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Kultur und Wissen
Ein Buch, das zum hundertsten Geburtstag Erich Honeckers erschien:
"Letzte Aufzeichnungen – Für Margot"
Von Heinz-W. Hammer

Erich Honecker war 169 Tage in Berlin-Moabit inhaftiert, ehe er Anfang 1993 nach Chile ausreiste. Im Gepäck hatte er ein Tagebuch, etwa 400 handschriftlich gefüllte Seiten. »Für Margot« stand auf dem Deckblatt. Darin berichtet er über den Gefängnisalltag, sein Befinden, Gespräche und Eindrücke. Es sind vermutlich die einzigen persönlichen Notizen, die Erich Honecker je zu Papier brachte. Sie erschienen nun im Jahr 2012, in welchem er 100 Jahre alt geworden wäre.
 
Ein kurzer Blick zurück. Mit dem Anschluss der sozialistischen DDR an die kapitalistische BRD wurde Anfang der 90er Jahre des verflossenen Jahrhunderts nicht nur deren »Deutschlandfahne« zu einem der meistverkauften Artikel, sondern auch eine aktive Hexenjagd auf alles, was auch nur vermeintlich »rot« erscheint, ins Rollen gebracht. Von den vorläufigen Siegern wurden offensichtlich auch rabiate Varianten der Verfolgung incl. der (Wieder-)Errichtung von Lagern in Erwägung gezogen, wie die Äußerung eines Teilnehmers beim Treffen der CSU-Führung in Wildbad Kreuth im Januar 1991 belegt: »Wir werden sie nicht in Lager sperren, das haben wir nicht nötig. Wir werden sie an den sozialen Rand drängen.« (S. 168)
 
Beliebteste Ziele hierbei: Die führenden Vertreter der Deutschen Demokratischen Republik, allen voran der zu diesem Zeitpunkt bereits todkranke Staatsratsvorsitzende und langjährige SED-Generalsekretär Erich Honecker. Bei einer Krebsoperation am 10.01.1990 war ihm ein Nierentumor entfernt worden, am 29.01.90 wurde er festgenommen, wegen seines Gesundheitszustandes wieder freigelassen, am 03.04.90 in das sowjetische Militärhospital Beelitz verlegt. Am 30.11.90 wird durch das Amtsgericht Tiergarten Haftbefehl wegen des Verdachts auf Totschlag auf Basis des angeblichen »Schießbefehls« an der Staatsgrenze zur BRD erlassen, weitere Haftbefehle zu anderen vorgeblichen Delikten folgen später.
 
Am 13.03.91 erfolgt die Ausreise nach Moskau, die Kohl-Regierung fordert am 30. August offiziell die Rückführung. Die Jelzin-Regierung beschließt am 16.11.91 die Ausweisung von Erich und Margot Honecker. Daraufhin sucht das Ehepaar Zuflucht in der chilenischen Botschaft in Moskau. Nach erneuter schwerer Krebsdiagnose wird Honecker am 21.02.1992 in eine Moskauer Klinik eingeliefert, von wo aus er am 22.03.92 in die chilenische Botschaft zurückkehrt. Nach hektischen diplomatischen Aktivitäten erliegt die chilenische Regierung dem Druck der Kohl- und Jelzin-Administrationen und verweist die Honeckers aus ihrer Moskauer Botschaft, u.a. mit Verweis auf ein, wie sich später herausstellen sollte, gefälschtes medizinisches Gutachten. Der Spiegel schrieb zutreffend dazu am 31. März 2009: »Eine manipulierte Krankenakte erleichterte die Abschiebung des unerwünschten Gastes: Dieselben Ärzte einer Moskauer Klinik, die im Februar 1992 einen Tumor in der Leber diagnostiziert hatten, fanden drei Wochen später angeblich keinen Krebsherd mehr — Honecker stand als Simulant da. Schon die erste medizinische Untersuchung in Deutschland bestätigte indes, dass das Moskauer Gutachten verfälscht worden war.« (S. 23)
 
Am 29.Juli 1992 schliesslich verlässt Erich Honecker »um 16:33 Uhr Ortszeit die chilenische Botschaft und wird in Begleitung russischen Sicherheitspersonals zu einem Flughafen gebracht. Der Haftrichter wartet in Berlin-Moabit« (Tagesspiegel, 30.07.1992).
 
