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Aktueller Online-Flyer vom 26. April 2024  

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Globales
Unterwegs im postrevolutionären Touristenparadies
Freie Fahrt für freie Bürger!
Von Dietmar Spengler

Zwei Monate sollen es diesmal sein. In Sousse, der Stadt am Meer in Tunesien; dem Winterparadies der deutschen Sozialrentner und Minipensionäre. Mitte November bis Mitte Januar. Den Feiertagen aus dem Weg gehen. Diesmal bin ich in Hana Beach, zwischen den verkehrsreichsten Straßen der Stadt. Von 650 Zimmern sind 100 belegt! Die Finanzkrise dort und die politische Krise hier fordern ihren Tribut. Revolution war nie ein Ding der Deutschen!

Alle Fotos: Dietmar Spengler
 
Sousse, in der Mitte gelegen, liegt verkehrsgünstig um die tunesischen Patrimoines schnell zu erreichen. Ben Ali ist gegangen, die Stadt ist einige Phon lauter und um einige Ecken schmutziger geworden. Und dem Morgenruf des Muezzin widersteht kein Ohropax mehr.
Seit kurzem kann man wieder über Politik reden. Auf der Straße, im Café. Auf der Corniche Boujawar rast der Verkehr mehr denn je. Von morgens bis tief in die Nacht. Die Corniche ist ein großzügig dimensionierter Boulevard, drei Fahr- und zwei Parkspuren, mit breitem Fußgängerstreifen – und einer Geschwindigkeitsbeschränkung von 30 km/h. Eine Uferpromenade mit wunderbarem Ausblick aufs Meer: Flaniermeile für Volk und Touristik. Fünf Geschwindigkeitsschilder stehen auf den 1,5 Kilometern der Corniche, doch keinen kümmert es. Beim Fußball dagegen werden peinlich genau die Regeln eingefordert! Hier fallen die Verkehrsregeln der allgemeinen Willkür anheim. „Nous sommes dans une epoque de la transition“ entschuldigt der Polizeibeamte die gewohnheitsmäßigen Verkehrsübertretungen. Andere weisen mit „inchallah“ dem alles Lenkenden im Himmel die Verantwortung zu.
 
Freiheit für alle!
 
Die neu errungene Freiheit, so hat man den Eindruck, wird hier verstanden als die Freiheit vom Gesetz. Eine Freiheit, die als Missachtung allgemeiner Freiheit praktiziert wird. Die Demokratie, von der alle reden, verstehen sie als eine Staatsverfassung, in der jedermann sich sein eigenes Recht schmieden kann. Der Garant gesellschaftskonstituierender Regeln, die Polizei, ist seiner engen Verflechtung mit dem Ancièn Regime wegen auf Tauchstation gegangen.
 
„Priorité absolue aux pietons“ heißt es auf den weithin sichtbaren Schildern, die hier die Zebrastreifen markieren. Nichtexistent, wie die Geschwindigkeitsschilder für Auto- und Motorradfahrer. Vor einigen Tagen noch wurde ein französischer Urlauber vor dem Chems El Hana über den Haufen gefahren, weil er nicht schnell genug zu Fuß war! Und kein Wort darüber in den französischsprachigen Tageszeitungen.


 
Die ‚motards‘ hat wohl der sogenannte „arabische Frühling“ ins Land geschwemmt. Da gibt es eine Handvoll schwer motorisierter Schwachköpfe, die ihr Humandefizit damit kompensieren, dass sie mit heulenden Motoren und halsbrecherischem Tempo über die Corniche donnern, nachmittags und abends, wenn das Auge des Gesetzes nur noch zwinkert. Diese gemeingefährlichen Idioten, die mit physischem und psychischem Terror Passanten und Erholungssuchende terrorisieren, treiben ihr Unwesen unter dem Schutz der örtlichen Polizei, genießen Narrenfreiheit in einer Stadt die vom Tourismus lebt! Geduldig wird dies revolutionsbedingt hingenommen: Man beanspruche jetzt die Freiheit, die man so lange entbehrt habe, heißt es.
 
Was ist zu tun?
 
