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Aktueller Online-Flyer vom 03. Mai 2024  

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Inland
Mehr als 1.500 Besucher auf den dritten Kurdischen Kulturtagen in Nürnberg
Einblicke statt Vorurteile
Von Martin Dolzer

Von Mittwoch bis Sonnabend letzter Woche fanden in Nürnberg die dritten Kurdischen Kulturtage statt. „Wir sehen die Kulturtage als Brücke zwischen Vereinen, Organisationen und Menschen aus sämtlichen Kulturen. Sie sind eine gute Plattform für kurdische Künstler, Schriftsteller, Dichter, und Filmemacher“, so Ali Salim, einer der Initiatoren und Projektleiter. „Die Kurden werden in den Medien und in der Öffentlichkeit oft nur im Rahmen von Protesten wahrgenommen. Wir wollen dagegen Menschen die Möglichkeit geben unsere Kunst und Kultur in all Ihren Aspekten aus erster Hand kennen zu lernen. Dabei streben wir eine positive Rückwirkung auf das tägliche Leben der kurdischen MigrantInnen sowie die politische Situation in Kurdistan an. Den in Nürnberg und Umgebung lebenden KurdInnen bieten wir auf diese Weise zudem einen Treffpunkt und Kommunikationsraum“, sagte der 33jährige Projektleiter.

Konzert der Sängerin Rojda auf den dritten Kurdischen Kulturtagen
Fotos: Martin Dolzer
 
„Vor 3 Jahren haben wir im Rahmen der Kulturkommission des Medya Volkshauses, dem regionalen kurdischen Kulturverein, die Idee dazu entwickelt. Zunächst war es eine Idee für deren Umsetzung es noch keine Vorbilder gab“, so Ali Salim. „Aus der Erfahrung, dass sich Menschen der kurdischen Geschichte und gesellschaftlichen Realität, der Kultur und den Beweggründen für das gesellschaftliche und politische Handeln, in einem direkten Dialog und in einer guten Atmosphäre viel tiefer annähern können, haben wir dann das Projekt initiert und seit 3 Jahren systematisch weiter entwickelt. „Unser Anliegen ist u.a. kurdischen Jugendlichen die Erkenntnis zu vermitteln, dass sie als Erben die Verantwortung tragen, die Geschichte und den Reichtum unserer Kultur zu begreifen und zu entwickeln“, ergänzte einer der Initiatoren zum Auftakt der Kulturtage.
 
An mehreren Veranstaltungsorten, darunter dem städtischen Kulturzentrum K 4, fanden Konzerte, Podiumsdiskussionen, Filmvorführungen, Lesungen und Folkloretanzaufführungen statt. Im Rahmenprogramm gaben Fotoausstellungen und Informationsstände die Möglichkeit sich über das Leben in der Provinz Hakkari, ein Teppichwebereikollektiv in Van sowie kurdische Literatur und Musik zu informieren. Der Film "Mes" (Lauf), ein Beitrag des Filmprogramms, behandelt einen Lebensabschnitt von Xelilo um den Militärputsch 1980. Der Überraschungsgast und Regisseur Shiar Abdi sagte im Publikumsgespräch: „Der Militärputsch war eine einzige Katastrophe, die man nicht beschreiben kann. Der Film Mes handelt von einem Lebensabschnitt von Xelilo, der seinen Protest gegen die herrschende Unterdrückung in der Zeit um den Militärputsch 1980, durch Schweigen und zivilen Ungehorsam zum Ausdruck gebracht hat.“ U.a. spuckte der ständig hin und her laufende Xelilo einem türkischen General zum Ausdruck seines Unbehagens ins Gesicht.“ Bei der Filmvorführung handelte es sich um eine Premiere. Der Film wird ab dem 24. Mai in den Kinos zu sehen sein.

