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Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

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Arbeit und Soziales
Rechtsbeistand für Klage wegen Bildungspaket einfach rausgeschmissen
Eklat im Landessozialgericht Essen
Von Peter Kleinert

Zu einem Eklat, der von den üblichen Medien trotz einer Presseerklärung der Hartz4-Plattform vom 2.12. nicht veröffentlicht wurde, kam es in der vergangenen Woche vor dem Landessozialgericht NRW in Essen. Richter Philippi vom 2. Senat verwies die Sprecherin der Hartz4-kritischen Initiative Brigitte Vallenthin aus dem Saal, wo sie - mit einer Vollmacht der Klägerin - dieser Beistand bei einer Grundsatzklage in Sachen Bildungspaket wegen Verfassungswidrigkeit sowie Verstoß gegen europäisches Antidiskriminierungsrecht und UN-Menschenrechtskonvention leisten sollte. Weil die Klägerin nicht auf ihren Beistand verzichten wollte, vertagte der Richter Philippi kurzerhand den Erörterungstermin.
 

Brigitte Vallenthin – trotz
Vollmacht der Klägerin
aus dem Gerichtssaal
verwiesen
NRhZ-Archiv
„Dass der Richter den Termin einfach platzen ließ, weil er mich nicht als Beistand dabei haben wollte, stellt nach Einschätzung unserer Bürgerinitiative einen eklatanten Verstoß gegen das Recht der alleinerziehenden Klägerin dar“, resümierte Brigitte Vallenthin gegenüber der NRhZ den vertagten Erörterungstermin. „Darüber hinaus empfinden wir es als brüske Verweigerung der Rechte auf gleiche Bildungschancen und diskriminierungsfreie gesellschaftliche Teilhabe, dass der Richter gleich zu Verhandlungsbeginn erklärte, er wolledas umfangreich - nicht zuletzt auch mit Stellungnahmen des Verbandes alleinerziehender Mütter und Väter sowie des Deutschen Kinderschutzbundes - begründete Klagevorbringen gegen die Diskriminierung ihrer minderjährigen Tochter und damit auch den Antrag auf Vorlage beim Bundesverfassungsgericht nicht verhandeln."
 
Und, so Brigitte Vallenthin: "Der Eklat im Verfahren um die Verfassungswidrigkeit des sogenannten Bildungspakets der ehemaligen Familienministerin von der Leyen hätte größer kaum sein können, so die Einschätzung der Hartz4-Plattform. Denn schon mit seinem Eröffnungsstate- ment stieß der Richter alle armen Kinder und deren Eltern gleich zweimal vor den Kopf: Er erklärte seine Absicht, den Inhalt der Klageschriftsätze nicht zum Gegenstand der Verhandlung machen zu wollen. Das Landessozialgericht verweigerte damit ausdrücklich eine Überprüfung, ob das Bildungspaket mit der Verfassung vereinbar ist und ob die Vorgaben des Bundesverfassungs-gerichts-Urteils vom 9.Februar 2010 darin tatsächlich umgesetzt wurden. Das Landessozialgericht lehnte es gleichzeitig ab, in diesem Zusammenhangdie vom UN-Ausschuss über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte seit 10 Jahren angemahnte Erfüllung seiner Rechtspflichten bezüglich der Ungleichbehandlung armer Kinder in Deutschland sowie die für die deutsche Rechtsprechung verpflichtend bindenden Europäischen Antidiskriminierungs-Rechtsnormen auf den Prüfstand zu stellen."
 
Die Unzulässigkeit von Vallenthins Beistandschaft begründete der Richter damit, dass sie als Bürgerinitiativen-Vertreterin diese Unterstützung „gewerbsmäßig“ betreibe. Denn, so der Richter, die "Gewerbsmäßigkeit“ sei bereits dann erfüllt, wenn sie mindestens zweimal Menschen in Gerichtsverhandlungen begleitet hätte. Dabei spiele es auch keine Rolle, wenn eine solche Unterstützung wie in diesem Falle nicht im Zusammenhang mit einer entgeltlichen Tätigkeit stehe.
 
Während die von der Klägerin bevollmächtigte Brigitte Vallenthin als Beistand aus dem Saal gewiesen wurde, hatte der Richter andererseits keine Probleme mit der Anwesenheit einer von ihm für keine der vor Gericht vertretenen Parteien aufgerufenen männlichen Person, die dort mit Schreibblock und Stift gerüstet - und mit welchem Recht auch immer - in der nicht öffentlichen Verhandlung offenbar geduldet war.
 
