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Kommentar
Ein EU-Beschluss und die Folgen:
Sprechen Sie Europäisch?
Von Jan Kruse

Das öffentliche Interesse an der Sprachenpolitik Europas ist groß, auch wenn es oft nicht so scheint. Und die Kreditkrise hat den Blick auf das kulturelle Europa verengt. Aber die Anteilnahme an den Spracherfahrungen von Günther Öttinger und Guido Westerwelle ist im politischen Gedächtnis geblieben, ebenso wie einst Joschka Fischer, der in einer Pressekonferenz zur Zukunft der deutschen Außenpolitik sagte: „There is no German Sonderweg“. Und schließlich konnte man sich über den tapferen Dialog zwischen Angela Merkel und Nicolas Sarkozy im Februar dieses Jahres amüsieren.
 

Moloch Europaparlament....

Auf die Frage „Are you tired?“, antwortete Merkel überrascht: „Tired? – Nö!“. Die Wirklichkeit ist Denglisch, Franglais, Espanglis oder Engliano. Damit wird die häufige Verwendung von englischen Wörtern in der eigenen Sprache bezeichnet, aber es könnte auch für die Zukunft stehen, für europäische Varianten des Englischen, die sich regional voneinander unterscheiden. Es scheint unvermeidbar, dass Englisch zur einzigen internationalen Sprache wird, die allen gemeinsam ist. Noch aber lehnt der Deutsche Bundestag immer wieder die Zusammenarbeit mit der EU-Kommission ab, weil Dokumente nicht auf Deutsch vorliegen und die Fremdsprachenkenntnisse der Parlamentarier nicht ausreichen, um auf Englisch arbeiten zu können. Angesichts der Menge und Komplexität des Materials wäre alles andere ein Wunder. Wie steht es aber dann gar um eine zweite Fremdsprache?
 
Heute vor 10 Jahren, am 16. März 2002, beschloss der Europäische Rat auf seinem Frühjahrstreffen in Barcelona eine weitreichende Entscheidung über die Sprachenkenntnisse der Europäer. Wir alle sollen zwei Fremdsprachen beherrschen. Die Formulierung dieses Beschlusses klingt beinahe lapidar: Ziel ist die Verbesserung der Aneignung von fremdsprachlichen Grundkenntnissen, insbesondere durch Unterricht in mindestens zwei Sprachen vom jüngsten Kindesalter an. Weniger bescheiden allerdings sind die Folgen, die er hatte. Und richtig verstehen lässt er sich nur mit Blick auf die Geschichte der Sprachenvielfalt in der EU. Ihm liegt die Frage zugrunde, wie wir uns in Europa miteinander verständigen wollen.
 
Oft steht der Turmbau zu Babel sinnbildlich für die europäische Sprachenvielfalt. So scheint es fast, als wäre das Streben der Europäischen Gemeinschaft nach Frieden und Völkerverständigung ähnlich gestraft wie einst die Überheblichkeit der Menschen im biblischen Babylon. Europa braucht aber eine säkulare Seele, sagte der vormalige Kommissionspräsident Jacques Delors im Jahr 2010 und spricht damit die Bildungssysteme in Europa an. Die Geschichte des Kontinents mit all seinen Kriegen und Nationalismen hat vor dieses Streben aber die Verständnislosigkeit gestellt. Ein Weg, diese zu überwinden, könnte sein, die Sprachen der Nachbarn zu lernen und zu sprechen. Mehrsprachigkeit sei gar Teil des genetischen Codes der EU, stellt die Kommission dazu fest.


...und das Sprachchaos: Simultandolmetscher
Fotos: H.-D. Hey - R-mediabase
 
Die neue Sprachenpolitik der EU hat eine 18-jährige Vorgeschichte und besteht nunmehr 10 Jahre. Es hat seitdem ein eigenes Kommissariat für Mehrsprachigkeit gegeben, das von 2007 bis 2010 vom Rumänen Leonard Orban besetzt war. Danach wurde es leider wieder aufgelöst, was einige für einen großen Fehler halten. Vielleicht war das Kommissariat keine Erfolgsgeschichte, weil es keine kohärente Sprachenpolitik entwickeln konnte. Aber es sollte der Anwalt der Nationalsprachen in einer EU sein, die sich in der politischen Praxis zum Anwalt der Weltsprache Englisch gemacht hat.
 
Heute ist die Sprachenpolitik der EU im Kommissariat "Bildung, Kultur, Mehrsprachigkeit und Jugend“ verborgen und hat sich seitdem auch kaum weiterentwickelt. Zahlreiche EU-Förderprogramme, wie das populäre Erasmus-Austauschprogramm, haben auch einen sprachenpolitischen Hintergrund. Der größte Dolmetscher- und Übersetzerdienst der Welt ist die EU. Die Kosten für die Sprachausbildung und damit der wirtschaftliche Vorteil derer, deren Sprachen gelernt werden, sind enorm.
 
Vor allem den großen Nationen gefällt die Verbreitung des Englischen nicht, da ihre Sprachen aus den internationalen Bereichen verdrängt werden. Sie fürchten sogar um die Sprache im eigenen Land. Damit dies keine Bedrohung ist, sollen alle Bürger neben Englisch noch eine weitere Sprache lernen. Vor allem kleine Sprachen wie Walisisch, Griechisch oder Portugiesisch. Diese sollen die Verbundenheit mit einem Staat fördern und so die europäische Identität stärken. Doch die Forderung geht an der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen vorbei. Zum einen an der Wirklichkeit der Europäer, die mit ihrer eigenen Sprache wunderbar leben können und zum anderen an der Wirklichkeit vieler Einwanderer, die mehrere Sprachen beherrschen, für die in Europa aber kein rechter Platz zu sein scheint.
 
Seit 2002 werden überall mit dieser Referenz Sprachen gelernt oder besser, oft nur kennen gelernt. Die EU fördert lustige Maßnahmen, wie ein vielsprachiges Audioangebot: Märchen für Kinder am Flughafen und Sprachenlernen in öffentlichen Verkehrsmitteln, aber auch Fremdsprachen-Crashkurse für Fußballfans und Soldaten. An der grundsätzlich internationalen Bedeutung von Sprachen wird dies wenig ändern. Die Grenzen in Europa sind gefallen, wir sollen Sprachen lernen, um sie zu überschreiten. Aber nur etwa 3 % aller EU-Bürger leben im europäischen Ausland. Die Außengrenzen Europas sind hingegen so verschlossen wie nie. Die Sprachen derer, die sie überwinden, werden nicht besonders gefördert. Dabei könnten sie einen vielversprechenden Beitrag zur internationalen Kommunikation in Europa leisten. Das Dilemma aber bleibt, dass es keine Sprache Europas gibt. Sie würde vermutlich Europäisch heißen.
 
10 Jahre Barcelona: Trotz des großen Interesses sind die Sprachenkenntnisse außer Englisch der Europäer nur um 2 % Prozent gestiegen. Vielleicht ist diese Politik machtlos geworden. Vielleicht ist aber auch der Kontakt mit den Sprachenbedürfnissen der meisten Bürger verloren gegangen. Aber nach 10 Jahren lohnt der optimistische Blick in die Zukunft.
Tired? – Nö! (PK)
 
Autor Jan Kruse ist Sprachwissenschaftler und Betreiber der Fotopension.
 


Online-Flyer Nr. 346  vom 21.03.2012

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