Schriftsteller Ahmet Kahraman (rechts)
 
Im Rahmen einer Lesung stellten u.a. die Schriftsteller Günay Aslan und Ahmet Karaman ihre Werke vor. Ahmet Karaman las aus seinem neuen Buch, in dem er die ersten kurdischen Aufstände und Entwicklungen in der Türkei seit der Staatsgründung Anfang der 1920er skizziert. Karaman veröffentlichte bisher 19 Bücher. Mit Humor und Tiefsinn kommentierte er die derzeitige Situation in Kurdistan und sein Leben im Exil. Der Journalist und Schriftsteller Günay Aslan bekräfigte, dass die kurdische Bevölkerung im Iran (Ost-Kurdistan), im Irak (Süd-Kurdistan), in der Türkei (Nord-Kurdistan) und in Syrien (West-Kurdistan) trotz der kolonialen Bestrebungen der regionalen Regierungen sowie der westlichen Großmächte auf jeden Fall ihren Platz finden wird. In sämtlichen Teilen Kurdistans werden schrittweise erfolgreich Komponenten der demokratischen Selbstorganisierung umgesetzt. Auch in Syrien haben sich weite Teile der Bevölkerung mittlerweile in der, der PKK nahe stehenden PYD, in basisdemokratischen Rätestrukturen organisiert.
 
Der Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linke, Harald Weinberg, brachte in einem Grußwort zum Ausdruck, dass insbesondere für KurdInnen Politik und Kultur untrennbar miteinander verbunden sind. Der Abgeordnete schilderte die Eindrücke einer Delegationsreise zur Wahlbeobachtung im Juni 2011. Er berichtete von der systematischen Einschüchterung der Wählerinnen durch Polizei und Militär. Harald Weinberg und die Nürnberger Stadträtin Marion Padua waren von einem Bombenanschlag in der Provinzhauptstadt Sirnak, nahe der türkisch-irakischen Grenze betroffen. 10 Meter von der Delegation entfernt zündeten Kräfte aus den Reihen des Militärs einen Sprengsatz. 11 Menschen wurden schwer verletzt, eine Frau starb an den Folgen des Anschlags. „Der Wahlerfolg der kurdischen Friedens- und Demokratiepartei sollte hier auf unmenschliche Weise sanktioniert werden. Die Rechte der Kurden müssen endlich anerkannt werden“, so der Bundetagsabgeordnete.
 
Der Leiter des Amtes für Kultur und Freizeit, Jürgen Marktwirth, der die Kulturtage seit ihrer Gründung regelmäßig besucht, freute sich: „Es ist sehr schön, dass die kurdischen Organisationen die Initiative ergriffen haben und ein sich ständig weiter entwickelndes und wachsendes Kulturereignis veranstalten.“ Der in Vertretung des Oberbürgermeisters anwesende Stadtrat Gerhard Groh (SPD) wünschte den Kurdischen Kulturtagen viel Erfolg und bekräftigte, dass die Stadt Nürnberg dieses Festival der Völkerverständigung weiterhin unterstützen und fördern wird. Ralph Hoffmann von den Grünen sprach sich für die dringend notwendige Beendigung der Menschenrechtsverletzungen in der Türkei aus.
 
Im Verlauf einer Podiumsdiskussion skizzierten die Abgeordnete der im türkischen Parlament vertretenen BDP Aysel Tugluk, der Linke-Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko und der Schriftsteller Veysi Sarisözen die momentane Situation in der Türkei. „Ministerpräsident Erdogan hat im Verlauf von Besuchen in der Bundesrepublik immer wieder betont, dass die türkischen MigrantInnen ein Anrecht auf Integration haben und nicht der Versuch unternommen werden sollte, sie zu assimilieren. Wenn er eine solche Forderung stellt, muss die AKP-Regierung auch der kurdischen Bevölkerung und ethnischen wie religiösen Minderheiten in der Türkei dieses Recht wie auch die Möglichkeit zu einer selbstbestimmten demokratischen Organisierung geben“, forderte Aysel Tugluk. Seit 2009 wurden in der Türkei mehr als 6.500 kurdische PolitikerInnen und AktivistInnen inhaftiert. Darunter befinden sich 6 ParlamentarierInnen, 31 BürgermeisterInnen, mehr als 100 JournalistInnen und über 1.000 FrauenaktivistInnen. Im Dezember bombardierte die türkische Armee eine Gruppe von Schmugglern in Roboski/Sirnak. Eine Untersuchungskommission stellte fest, dass die Militärs in vollem Bewusstsein handelten, dass es sich um Zivilisten handelte. 34 Menschen, hauptsächlich Jugendliche, starben bei dem Massaker. In den letzten Wochen intensivierte die türkische Regierung die Militäroperationen in Kurdistan.
 