Das niederländische »Algemeen Dagblatt«, Rotterdam, kommentierte diesen Vorgang wie folgt: »Das wirtschaftlich mächtige Deutschland hat die hilfsbedürftigen Staaten Russland und Chile unter Druck gesetzt. Ein möglicher Prozess würde ohne Zweifel die Rache- und Unlustgefühle vieler Deutscher befriedigen, aber gerechtfertigt ist ein solches Gerichtsverfahren nicht.« (ND, 31.07.1992)
 
In diese Zeit fällt zugleich die Gründung des »Solidaritätskomitees Erich Honecker«, dass sich nach Besuchen bei den Honeckers im Sommer 1990 im Sowjetischen Militärhospital Beelitz auf Initiative der Kommunisten Werner Cieslak (Essen) und Heinz Junge (Dortmund) am 15. Dezember 90 gegründet hatte und sich von dieser Tagung aus direkt mit einem »Appell an die Bundesregierung und an die Öffentlichkeit« gewandt hatte und in den Folgejahren mit sehr bescheidenen Mitteln, aber viel Engagement darum bemühte, der reaktionären Kampagne, die auch in weiten Teilen der Linken verbreiteten Niederschlag fand, die eigenen Positionen der Klassensolidarität entgegen zu setzen. [1]
 
Nun also Berlin-Moabit, wo die Nazis den Antifaschisten Honecker bereits von 1935 bis 1945 inhaftiert hatten.
 
Beginnend mit dem 29. Juli 1992, dem Anflug auf Berlin, liegen nun die sehr persönlichen, für seine Frau und Genossin Margot bestimmten »Letzten Aufzeichnungen« vor. Im Mai 1992 war im Hamburger W. Runge Verlag bereits die Ende 1991 fertig gestellte Broschüre »Erich Honecker zu dramatischen Ereignissen« erschienen, in denen Honecker erste politische Einschätzungen zu »Veränderungen in der Weltarena, innere und äussere Bedingungen, die zum Systemwechsel führten«, zur historischen Rolle der zwei deutschen Staaten und zum antifaschistischen Erbe vorlegte.
 
Erich Honecker wäre am 25. August 2012 100 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass hat sich Margot Honecker nach längerem Zögern entschlossen, die rund 400 Seiten umfassenden handschriftlichen Aufzeichnungen ihres Ehemanns und Genossen zu veröffentlichen. In ihrem im Dezember 2011 verfassten Vorwort begründet sie diesen Entschluss, »auch dem Rat guter Freunde folgend« u.a. mit den Hinweisen, »(…) weil sie nicht nur einen wahrhaften Einblick geben (will) in einen kurzen Lebensabschnitt im kämpferischen Leben Erich Honeckers, sondern auch in einen in der deutschen Geschichte schwerwiegenden Zeitraum. So könnten die Aufzeichnungen hilfreich sein in der politischen Auseinandersetzung mit der Geschichte, indem sie einige Wahrheiten ins Licht rücken inmitten der Lügen, Fälschungen und Verleumdungen, die nun schon seit über zwei Jahrzehnten verbreitet werden. Und alles deutet darauf hin, dass auch weiterhin Heerscharen aufgeboten werden, geschichtliche Wahrheiten unter den Teppich zu kehren, den Sozialismus zu diskreditieren, Kommunismus und Kommunisten zu verteufeln (…) Über zwei Jahrzehnte sind vergangen. Es braucht seine Zeit, bis die Wahrheit sich durchsetzt. Ein ungetrübter Blick auf Vergangenheit und Gegenwart wird verhindert durch den Nebel, den die herrschende Politik über den tatsächlichen Verlauf der Geschichte verbreitet. Tatsachen lassen sich aber nicht auf Dauer leugnen (...) Erich Honecker hielt an der Überzeugung fest, dass auch in Deutschland erneut gesellschaftliche Kräfte auf den Plan treten werden, die andere Verhältnisse erstreiten werden. Obgleich schwerkrank, ist er bis zum Ende seines Lebens für seine Überzeugung eingetreten. Auch davon sprechen diese Aufzeichnungen.«
 
