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Aktueller Online-Flyer vom 21. Mai 2024  

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Globales
Zur Vorgeschichte der aktuellen Eskalation in Gaza und Libanon
Israel muß eigene Verantwortung anerkennen
Von Roni Ben Efrat

Die eskalierende Gewalt im Nahen Osten hat nach Auffassung unserer israelischen KollegInnen von "Challenge" eine gemeinsame Ursache: Die Regierung in Jerusalem zog sich aus den besetzten Gebieten in Gaza und im Libanon im Vertrauen auf ihre militärische Überlegenheit zurück, ohne die eigentlichen Probleme durch Verhandlungen und einen ausgewogenen und gerechten Frieden zu lösen. Zu diesem waren die Palästinenser 1993 bereit. Dem hier vorliegenden Artikel zu Gaza wird im nächsten NRhZ-Flyer ein zweiter zum Thema Libanon folgen. Die Redaktion.

Zehn Monate nach dem Rückzug Israels aus dem Gazastreifen  ist seine Armee wieder dorthin zurückgekehrt und hat in der Westbank den größten Teil der palästinensischen Regierung festgenommen: 64 Mitglieder des Legislativrats, Minister und Beamte, alles Hamas-Mitglieder. Als Vorwand diente ein Überfall des militärischen Flügels der Hamas am 25. Juni,  bei dem zwei Soldaten getötet und einer gefangen genommen wurde. Aus Israels Sicht bot das Ereignis einen Anlass, eine neue politische Realität zu schaffen, die den Sieg der Hamas bei den Wahlen im Januar null und nichtig macht.

Dieser neuesten Krise sind eine Fülle von Ereignissen vorausgegangen: der tägliche Raketenbeschuss von Gaza aus auf Sderot; Israels nutzlose Vergeltungsschläge aus der Luft; die Ermordung von Jamal Abu Samhadana (der Nr. 2 auf der Wanted-Liste, der von Hamas zum Chef der palästinensischen Polizei ernannt worden war) durch Israel; die Tötung der Ghalia Familie am Strand von Gaza; die steigende Zahl der Todesopfer unter arabischen Zivilisten.

Trotzdem hätte die Sache ganz anders laufen können. Der Überfall vom 25. Juni  stoppte den Wandel,  der sich gerade in der Haltung der israelischen und der palästinensischen Regierung abzuzeichnen begonnen hatte. Israels Premierminister Ehud Olmert hatte für denselben Vormittag eine Kabinettsitzung einberufen, um die so genannte Gefangeneninitiative zu diskutieren. Dieses Dokument umfasst 18 Artikel, die die gefangenen palästinensischen Anführer, unter ihnen Marwan Barghouti, im israelischen Hadarim-Gefängnis ausgearbeitet haben. Vertreter aller palästinensichen Fraktionen einschließlich Hamas und Jihad hatten es am 18. Mai im Gefängnis unterzeichnet. Das Dokument schlägt eine ganze Reihe von Vereinbarungen als Basis für ein Abkommen zur nationalen Einigung vor, einschließlich eines palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967, einer Reform der PLO, des Eintritts von Hamas und Jihad in die PLO, der Bildung einer Regierung der nationalen Einheit, die Hamas und Fatah umfasst, der Formulierung eines politischen Programms auf Grundlage internationaler Resolutionen, der Durchführung von Verhandlungen mit Israel unter der Ägide der PLO, eines Endes der Angriffe innerhalb Israels und des Endes der Kämpfe zwischen den palästinensischen Fraktionen.

Unter Gefangenen, die sich in derselben Situation befinden, lässt sich schneller Einvernehmen erzielen als unter den politischen Kräften draußen. Zunächst wollte sich die Hamas-Regierung unter Ismail Haniyeh dem Dokument nicht anschließen. Allerdings stand sie unter enormem Druck. Der Wirtschaftsboykott des Westens war deutlich zu spüren. Als der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) Abu Mazen, Mitglied der Fatah, drohte, die Gefangeneninitiative einem nationalen Referendum zu unterziehen, gab Haniyeh langsam nach. Es schien, als werde auf palästinensischer Seite eine Grundlage für Verhandlungen mit Israel geschaffen.