Und noch einen Affront musste die Hartz4-Klägerin hinnehmen, die wie eine Löwin gegen die Diskriminierung ihres Kindes kämpft. Zum Schutze der Persönlichkeit ihrer Tochter hatte sie beantragt, ihren Namen nicht öffentlich auf der Termintafel vor dem Gerichtssaal zu benennen. Auch diesem Anliegen ist der Richter nicht gefolgt, sondern hat ihren Namen dort öffentlich preisgegeben.
 

Landessozialgerichtspräsidentin
Ricarda Brandts – hat eine Anfrage
der Redaktion zum Verhalten ihres
Kollegen Philippi durch ihren
Pressesprecher beantworten lassen.
Siehe Ende dieses Artikels.
Um sie als Bevollmächtigte der Klägerin endgültig abzuweisen, will Richter Philippi laut Brigitte Vallenthin einen Beschluss des gesamten 2. Senats einholen, der aus drei Richtern besteht. Vorsitzende Richterin ist Frau Lente-Poertgen. "Nach unserer Einschätzung dürfte seine Begründung aus der Gesetzeslage schwerlich abzuleiten sein. Denn im relevanten § 73 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist ein Ausschlussgrund wegen "Gewerbs-mäßigkeit“ bei ehrenamtlicher Beistandschaft nicht zu finden. Wir wollen auf alle Fälle dagegen halten, denn im § 73 Abs. 7 SGG wird die Voraussetzung eines nicht zur gerichtlichen Vertretung Zugelas- senen in der Funktion als "Beistand“ ausdrücklichermöglicht, „wenn dies sachdienlich ist und hierfür nach den Umständen des Einzelfalls ein Bedürfnis besteht. Das sehen wir ebenso wie die Klägerin in meiner Person erfüllt. Ich werde also zum nächsten Termin wieder hinfahren."
 
Sollte es wieder nur einen Erörterungstermin geben - der in der Regel zum Ziele hat, die Kläger mit einem Kompromiss abzuspeisen und die Klage zurück zu nehmen - wird die Klägerin auch dort weiterhin auf der Verhandlung ihrer Klage, der Anhörung der bereits genannten Zeugen bestehen. Dies sind bisher Christoph Butterwegge, Professor für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln, u.a. mit dem Forschungsschwerpunkt Sozialstaatsentwicklung, der Verband alleinerziehender Mütter und Väter sowie der Deutsche Kinderschutz- bund. Wenn der Senat die Klage wie zu erwarten in einer ordentlichen münd- lichen Verhandlung ablehnen sollte, könnte das Verfahren in die Revision der 3. Instanz, also zum Bundessozialgericht gehen.
 

Landessozialgericht NRW in Essen – der
nächste Termin ist noch offen
Die Mutter des Mädchens will jedenfalls bis zum Ende für das vom Bundesverfassungsgericht mit seinem Hartz IV-Urteil vom 9.2.2010 geforderte „menschen-würdige Existenzminimum“ für ihre Tochter kämpfen und gegen Diskriminierungen wie Daten-freigabe-Zwang in den Anträgen des Bildungs-pakets gegenüber beispielsweise Schule, Sportverein, Musiklehrer etc. bis hin zu der von ihr geforderten Einverständniserklärung, dass auch dem Caterer fürs Mittagessen in der Schule der Hartz IV-Leistungsbescheid offenbart werden muss. Ihr geht es, so Brigitte Vallenthin, "natürlich vor allem um ihr Kind. Sie ist aber auch von der südländischen Liebe zu allen Kindern und einem Respekt ihnen gegenüber getragen, die sie nicht, wie dies hierzulande häufig der Fall ist, bloß alspotenzielle Rentenbeschaffer sieht, und deshalb entschlossen, für alle Kinder zu kämpfen." Das tut diese Frau inzwischen seit ihrem Antrag auf "einstweiligen Rechtsschutz“ (Eilklage wegen Notlage), der am 17. August beim Sozialgericht eingereicht und dort am 31. August abgelehnt wurde, worauf sie dann am 8. September Beschwerde beim Landessozialgericht eingelegt hatte - mit dem beschriebenen bisherigen Ergebnis. Darauf folgten bereits zwei Tage nach dem Gerichtstermin mehrere „Versagungs-, Entziehungs- und Ablehnungsbescheide“ für Schulausflüge, Klassenfahrt, Schulbus, Sportverein, Nachhilfeunterricht und in der Schule angebotenes Mittagessen. „War das Jobcenter beleidigt wegen der Standhaftigkeit der Klägerin vor Gericht, dass es ohne lange zu fackeln Antworten auf die Bildungspaketanträge heraus schickte, die eigentlich seit 5 Monaten fällig gewesen wären?“ fragt Brigitte Vallenthin.
 