Diese Einschätzung wird in den Tagebuchnotizen vollauf bestätigt. Die Ankunft in Berlin und die Einlieferung in Moabit [2] erinnert ihn zwangsläufig an seine Haft unter der Nazi-Herrschaft und die Kontinuität deutscher Geschichte. Bezug nehmend auf »seinen« Untersuchungsrichter beim »Volksgerichtshof«, Rehse, konstatiert Honecker: »Nicht ein Nazirichter wurde damit rechtskräftig in der Bundesrepublik verurteilt. Nicht einer. Und diese Justiz wird nun über mich und meinesgleichen zu Gericht sitzen.« (S. 15). Und diese Justiz





















wird ihrer Tradition in den folgenden Monaten umfassend gerecht. Honeckers Aufzeichnungen belegen die immer bedrohlicher werdenden ärztlichen Befunde seiner Krebserkrankung, den verzweifelten Kampf seiner Rechtsanwälte um die Wahrung seiner fundamentalen Menschenrechte und eben auch die erbarmungslose, von den Massemedien aktiv flankierte Repression der Justiz, vertreten vorneweg durch die Berliner Justizsenatorin Jutta Limbach, den Justizminister Klaus Kinkel (von 1979 bis 1982 BND-Chef) und schließlich den Exekutor, den Vorsitzenden der Schwurgerichtskammer Hans-Georg Bräutigam, Jahrgang 1937, den die taz am 31.07.1992 als Denunziant und »strammer Reaktionär, der stets wusste, dass der Feind links steht« einordnet, der sich den Vorsitz des Honecker-Prozesses, für den er geschäftsmäßig gar nicht zuständig war, unter dubiosen Umständen gesichert habe.
 
Für Honecker stand von vorneherein fest, und dies betont er mehrfach in seinen Notizen, dass es keinesfalls um die Einzelperson Honecker ging: »Der Prozess soll zwei Jahre dauern. Solange ich lebe, werde ich mich offensiv vereidigen. Dies bin ich in erster Linie den Bürgern der DDR schuldig.« (S. 31); »Ich hoffe sehr, dass ich in der Lage bin, unsere Sache, die Sache der Republik, zu vertreten« (S. 56); »Du hast recht, unsere Verantwortung ist groß. Deshalb ist es wichtig, dass ich den Prozess durchstehe. Nicht meinetwegen, sondern wegen der Sache, wegen der sozialistischen Idee. Das bin ich den Genossen schuldig, die jahrzehntelang für den Sozialismus gekämpft haben.« (S. 111); »Die blöde Krankheit beschäftigt mich doch mehr, als ich mir anmerken lassen will. Es ist ein Warten auf den Tod, der nach den Erklärungen, die man mir gab, mit großem Schmerz kommen soll. Ja, an was soll man da noch denken? An einen guten Abgang für die Nachwelt? Der ist natürlich nötig, da zu viele schon über Jahre bestrebt sind, mich zu verleumden und schlechtzumachen und meine Arbeit herabzuwürdigen. Deshalb ist es wichtig, wenn es zum Prozess kommt, dass ich dort meine Position klarmache. Das wird vermutlich meine letzte Arbeit sein (…) Man zielt auf mich, meint aber die DDR.« (S. 117f.)
 
Dies sehen übrigens auch die bürgerlichen Medien – aus ihrer Sicht – genau so. Im Bild-Aufmacher vom 30.07.1992 heißt es: »Erich Honecker ist zu spät gekommen. Und zu spät gegangen. Sein Leben steht für den Aufstieg und Fall des Weltkommunismus. Jetzt wird er sich als höchster Vertreter des deutschen Kommunismus vor Gericht verantworten müssen«. Und die taz sekundiert am selben Tag: »Aber unabhängig von der Frage, ob ein Strafprozeß gegen Honecker juristisch haltbar bzw. rechtspolitisch sinnvoll ist – an seiner Person und dem von ihm repräsentierten Regime gibt es nichts zu retten und nichts zu rechtfertigen.«
 
Honecker macht sich allerdings auch keinerlei Illusionen über den Wettlauf mit der Zeit. Immer schneller kommen die medizinischen Hiobsnachrichten, die ihn am 18. August zu der schwarzhumorigen Äußerung veranlassen: »Die Justiz kann sich blamieren, wenn sie einen Prozess mit mir beginnt, ohne sicher zu sein, dass er auch mit mir beendet wird.« (S. 75). Am Folgetag notiert er, nachdem er über die Massenentlassungen und Deindustrialisierung der DDR reflektiert hat: »Was mussten die Bürger der DDR alles für den Anschluss an die BRD opfern! Und wer hat hier das Recht auf Anklage? Es ist in der Geschichte der deutschen Justiz wohl einmalig, dass sie einen Krebskranken, der nicht weiß, wann sein Tod da ist, vor ihre Schranken zerrt.« (S. 77)
 
