung von Ali Ihsan Kitay
 
Der angeklagte Politiker und Aktivist schilderte die Realität in den kurdischen Provinzen der Türkei. „Jeder Mensch definiert sich aus dem Spannungsfeld zwischen seiner individuellen Entwicklung und den gesellschaftlichen Verhältnissen. Jeder Mensch ist ein soziales Wesen, das durch seine Bezüge zu anderen Menschen lebt und hat das Recht sich in solchen Beziehungen zu finden. Dieser Findungsprozess spielt sich insbesondere in der Jugend der Menschen ab. Je weiter entfernt eine Gesellschaft von sozialen Idealen ist, umso schwieriger ist dieser Prozess“, so Kitay.
 
Zudem skizzierte er die Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung und die Schwierigkeiten für die Betroffenen, diese in Ländern wie der Türkei bei ständiger Gewaltandrohung- und -ausübung durch staatliche Kräfte und der Unterdrückung ganzer Bevölkerungsgruppen, umzusetzen. Kitay beschrieb die Entwicklung der Politik des türkischen Staates gegenüber der kurdischen Bevölkerungsgruppe von Beginn des 20. Jahrhunderts an. Nach mehreren brutal niedergeschlagenen Aufständen in den 1930er Jahren sei der Konflikt seit Mitte 1980 wieder zu einer militärischen Auseinandersetzung geworden. Die Allgegenwärtigkeit des Leids der Bevölkerung durch Folter, Vergewaltigungen und 17.000 Morde unbekannter Täter, von denen auch Kinder und Alte Menschen betroffen waren und sind, sowie der Versuch der Vernichtung der kurdischen Kultur und der "Schmutzige Krieg“ und die psychologische Kriegsführung seien nicht hinnehmbar gewesen.
 

Ali Ihsan Kitay
Kitay selbst war seit seiner Kindheit in seiner Heimatstadt Bingöl mit Gewalt und Folter durch Soldaten und staatliche Kräfte konfrontiert. Viele seiner Familienmitglieder wurden gefoltert und im Verlauf der lang anhaltenden Unterdrückungs- und Assimilationspolitik gegen die kurdische Bevölkerung ermordet. Er selbst habe sich in seiner Jugend dazu positionieren müssen - und sich nach langem innerlichen Dialog dafür entschieden Widerstand zu leisten. In einer von Männern dominierten - und Frauen auf Objekte reduzierenden - Gesellschaft, habe er sich der Gleichberechtigung der Frau besonders verpflichtet gefühlt und dem entsprechend eine besonders innige Beziehung zu seiner Mutter aufgebaut. „Schon immer habe ich mich gegen Diskriminierung und Unrecht eingesetzt“, so Ali Ihsan Kitay. Den Menschen bleibe aufgrund der beschriebenen Gewalt bis hin zu Kriegsverbrechen lediglich die Möglichkeit, sich Unrecht und staatlicher Gewalt unterzuordnen und innerlich zu zerbrechen oder Widerstand zu leisten. Der Entschluss, sich damals der PKK anzuschließen, sei ihm insbesondere in Bezug auf seine enge Bindung zur Mutter besonders schwer gefallen.
 
Die Zeit in türkischen Gefängnissen und Folter
 
Mehrfach wurde Ali Ihsan Kitay in der Folgezeit verhaftet. Insgesamt verbrachte er 20 Jahre in türkischen Gefängnissen und wurde oft schwer gefoltert. „Es fällt mir nicht leicht über diese Erlebnisse zu sprechen oder zu schreiben. Immer wieder kommen mir dann die Bilder ins Gedächtnis - wenn das Unterbewusstsein erst mal geweckt ist. Ich wurde über Tage mit verbundenen Augen gefoltert, wurde getreten und mit Gegenständen und Fäusten geschlagen, neben meinem Kopf wurden Schusswaffen abgefeuert, meine Hoden gequetscht. Ich wurde an den Füssen aufgehängt und mit Druckwasserschläuchen und Elektroschocks gefoltert - mehrfach hat man mir den Tod angedroht. Und dann wird man in eine Zelle zurückgebracht - mit verbundenen Augen, und hört die Schreie der Mitgefangenen in der Folter. Durch die Unsicherheit und die Angst sollen die Menschen physisch und psychisch gebrochen werden. Man verliert das Gefühl für die Zeit, weiß nicht, ob es Tag oder Nacht ist. Man wartet dann was als nächstes kommt - in jedem Moment kann die Folter von Neuem beginnen. Mir wurde angedroht, dass sämtliche Foltermethoden an mir auch vor den Augen meiner Familie durchgeführt würden. In manchen Momenten der Folter erscheint einem der Tod willkommener, anstatt weiter solche Qualen durchzustehen.“
 