Was das endgültige Ergebnis angeht, ist Brigitte Vallenthin trotzdem optimistisch: "Was die Diskriminierung ihres Kindes betrifft, hat die Klägerin ja in den Klageschriftsätzen nicht nur die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit durch das Bundesverfassungsgericht beantragt sondern auch auf die UN-Menschenrechtskonvention hingewiesen, sowie auf die jüngst durch die Medien gegangene Kritik des UN-Ausschusses über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und dessen seit 10 Jahren angemahnte Erfüllung der Rechtspflichten durch die Bundesregierung bezüglich der Ungleichbehandlung armer Kinder in Deutschland und ebenso auf die für die deutsche Rechtsprechung verpflichtend bindenden Europäischen Antidiskriminierungs-Rechtsnormen. An letztere sind auch deutsche Richter gebunden. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist die Bundesregierung selbst dafür beweis-pflichtig, dass keine Diskriminierung der Beschwerdeführerin und ihrer minderjährigen Tochter vorliegt. Und das werden wir notfalls durchzusetzen versuchen.“

Alles korrekt verlaufen
 
Dr. Martin Kühl, Pressesprecher des Landessozialgerichts und Richter hat eine Anfrage der Redaktion an die LSG-Präsidentin zu dem Eklat wie folgt beantwortet:
 
"Sehr geehrter Herr Kleinert,
gerne beantworte ich Ihre Anfrage auch per E-Mail. Wenn ich Ihre Ausführungen richtig verstanden habe, hat der zuständige Richter die Vertreterin der "Hartz IV-Plattform", Frau Vallenthin, im Rahmen der Erörterung der Streitsache nicht als Beistand oder Vertreterin der Klägerin zugelassen und den Erörterungstermin abgebrochen, um eine Senatsentscheidung über die Frage der Vertretungsbefugnis von Frau Vallenthin herbeizuführen.
 
Hinsichtlich der gesetzlichen Grundlage für dieses Vorgehen erlaube ich mir, auf § 73 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) hinzuweisen. Hiernach sind Bevollmächtigte, die nicht nach Maßgabe der in dieser Vorschrift näher bezeichneten Voraussetzungen vertretungsbefugt sind, durch einen Senatsbeschluss zurückzuweisen. Wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ein Bevollmächtigter, ohne die in § 73 SGG genannten Voraussetzungen zu erfüllen, regelmäßig als Vertreter von Klägern auftritt, hat das Gericht deshalb Veranlassung, eine Senatsentscheidung über die Vertretungsbefugnis herbeizuführen. Genau nach diesen Maßgaben ist das Gericht in dem von Ihnen geschilderten Fall vorgegangen.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Martin Kühl"
 
Also die Klägerin hilflos lassen?
 
Hatz4-Sprecherin Brigitte Vallenthin sieht das in ihrem Kommentar anders:
 
"Zwar unterscheidet sich ein Gesetzeswortlaut von einer mathematischen Formel dadurch, dass ihm ein gewisser Auslegungsspielraum innewohnt. In welchem Wort bzw. welcher Wortverbindung der Landessozialgerichts-Pressesprecher und Richter Dr. Kühl diesen Spielraum findet, das heißt wo er vermeintliche "Anhaltspunkte" für die "Regelmäßigkeit" als Ablehnungsbegründung meiner Beistandschaft heraus zu lesen vermag, verschließt sich meinem Verständnis.
 
Im übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass hier nicht die Klärung der Rechtsfrage nach einer Prozessbevollmächtigung im Sinne einer grundsätzlichen Vertretungsberechtigung anstand - wie sie beispielsweise ein Anwalt ausübt -, sondern lediglich die in Abs. 7 des § 73 SGG, wo die Zulassung "anderer Personen als Beistand... in der Verhandlung" geregelt ist.
Immerhin ist zu begrüßen, dass die Pressestelle des Landessozialgerichts NRW zumindest Abstand genommen hat von Richter Philippis Begründung mit einer angeblichen "Gewerbsmäßigkeit". Ich kann mir aber auch schwerlich vorstellen, dass der gesamte 2. Senat des Landessozialgerichts die in eben diesem § 73 Abs. 7 SGG lediglich geforderte "Sachdienlichkeit" sowie das "Bedürfnis des Einzelfalls" bestreiten wollte, zumal es sich um eine mit Gerichtsverhandlungen und der Verteidigung ihrer Rechte in einer ungewohnten Situation vor einem Einzelrichter - insbesondere in einer nicht öffentlichen Verhandlung - unerfahrenen Beschwerdeführerin handelt, die ohne den Rat einer Person ihres persönlichen Vertrauens dem gerichtlichen Procedere hilflos und entscheidungsunsicher gegenüber stünde." (PK)


Online-Flyer Nr. 331  vom 07.12.2011

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