Die Antwort der Touristeninformation: Kommune und Polizei seien dafür verantwortlich. Der zuständige Sekretär im Hôtel de ville zuckt mit den Schultern: Die Stadt habe schon einmal einen Vorstoß unternommen mit geschwindigkeitsmindernden Schwellen auf der Corniche, doch die Verkehrspolizei habe sie wieder beseitigt. Zuständig sei allein diese. Die an zwei Stellen präsenten Verkehrsposten, die fortwährend mit ihren Trillerpfeifen zugange sind - auf der Corniche sucht man sie vergebens - haben nur ein mitleidiges Lächeln für den landesfremden Fragesteller nach Geschwindigkeitskontrollen übrig. Draußen in der Hotelzone, zwischen Moevenpick und Marabout, stehen sie zu dritt, einer die ‚mitraillette‘ unter dem Arm, und haben einen Kontrollposten eingerichtet. Wo 40 km/h zugelassen sind, rast einer dieser PS-trunkenen Neandertaler vorbei an den munter weiter plauschenden Hütern des Gesetzes. Wegschauen, Weghören ist die Devise. Freundlich wird dem verwunderten Touristen Auskunft erteilt, für Zweiräder sei man nicht zuständig, allein den Autoverkehr zu überwachen sei Aufgabe des Postens.
 
Da bleibt nur noch der Gang zum Verkehrskommissariat. Im Foyer wird die Carte d'idendité abgegeben, der Chef verständigt, ein Allemand sei gekommen, die hiesigen Verkehrsgeheimnisse zu ergründen. Hinter dem Schreibtisch ein unter Ben Ali reüssierter Haudegen mit Schnauzer, in grauem Stoff und Lametta. Selbstverständlich kenne er das Problem. Seine Effizienz beteuernd, holt er einen Packen Strafzettel hervor – nur keine Geschwindigkeitsübertretung ist dabei! Vorrangig sei man damit beschäftigt, Unfälle zu vermeiden, versichert der gute Mann. Gegen die Raser auf der Corniche sei man machtlos. Keine Geräte, keine Mittel. Und dann kommt noch das unvermeidliche „normalement“, das den gesetzlichen Zustand beschreibt, der ohnehin nie zum Tragen kommt. „Normalement“ müssten die sich wie alle Verkehrsteilnehmer an die gesetzlichen Vorschriften halten. Aber man sei in einer besonderen Situation. So sei halt die Mentalität der Hiesigen – und die könne man so schnell nicht ändern. Ob denn die Mentalität über dem Gesetz stehe wird nach kurzer Denkpause verneint. Dass die Polizei Garant für die Einhaltung der Verkehrsregeln sei, wird bejaht. Auch die Aufgabe, die Bevölkerung vor den Verkehrsraudis zu schützen will der Kommissariatsleiter nicht abstreiten. Man wird sehen was das kommende Jahr bringt! „Normalement“, „mentalité“ und „transition“ sind die Zauberworte, mit denen zurzeit alles und jeder entschuldigt wird.


 
Noch ein Wort zur passage pour piétons. Hier kommt man zu der Erkenntnis, dass die Zebrastreifen als eine besondere Parkzone angesehen werden. Kaum, dass man ungehindert von geparkten Fahrzeugen die Straße überqueren kann. Gravierend wird es dort, wo die Gehsteige für Rollstuhlfahrer abgesenkt sind. Notorisch zugeparkt, wo die Pfeifenvirtuosen ihr Handwerk ausüben, wenige Meter vom Hauptquartier der Polizei. Die Wache der Police de secours ist delikaterweise im Keller einer Moschee untergebracht. Vom Eingang der Wache führt ein Fußgängerübergang auf eine palmenbestandene Verkehrsinsel. Auf dem Zebrastreifen parkt ein Taxi. Auf die Frage an den Wachhabenden, ob das in Ordnung sei, kommt die Antwort: Der Fahrer sei zum Beten in der Moschee. Ausgewiesene Parkverbote werden hier grundsätzlich nicht geahndet! Da werden die von Minister Westerwelle versprochenen „strategischen Transformationspartner“ einiges zu tun bekommen!
Schwer für einen allemannischen Pedanten, sich damit abzufinden. Diese Touristen haben gut reden, kommen daher, genießen für billiges Geld Gastfreundschaft und Sonne und meckern an allem rum! Richtig, kann man nur sagen; doch Ignoranz dessen, was der Allgemeinheit bislang verboten war anzuprangern, obgleich sie stets darunter litt, und ihr jetzt nicht beizustehen mit Kritik, wäre wohl ein schlechter Freundschaftsdienst.
 
In Zukunft betrete ich die passage pour piétons nur noch mit gezückter Kamera, um wenigstens ein Präventivbild meines möglichen Mörders im Kasten zu haben. Vielleicht hat mein englischer Tischnachbar mit seiner pessimistischen Prognose doch recht: „statt Frühling wird es wohl einen langen Winter in Tunesien geben“. (PK)
 
Dietmar Spengler aus Köln ist promovierter Kunsthistoriker im Ruhestand und kann das Räsonieren nicht lassen!


Online-Flyer Nr. 340  vom 08.02.2012

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