Karikatur: Kostas Koufogiorgos
Karikatur: Kostas Koufogiorgos
www.koufogiorgos.de


Was Israel angeht, so kann man sich fragen, warum Olmert sich entschieden hatte, die Gefangeneninitiative, die er zunächst als interne palästinensische Angelegenheit bezeichnet hatte, zu diskutieren. Die Antwort mag in der Tatsache liegen, dass es ihm nicht gelungen war Unterstützung für seinen Convergence-Plan zu erhalten, weder in Israel noch in der arabischen Welt, in Washington oder in Europa. Er hatte begriffen, dass es wenig Sinn machte, Zeit und Prestige auf ein Programm zu verwenden, das niemand unterstützen mochte. Sein zentrales Ziel - und auch das der Kadima - ist es, sich aus dem größten Teil der Westbank zurückzuziehen, sich von den Palästinensern abzutrennen und die internationale Anerkennung der neuen Sperranlage als israelische Grenze zu erlangen. Die israelische Öffentlichkeit, die von dem Konflikt genug hat, ist für einen solchen Rückzug bereit - allerdings zu israelischen Bedingungen. Auch für die Wirtschaft, die von ausländischen Investitionen abhängt, ist eine politische Lösung nötig.

Vor diesem Hintergrund messen einige Beobachter einem kurzen Zusammentreffen von Olmert und PA-Präsident Abu Mazen in Petra am 22. Juni Bedeutung  bei, das eine Verabredung für ein Treffen Anfang Juli zeitigte. (Zu dieser Zeit wurden die Bush-Vertreter David Welch und Elliott Abrams in der Region erwartet.). Es bestand der Eindruck, Israels Premier habe sich mit dem derzeitigen Arrangement innerhalb der PA und sogar mit der Hamas-Regierung abgefunden. Man rechnete mit folgendem Szenario: Würde Hamas Abu Mazen hinsichtlich der Unterzeichnung der Dokuments der Gefangenen folgen, würde Israel bereit sein, die zweite Stufe der Roadmap einzuleiten, der zufolge auf einem Teil der besetzten Gebiete ein vorläufiger palästinensischer Staat errichtet werden soll.

Für Israel liegt der Vorteil eines derartigen Vorgehens darin, dass die internationale Gemeinschaft - anders als beim Convergence-Plan - die Grenzen, auf die es sich zurückzieht, zumindest für einen vorübergehenden Zeitraum anerkennen würde. Und was ist so schlimm an einem "vorübergehenden" Status? Hatte Hamas nicht einen "vorübergehenden" Waffenstillstand von 60 Jahren angeboten?
Am Vorabend des Überfalls schienen sich versöhnliche Gesten zwischen Hamas und Fatah abzuzeichnen - denen vielleicht eine Wiederaufnahme der Gespräche zwischen der PA und Israel folgen würde.

Dann trat Khaled Mashal auf den Plan. Mashal führt von Damaskus aus die Politische Abteilung der Hamas. Er widersetzt sich der Tendenz, Israel anzuerkennen, für die die Gefangeneninitiative steht. Der militärische Flügel der Hamas, der den Überfall anführte, wendet sich an ihn um Rat, nicht an die Regierung. Einige glauben, dass er über den Zeitpunkt des Überfalls am 25. Juni 2006 entschieden hat (dieser wurde "Die Illusion verschwindet" genannt), um Sand ins Getriebe zu streuen. Auf jeden Fall hat es geklappt.

Vielleicht besser als Mashal beabsichtigt hatte. Vor einigen Monaten bildete er sich einiges auf den Wahlsieg der Hamas ein. Nur wollte er die Früchte der Regierungsmacht ohne deren Verantwortung. Jetzt hat er das palästinensische Volk in ein gefährliches Abenteuer hineingetrieben.

Karikatur: Kostas Koufogiorgos
Karikatur: Kostas Koufogiorgos
www.koufogiorgos.de


Die daraus resultierende Krise hat offenbart, wie tief der Riss in der Hamas ist. Als die Spannungen um den gefangen genommenen Soldaten wuchsen, erklärte sich Haniyeh zur Unterzeichnung der sog. Gefangeneninitiative bereit, um deutlich zu machen, dass er nicht dem militanten Flügel zuzurechnen ist. Durch seinen Sprecher forderte er auch zur bedingungslosen Freilassung des Soldaten auf. Die Reaktion "seiner" Straße bestand allerdings darin, dessen Austausch gegen palästinensische politische Gefangene zu verlangen.

