NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

zurück  
Druckversion

Inland
Eine sozialpolitische Halbzeitbilanz der CDU/CSU/FDP-Koalition
„…im Grunde eher die Armen bekämpft"
Von Christoph Butterwegge

Hier soll untersucht werden, ob die im Oktober 2009 gebildete CDU/CSU/ FDP-Regierung, anders als im Bundestagswahlkampf und besonders vor der für sie wegen der Zusammensetzung des Bundesrates sehr wichtigen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 9. Mai 2010 versprochen, eine „Koalition der sozialen Zumutungen“ gewesen ist, oder ob sie den „Um-“ bzw. Abbau des bestehenden Wohlfahrtsstaates, der seit fast dreieinhalb
Jahrzehnten im Gang war und mit der als „Hartz IV“ bezeichneten Arbeitsmarktreform seinen Höhepunkt erreicht hatte, (1) verlangsamt bzw. gestoppt hat.
 

Politikwissenschaftler Prof. Dr. Christoph
Butterwegge
NRhZ-Archiv
Dabei wird der bereits im Titel ihres Koalitionsvertrages „Wachstum – Bildung – Zusammenhalt“ erhobene Anspruch von CDU, CSU und FDP, bei einem Wirtschafts-aufschwung mehr für die Zukunftsperspektiven der jungen Generation zu tun und die gesellschaftliche Kohäsion zu stärken (2), mit den Folgen der Gesetzgebungstätigkeit bis zur Halbzeit der Legislatur-periode konfrontiert.
 
Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts statt „sozialer Grausamkeiten“?
 
Als ihren ersten gemeinsam gefassten Beschluss verkündeten CDU, CSU und FDP während der zügig verlaufenden Koalitionsverhandlungen, dass sie das Altersvorsorge-Schonvermögen für Hartz-IV-Bezieher auf 750 EUR pro Lebensjahr verdreifachen wollten. Dies geschah im Rahmen des Sozialversicherungs-Stabilisierungs-Gesetzes vom 14. April 2010, das eigentlich die Folgen der weltweiten Wirtschaftskrise für den deutschen Wohlfahrtsstaat abmildern helfen sollte. Entfallen sollte die Klausel, wonach eine selbstgenutzte Immobilie bloß dann zum Schonvermögen gehört, wenn sie eine „angemessene Größe“ hat. Schließlich wollte man die Zuverdienstgrenzen bei Hartz IV erhöhen, um Transferleistungsbezieher(inne)n auf diese Weise mehr „Arbeitsanreize“ zu geben. Über die genaue Ausgestaltung dieses Punktes erzielten CDU, CSU und FDP erst im Oktober 2010 einen Minimalkonsens, der Aufnahme in das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (EGRBEG) vom 24. März 2011 fand.
 
Mit ihrem ersten Maßnahmenpaket zum Hartz-IV-Komplex betrieb die CDU/CSU/FDP-Koalition politische Imagepflege, um den ihr vorauseilenden Ruf „sozialer Eiseskälte“ zu entkräften. Darüber hinaus wurden soziale Trostpflaster an Transferleistungsempfänger/innen verteilt, denen es noch verhältnismäßig gut geht: Beispielsweise hat in Ostdeutschland nur etwa die Hälfte der Betroffenen überhaupt Vermögen, das geschont werden kann. Höchstens eine winzige Minderheit nennt eine Immobilie ihr Eigen. Und auch die Möglichkeit des Zuverdienstes haben längst nicht alle Bezieher/innen von Arbeitslosengeld II.
 
Neben den unmittelbar Begünstigten, die überwiegend aus der Mittelschicht stammen dürften, weil sie vor einer länger währenden Arbeitslosigkeit noch am ehesten private Altersvorsorge betreiben konnten, profitierten hauptsächlich Versicherungskonzerne und Banken von den beschlossenen Maßnahmen, denn es handelt sich um ein schlagendes Verkaufsargument,
wenn ein Finanzprodukt vor der Anrechnung bei Hartz IV geschützt ist. Begünstigt wurden auch die Bauindustrie und der Immobilienhandel. Noch anderen Branchen kommen die höheren Zuverdienstmöglichkeiten zugute, lassen sich von deren Unternehmen doch mehr Hartz-IV-Bezieher/innen im Sinne einer staatlichen Subventionierung von Niedriglöhnen als preiswerte Arbeitskräfte rekrutieren.
 