Ali Ihsan Kitay weiter: „Man kann zwar die Praktiken beschreiben, aber was das mit einem Menschen macht, das kann man mit Worten nicht fassen. Nur meine Hoffnung und meine Überzeugung, dass ich für den Frieden und die Gerechtigkeit kämpfe, und mein Wille haben mich am Leben gehalten. Eigentlich muss man nach erlebter Folter das Geschehen aufarbeiten. Im Gefängnis ist man jedoch immer wieder erneut bedroht. Man lebt dort in einer unbeschreiblichen Welt, wie in einer Streichholzschachtel.“ Mehrmals war er über mehrere Jahre eingesperrt und konnte zweimal fliehen. Einige seiner Mithäftlinge starben bei Fluchtversuchen oder wurden durch Folter ermordet. Kitay selbst wurde jeweils erneut verhaftet und dann schwerer als zuvor gefoltert, hat aber nie eine Aussage gemacht. Auch diese Stärke hielt ihn am Leben. Nach seiner letzten Haftentlassung wurde er erneut systematisch von "Sicherheitskräften“ bedroht und immer wieder in Gewahrsam genommen, so dass er schließlich von Bingöl nach Istanbul und dann nach Deutschland floh, wo er aus politischen Gründen Asyl bekam. „Kein Mensch verlässt freiwillig seine Familie und Freunde. Diejenigen die man liebt, in der Heimat zurückzulassen ist sehr schwer, aber wenn einem das Leben unmöglich gemacht wird und man ständig bedroht wird, gibt es keinen anderen Ausweg“, erklärte Ali Ihsan Kitay.
 
Haftbedingungen in der Bundesrepublik
 
Auch in der Bundesrepublik habe er ohne rechtliche Grundlage von Oktober 2011 bis Juni 2012 in Isolationshaft gesessen und danach in "verschärftem“ Normalvollzug. Dort finden Gespräche mit BesucherInnen noch immer hinter einer Trennscheibe im Beisein von Beamten des Landeskriminalamtes (LKA) statt und werden filmisch aufgezeichnet. Post - einschließlich der Verteidigerpost - wird überwacht. Aufgrund der Dunkelheit in seiner Zelle hat Ali Ihsan Kitay mittlerweile Sehstörungen.
Wege zur Lösung - Wege zum Frieden
 
„Die kurdische Bewegung setzt sich seit Jahren für Frieden ein - es ist der türkische Staat, der mit einer Spirale der Gewalt eine Lösung des Konflikts unmöglich macht. Jeder Mensch in den kurdischen Provinzen des Landes muss sich zu dem Konflikt positionieren. Vielen bleibt nur der Weg in die Berge oder ins Exil. Die Internationalen Persönlichkeiten müssen sich viel stärker dafür einsetzen, dass sich die Politik der Gewalt des türkischen Staates ändert - ansonsten wird das Dilemma - das endlose Sterben und Leiden - immer weiter fortgesetzt“, sagte Kitay. „Seit Anfang 2000 strebt die kurdische Bewegung die Demokratische Autonomie als Gesellschaftsmodell an. Das bedeutet das gleichberechtigte Zusammenleben sämtlicher Bevölkerungsgruppen und Religionsgruppen innerhalb der Grenzen der Staaten Türkei, Irak, Iran und Syrien und eine Demokratisierung der jeweiligen Gesellschaften“.
 
Vor dem Prozessbeginn fand ab 8.00 Uhr vor dem Gerichtsgebäude eine Solidaritätskundgebung statt, in der etwa 100 Menschen teilnahmen und die Freilassung Kitays und weiterer aufgrund des § 129b inhaftierter KurdInnen forderten. „In dem jetzigen Verfahren wird es u.a. darum gehen, ob der Kampf gegen lang anhaltendes Unrecht und um Selbstbestimmungsrecht legitim und völkerrechtlich zulässig und gerechtfertigt ist“, hieß es in einer Erklärung des "Bündnis Freiheit für Ali Ihsan“. „In der Türkei werden noch immer Soldaten, Polizisten und Gefängniswärter u.a. gemäß der `Panamaschule´, einer Schule für Foltermethoden, ausgebildet. Gestern nahm die türkische Polizei erneut Kinder und Jugendliche fest, die bereits im Gefänngnis von Pozanti systematisch u.a. von Wärtern vergewaltigt wurden. Vor dem Hintergrund täglicher Menschenrechtsverletztungen und in Anbetracht der Prozesserklärung von Ali Ihsan Kitay, sind wir der Ansicht, dass jeder Mensch mit einem Gewissen sich dafür einsetzen sollte, das Unrecht in der Türkei schnellstmöglich zu beenden. Die kurdische Bewegung ist seit langem zu einem würdevollen Frieden bereit. Der § 129 b StGB widerspricht der Gewaltenteilung - und bedeutet allein deshalb unnötige Gewalt“, so das Bündnis weiter.
 
„In Anbetracht der Situation in der Türkei sollte die Exekutive der Bundesrepublik die Rechte der KurdInnen hier stärken anstatt diejenigen, die sich für Menschenrechte und Frieden einsetzen, zu kriminalisieren“, kommentierte die Bundestagsabgeordnete Heidrun Dittrich von der Partei Die Linke, den Prozessauftakt. (PK)
 


Online-Flyer Nr. 368  vom 22.08.2012

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