Der israelische Premierminister Ehud Olmert wies jeden Gedanken an einen Austausch postwendend zurück. Israel hat jetzt die Hamas-Regierung als Geisel. Mit einem einzigen Schlag hat es die Ergebnisse der Januarwahlen zunichte gemacht und der Welt gezeigt, welche Bedeutung es demokratischen Wahlen in Wirklichkeit beimisst.

In gewisser Hinsicht erinnern die israelischen Aktionen an die Operation Schutzschild 2002. Damals war der Vorwand ein Selbstmordanschlag auf einen Pessach-Seder in Netanya. Vorgeblich war es das Ziel der Operation, wie Premierminister Ariel Sharon absichtlich vage formulierte, "die terroristische Infrastruktur zu zerstören". Es wurde jedoch bald klar, dass die Absichten weit darüber hinausgingen. Nach der Wiedereroberung der Städte löste Israel die Büros der PA auf und setzte Yasser Arafat in seinem Hauptquartier in Ramallah fest, während es zugleich Beweise fälschte, die ihn mit dem Terrorismus in Verbindung brachten. Am meisten stellte es sich aber durch die die Zerstörung des Hauptquartiers von Jibril Rajoub bloß. Der ehemalige Gefangene war Chef des Präventiven Sicherheitsdienstes der PA. Innerhalb der PA war er der beste Freund Israels. Angriffen auf Israelis hatte er sich konsequent widersetzt. Indem es Rajoubs Apparat zerstörte, wandte sich Israel nicht gegen die terroristische Infrastruktur, sondern gegen die PA selbst, der es nicht gelungen war, Frieden und Ruhe zu erhalten. Dieselbe Botschaft wird heute Haniyeh übermittelt. Wenn Du Israel nicht Ruhe und Frieden bescheren kannst, hast Du auf dieser Welt nichts zu suchen.

Trotz aller taktischen Erfolge war die Operation Schutzschild ein strategischer Fehlschlag, denn sie hat Fatah geschwächt und Hamas einen Vorsprung verschafft. Auch bei der laufenden Operation fällt es schwer zu begreifen, was Israel dabei gewinnen kann, wenn es Hamas demontiert. Die, die Hamas gewählt haben - und auch deren Gründe für diese Wahl - gibt es weiter. Sie haben viele Male gezeigt, dass sie sich nicht einschüchtern lassen. Die tiefere Ursache für den derzeitigen Strudel liegen nicht in Hamas oder dem Terrorismus sondern darin, dass Israel es versäumt, die Verantwortung für das Unglück zu übernehmen, das es angerichtet hat. Man schaue nur nur einen Punkt an: Nach 40 Jahren Besatzung liegt das jährliche Pro-Kopf-Einkommen in Israel bei 24.600 $, in der Westbank bei 1.100 $ und in Gaza bei 600 $ brutto.

Einerseits würde Israel sich gern aus dem größten Teil der Besetzten Gebiete zurückziehen und eine größere Rolle in der Weltwirtschaft übernehmen. Um dies zu erreichen, genügt es jedoch nicht, die Besetzten Gebiete "los zu werden", egal ob dies durch einen Rückzug, durch den Convergence Plan, durch einen vorläufigen Staat unter der Ägide des Quartetts oder selbst durch zwei durch eine Mauer getrennte Staaten geschieht. Das Gedeihen des Einen und die Verarmung des Anderen programmieren endlose Gewalt vor. Die Art Frieden, die Israel sucht - ohne seine Verantwortung anzuerkennen und ohne irgendeine Bereitschaft, Schadensersatz für Jahre der Ausbeutung zu zahlen - wird den Kreislauf des Blutvergießens nie beenden. Ohne ein großzügiges Friedensangebot kann Israel die Schuld nur bei sich selbst suchen, wenn die Palästinenser ihre Stimmen einer Organisation geben, die ihnen Luftschlösser anbietet.

Roni Ben Efrat ist Chefredakteurin der Zeitschrift "Challenge", die im israelischen Jaffa alle zwei Monate herausgegeben wird: www.hanitzotz.com/challenge/

Wir danken Endy Hagen für die Übersetzung


Online-Flyer Nr. 53  vom 18.07.2006

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