Den Anachronismus seines Prozesses deckt der Angeklagte selbst mehrfach auf, so bspw. im Eintrag vom 11. August: »Im Radio melden sie, dass Gorbatschow nach Berlin kommt, um Ehrenbürger der Stadt zu werden. Welch doppelbödige Moral ist hier am Werke? Der ehemalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion wird von denselben Leuten ans Herz gedrückt, die einen anderen Generalsekretär einsperren. Ich hoffe, dass die Bürger der Hauptstadt der DDR ihm für seinen Verrat angemessen danken. Für die Zerschlagung der Betriebe, die Beseitigung der Arbeitsplätze, für die Massenarbeitslosigkeit, für die Einsetzung der Wessis in alle Ämter der neuen Bundesländer, für den Ruin der ostdeutschen Wirtschaft, die Abwicklung der Akademiker usw.« (S. 36). Hier wird zugleich seine Einschätzung des früheren Generalsekretärs der KPdSU deutlich, die in späteren Einträgen, unterfüttert mit zahlreichen Fakten, mehrfach zum Ausdruck kommt.
 
Dem stellt er in mehreren Eintragungen die historische Bedeutung der DDR, die vor allem nach deren Liquidierung offen zu Tage liegt (Krieg gegen Jugoslawien, Zerstörung der DDR-Industrie, Massenerwerbslosigkeit usw.), gegenüber - incl. der Bedeutung internationalistischen Handelns, bspw. gegenüber Cuba und anderen Ländern des Trikonts, so z.B. exemplarisch am 18. September: »Die Bosse in den international handelnden Konzernen und Banken entscheiden über Ländergrenzen hinweg über die ökonomische und soziale Entwicklung von Staaten (…) Auch die deutsche Bourgeoisie wird auf Dauer den hohen Stundenlohn in der BRD nicht halten können, der ja zur Verschleierung der Profite dient. (…) Der angebliche Aufschwung Ost ist in Wahrheit ein Aufschwung West, ein Konjunkturprogramm auf dem Rücken der Ossis. Fragt auch nur einer, warum die arme DDR mit ihrer Kommando-Wirtschaft sich Kinderkrippen, Ferienlager, Kultur, Bildung etc. leistete, aber die reiche BRD nicht und im sozialen Bereich zunehmend Abstriche macht? Hat das nichts mit dem Charakter der Gesellschaft zu tun? « (S. 124f.)
 
Einen Einblick in das »private« Denken Honeckers geben seine Erinnerungen an Kindheit und Jugend im Bergarbeiterhaushalt der Eltern im saarländischen Wiebelskirchen: »Ja, und meine Mama, was soll ich sagen? Ihre Sorge galt bis ins hohe Alter den Kindern. Wir waren immerhin sechs. Drei Mädel, drei Jungs, also alles gut verteilt. Unser Jüngster, Robert, wurde mitten im Bergarbeiterstreikjahr 1923 geboren und im Jahr der Kämpfe in Mitteldeutschland und Hamburg. Aber das war jenseits der Grenze, im Reich. Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, erinnere ich mich an Hans Marchwitzas Buch „Die Kumiaks“. Es ist dem Leben und Kampf der Bergarbeiter gewidmet. Ein Spruch daraus kennzeichnet alles: „Schinken ist ein gutes Essen. Ich habe zwar noch keinen gegessen, ich habe aber schon neben einem gesessen, der hat einen einen Schinken essen sehen.“ Heute unvorstellbar, aber wahr.« (S. 49) Entsprechend sorgt er sich in mehreren Einträgen um die soziale Absicherung der Adressatin seiner Notizen, seiner Frau Margot. Neben den 10 Jahren Gefängnis unter dem Faschismus waren dies die prägenden Erfahrungen seines Lebens.
 