„Allein in Diyarbakir wurden in der letzten Woche 6 Guerillas beerdigt. Wir streben dagegen Frieden und eine grundlegende Demokratisierung der Türkei, in einer bündnisorientierten Zusammenarbeit mit der türkischen Linken, den ArmenierInnen, den AlevitInnen und weiteren Bevölkerungsgruppen an. Die AKP muss ihre Kultur der Gewalt und Unterdrückung beenden“, erklärte die Parlamentarierin und Anwältin. „Wir haben erst kürzlich beschlossen, den HDK, einen Dachverband, in dem kurdische, türkische Organsationen, VertreterInnen von alevitischen, armenischen, assyrischen und weiteren Bevölkerungs- und Religionsgruppen sowie Demokratische Organisationen gemeinsam für die Menschenrechte, Demokratie, Frieden und Emanzipation wirken, für die Kommunalwahlen 2013 in eine politische Partei zu transformieren."
 
„Die AKP befindet sich in einer politischen Sackgasse, weil sie sich auf die Vernichtung der PKK und der politisch tätigen KurdInnen mit juristischen und militärischen Mitteln konzentriert, anstatt die notwendige Demokratisierung des Landes voranzutreiben. Es geht Ministerpräsident Erdogan, wie auch der Gülen-Bewegung, die die AKP dominiert, um die Erlangung der Macht in den kurdischen Provinzen des Landes, mit allen Mitteln. Ihre neoliberale Politik dient zudem nur der eigenen Klientel und grenzt weite Teile der Bevölkerung sozial und politisch aus. Vor einigen Tagen protestierten Fans des Fußballsvereins Fenerbahce Istanbul im Stadion gegen das neoliberale, autokratische und feudalistische Wirken der Gülen-Bewegung. Im Anschluss an das Spiel zogen die jugendlichen Fans durch Istanbul und zündeten Fahrzeuge an. Eine große Unzufriedenheit und Perspektivlosigkeit zieht immer weitere Kreise und kündigt starke gesellschaftliche Umbrüche an. Der autokratische Führungsstil und die neo-osmanische Ausrichtung der Regierung Erdogan stoßen auch international auf immer stärkere Kritik“, erläuterte der Schriftsteller und Journalist Veysi Sarisözen.
 
 „Abdullah Öcalan wird seit mehr als 8 Monaten der Besuch von AnwältInnen und Verwandten verwehrt. Die Totalisolation der Führungspersönlichkeit der kurdischen Bevölkerung u.a. damit zu rechtfertigen, dass das Schiff zur Insel Imrali einen Schaden hätte, kommentierte der Schriftsteller mit großem Humor: „Dass die Enkel des großen Schiffbauers Hayrettin Barbaros es nicht geschafft haben, in 6 Monaten ein kleines Schiff zu reparieren, ist nicht unbedingt eine große Auszeichnung.“
 