Die sicherlich auch durch solche Erlebnisse gespeiste, persönliche Standhaftigkeit des Kommunisten Erich Honecker kommt in einem kategorischen Eintrag vom 6. November zum Ausdruck: »Der Bundesgerichtshof ist ein Gerichtshof des Kalten Krieges, er ist nicht für mich zuständig. Gesetze der Bundesrepublik sind auf Bürger der DDR nicht rückwirkend anwendbar. Auch im Nachhinein bin ich nicht bereit, den Alleinvertretungsanspruch der BRD zu akzeptieren. Zu Zugeständnissen bin nicht bereit, ich werde vor der Anmaßung nicht kapitulieren.« (S.136)
 
Beklemmend aktuell sind in diesem Zusammenhang mehrere seiner Eintragungen zum Thema Neofaschismus, bspw. die vom 31. August: »Die Neo-Nazis stoßen in eine Situation, die für sie günstig ist: Arbeitslosigkeit, keine Perspektive. In fast jeder Familie Streit, Zukunftsängste, in manchen Orten beträgt die Arbeitslosigkeit 40 bis 70 Prozent. „Aufschwung Ost“? Nur Abschwung, kein Aufschwung. Die Industrie der DDR hat man zerschlagen, die Absatzmärkte im Osten und Südosten sind über Nacht weggebrochen, als man auf DM umstellte. Bedarf ist da, aber kein Geld bis Wladiwostok. Das alles erzeugt Hoffnungslosigkeit (…) Die Experten sprechen davon, dass es zehn bis fünfzehn Jahre dauern werde, bis die Wirtschaft im Osten Deutschlands wieder steht. Das sagt man jetzt. Und in zehn oder fünfzehn Jahren: Was sagt man dann? Die Krise in Deutschland ist doch nur ein Teil der Krise der ganzen Welt.« (S. 101f.)
 
Eine Besonderheit des Buches besteht darin, dass den Aufzeichnungen Honeckers nach jedem Tag ausführliche Anmerkungen der Herausgeber zugeordnet sind, so dass sich sowohl Hintergründe zu genannten Personen wie die geschichtlichen Sachverhalte unmittelbar erschließen. Zu diesen sachlichen Anmerkungen zählen auch einmalige zeitgeschichtliche Dokumente, so bspw. das vom Armeegeneral und Stabschef der Vereinigten Streitkräfte des Warschauer Vertrages, Mitglied des ZK der KPdSU, Anatoli I. Gribkow, und von Marschal Kulikow an das Berliner Gericht gesandte Schreiben, in dem ausführlich die völkerrechtliche Zuständigkeit der UdSSR für das Grenzregime, dessentwegen Honecker angeklagt wurde, belegt wird. (S. 112ff.)
 
Am 12. November 1992 begann der Prozess. Am 3. Dezember, dem sechsten Prozesstag, erhält der Angeklagte das Wort und verliest die Erklärung, an der er während der vorangegangenen Monaten intensiv gearbeitet hatte. Diese Rede war auf Betreiben des Solidaritätskomitees von dessen Mitglied Helmut Große bereits Ende 1992 als Broschüre veröffentlicht worden. Sie ist in dem vorliegenden Buch nochmals in ganzer Länge abgedruckt (S. 146 – 168) und stellt ein historisches Dokument dar, das es unbedingt wert ist, noch einmal - oder auch erstmals - ausführlich studiert zu werden. Honeckers Rechtsanwalt Friedrich Wolff äußerte sich später zu dessen Vortrag: »Während Honecker seine Erklärung vortrug, war ich zunächst voller Besorgnis, ob es ihm gelingen würde, den Text angemessen zu lesen. Erst allmählich wich diese Besorgnis. Im Saal herrschte gespannte Aufmerksamkeit. Auch das Gericht und die Staatsanwälte waren nach meinem Eindruck gebannt. Die Stille wurde nur durch den demonstrativen Abgang der Nebenklägervertreter und durch gelegentlichen Beifall aus den Reihen der Zuhörer unterbrochen. Nachdem Honecker geendet hatte, erklärte Bräutigam nach kurzer Besinnung: „Das müssen wir erst verarbeiten“ und vertagte die Verhandlung auf den 7. Dezember.« (S. 169)
 
Trotz allem Vernichtungswillen konnte die deutsche Klassenjustiz schließlich die immer bedrohlicheren medizinischen Diagnosen nicht mehr verleugnen. Die Anwälte hatten in einer Verfassungsbeschwerde vom 29. Dezember erneut deutlich gemacht, dass eine Prozeßfortführung bedeute, dass »der Gerichtssaal für den Angeklagten zum Sterbezimmer« werden würde (S. 182).
 
Am 7. Januar 1993 wurde der Beschluss verkündet, »das Verfahren gegen Honecker von dem seiner mitangeklagten Genossen abzutrennen, was eine Vorentscheidung darstellte.« (S. 185) Am 13. Januar wurden die Anwälte über die Aufhebung des Haftbefehls informiert. Nur wenige Stunden später versuchte die Staatsanwaltschaft die Entlassung Honeckers in letzter Sekunde zu verhindern, da der Einstellungsbeschluss wegen eines Formfehlers aufgehoben sei und Honecker nunmehr wieder zur Hauptverhandlung zu erscheinen habe. Dieser flog jedoch um 20:25 Uhr dieses Tages planmäßig und mit Unterstützung und Begleitung des Solidaritätskomitees ab Tegel zu seiner Frau Margot nach Chile. Unmittelbar bei seiner Ankunft dort erhielt er die Vorladung für die »Fortsetzung der Hauptverhandlung am 8. Februar 1993, 9:30 Uhr im Saal 500 des Kriminalgerichts Berlin-Moabit, Turmstraße 91« (S. 189). Die Antwort Honeckers vom 29. Januar 1993 ist unter Verweis auf die Befunde sowie den Rat der ihn behandelnden Ärzte überliefert: Er werde »definitiv zu diesem Termin nicht erscheinen«.
 
Erich Honecker starb am 29. Mai 1994 in Santiago de Chile.
 
Der deutsche Imperialismus wollte Honecker politisch-moralisch brechen. Das ist ihm nicht gelungen.
 
Der deutsche Imperialismus wollte Honecker (alternativ) vor den Schranken des Gerichts physisch zerstören. Auch diese Hoffnung hatte sich mit der erzwungenen Einstellung des Verfahrens zerschlagen.
 
Die Verwüstungen, die der Kapitalismus nach dem Anschluss der DDR nunmehr gesamtdeutsch angerichtet hat und weiter anrichtet, konnten dagegen bis heute nicht gestoppt werden.
 
Für den notwendigen Abwehrkampf ebenso wie für eine unausweichliche Gegenoffensive sollten sich die handelnden Kräfte allerdings ihrer eigenen Geschichte bewusst sein. Dazu gehört auch der standhafte Kampf des Antifaschisten und obersten Repräsentanten der DDR Erich Honecker vor den Schranken der deutschen Klassenjustiz. Insofern ist das vorliegende Buch nicht nur »eine Fundgrube für Historiker«, ein »Dokument mit historischem Gewicht«, wie Günter Benser treffend in der Tageszeitung »neues deutschland« schreibt (14.03.2012), sondern auch ein Beispiel für politisch-moralisch aufrechtes Handeln von Kommunisten in schwersten Stunden. (PK)
 

[1] In diesem Appell heisst es u.a.:
»Honeckers Leben ist in Gefahr. Die Forderung der Bundesregierung, den ehemaligen Staatsratsvorsitzenden der DDR, Erich Honecker, an die Justiz auszuliefern, mit der Kenntnis, daß Honecker auf der Intensivstation im sowjetischen Militärhospital liegt, ist ein Akt der Barbarei. Einen Menschen mit Verschleppung ins Gefängnis zu bedrohen, bei dem akute Lebensgefahr besteht, widerspricht allen Gepflogenheiten zivilisierter Staaten. Objektiv bedeutet das, Honeckers Tod schneller herbeizuführen. Sich die erneut erhobenen Vorwürfe gegen Honecker und gegen andere ehemalige DDR-Politiker dienen diesem Zweck (…). Die Beratung fordert erneut:
Einstellung aller Bedrohungen gegen Erich Honecker, sowohl von Seiten der Behörden als auch in den Medien. Gewährung aller in unserem Grundgesetz verankerten Bürgerrechte einschließlich des Rechts auf eine eigene Wohnung.«
 
[2] Diese Ankunft in Moabit ist im Internet als Video dokumentiert unter:
http://www.myvideo.de/watch/5885126/Erich_-Honecker_29_07_1992_Ankunft_in_Berlin_Moabit
 
Heinz-W. Hammer ist Gründungsmitglied des »Solidaritätskomitees für Erich Honecker«
Das Buch von Erich Honecker »Letzte Aufzeichnungen – Für Margot« erschien in der edition ost im Verlag Das Neue Berlin, Berlin, 2012, ISBN: 978-3-360-01837-3, 190 Seiten, € 14,95


Online-Flyer Nr. 353  vom 09.05.2012

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