„Letztlich kann nur ein Dialog zwischen sämtlichen am Konflikt beteiligten AkteurInnen einschließlich der PKK und Abdullah Öcalan zu einer Lösung des Konfliktes führen“, so Andrej Hunko, MdB der Linken und Mitglied der parlamentarischen Versammlung des Europarates. „Ich werde auf Reisen immer wieder von KurdInnen gefragt, warum Europa zu den gravierenden Menschenrechtsverletzungen schweigt. Ich denke, wir haben als europäische Linke die Verantwortung die EU zu demokratisieren. Die momentan hauptsächlich von den Konservativen betriebene Politik der sozialen Ausgrenzung, Militarisierung und imperialistischen Erweiterung, sowie die Austeritätspolitik der Bundesregierung werden sowohl innen- wie außenpolitisch in eine große Krise münden. Diese Politik und dass die KurdInnen auch in Europa kriminalisiert werden, trägt zur Verhinderung einer friedlichen Lösung der kurdischen Frage bei. Es muss nicht nur die PKK von der Terrorliste gestrichen werden, nein, die gesamte Terrorliste muss abgeschafft werden. Sie ist ein rechtstaatswidriges Instrument, das im EU Rat statt von Gerichten, meist auf Grundlage von Geheimdienstinformationen beschlossen wird. Das ist absolut inakzeptabel“, kritisierte Hunko.
 
Vor dem Abschlusskonzert mit der Nürnberger Gruppe Koma Silan, dem Liedermacher Burhan Berkan aus Diyarbakir und der Sängerin Rojda skizzierten die Veranstalter die Arbeit des Mezopotamischen Kulturzentrums MKM in Istanbul. In den neunziger Jahren entwickelten dort mutige Kulturschaffende und WissenschaftlerInnen unter härtester Repression die kurdische Sprache, Wissenschaft, Theater, Musik und Kunst. Gegründet wurde das MKM u.a. von den Schriftstellern Musa Anter, der nach mehreren Verurteilungen wegen seiner Bemühungen um eine selbstbestimmte Kultur und die Menschenrechte bei einem Attentat von Sicherheitskräften ermordet wurde, und Ismael Besikci, der aufgrund seiner soziologischen Studien über die Situation in Kurdistan mehr als ein Jahrzehnt im Gefängnis verbrachte. Das MKM ist im Laufe der Jahre zu einem Ort und der Seele der Kommunikation geworden. Entscheidende Impulse zur Entwicklung der kurdischen Kunst, Literatur, Musik, Sprache sowie des Theaters gingen vom MKM aus. Unter anderem hatten die Tanzgruppe Koma Serhildan, die MusikerInnen Rojda, Hozan Hogir, Sarya, Ayfer Düzdas und die Theatergruppe Seyr-i Mesel dort ihren Ursprung.
 
An jedem der vier Tage gedachten die TeilnehmerInnen auch des Lebens und Wirkens der im Verlauf der lang anhaltenden militärischen Auseinandersetzung gestorbenen BefreiungskämpferInnen und im Rahmen der Vernichtungspolitik des türkischen Staates ermordeten Menschen. Seit den 1990er Jahren wurden mehr als 17.000 ZivilistInnen von Sicherheitskräften und Paramilitärs ermordet.
 
Mehr als 1.500 Menschen nahmen aktiv und sichtlich begeistert an den dritten Kurdischen Kulturtagen teil. Die VeranstalterInnen sehen sie als Pilotprojekt für ähnlich intensive Ereignisse in weiteren Städten und Bundesländern. „Als wir die Idee zu den Kulturtagen hatten, dachten wir nicht, dass sie eine so gute Dynamik entwickeln würden. Vielleicht ist es auch möglich, dass wir langfristig Impulse geben können, so dass kurdische Kulturschaffende auch im Exil von ihrer Kunst leben können“, resümierte Ali Salim. Marion Padua, Stadträtin der Linken Liste Nürnberg und Initiatorin der Initiative für Betroffene des verheerenden Erdbebens in Van 2011 „Nürnberg hilft Wan“ schildert ihre Eindrücke: „Ich habe in einer herzlichen Athmosphäre viel gelernt. Die kurdische Kultur zeichnet ein sehr großer Reichtum und eine ungeheure Vielfalt aus. Es wäre wichtig, die kurdische Identität auch behördlicherseits in der Bundesrepublik endlich anzuerkennen. Um dazu beizutragen, müssen wir als Linke hier in Deutschland eine viel größere Solidarität entwickeln.“ (PK)


Online-Flyer Nr. 356  vom 30.05.2012

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