Beschleunigung des Wachstums oder der Umverteilung von unten nach oben?
 
Ungefähr zur selben Zeit, als das Bundesverfassungsgericht am 20. Oktober 2009 darüber verhandelte, ob die Bedürfnisse der in sog. Hartz-IV-Haushalten lebenden Kinder bei der Regelsatzbemessung angemessen berücksichtigt wurden oder zumindest die Kinderregelsätze das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes verletzten, trieb CDU, CSU und FDP offenbar sehr viel stärker die Sorge um, „Leistungsträger“ und „Besserverdiener“ könnten – auch für ihre Kinder – zu viel Steuern zahlen. Denn sie beschlossen nicht etwa, die Armut von Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien zu verringern, sondern den Steuerfreibetrag für Kinder zunächst auf 7.008 EUR und später auf die künftig für Erwachsene geltende Höhe von 8.004 EUR anzuheben sowie das Kindergeld von 164 EUR auf 184 EUR monatlich zu erhöhen.
 
Dabei handelte es sich mitnichten um eine Entlastung „der“ Familien, sondern um eine weitere Begünstigung von Besserverdienenden und Begüterten. Die zuletzt Genannten profitierten davon überproportional, Eltern mit einem geringen Einkommen hatten jedoch wenig und Transferleistungsempfänger/innen mit noch so vielen Kindern gar nichts davon. Konkret hieß das: Während ein Spitzenverdiener mit Kind durch die im Wachstumsförderungsgesetz enthaltenen Maßnahmen jährlich 443 EUR Steuern „spart“ und ein Normal- oder Geringverdiener 240 EUR mehr Kindergeld erhält, wurde die Not einer alleinerziehenden Mutter im Hartz-IV-Bezug kein bisschen gelindert.
 
Am 1. Januar 2010 trat das Wachstumsbeschleunigungsgesetz in Kraft, dessen „Korrekturen“ der Unternehmen- und Erbschaftsteuerreform den Vorteil boten, dass sie von der breiten Öffentlichkeit weniger stark wahrgenommen wurden als massive Senkungen des Spitzensteuersatzes oder die Abschaffung der Gewerbesteuer, wie sie die FDP forderte. Deshalb weichte die schwarz-gelbe Koalition eher Regelungen auf oder nahm sie ganz zurück, die ein drastisches Absinken des Steueraufkommens im Unternehmens-bereich durch Finanzmanipulationen der Konzerne verhindern sollten, etwa die Einführung der „Zinsschranke“ und der Mindestbesteuerung sowie die zeitweilige Aussetzung der degressiven Abschreibung. Ähnliches gilt für weitere Entlastungen der Erben von Familienunternehmen (Verkürzung der Behaltensfrist und Absenkung der Lohnsumme, die zur Befreiung von der betrieblichen Erbschaftsteuer führt) und die Besserstellung naher Verwandter (Geschwister, Nichten und Neffen) beim Erbschaftssteuersatz.
 
Wollte man der schwarz-gelben Bundesregierung glauben, bewirken Steuernachlässe für Wohlhabende und Reiche nicht bloß eine Belebung der Konjunktur, sondern auch eine Sanierung der öffentlichen Haushalte. Man fühlte sich jedoch unwillkürlich an die Quadratur des Kreises bzw. an den Baron von Münchhausen erinnert, wenn sich die Koalitionäre am eigenen Schopf aus der finanziellen Misere herausziehen wollten: Höchstens finanzpolitische Alchimisten und hartnäckige Lobbyisten verbreiten die Illusion, man brauche nur die „Leistungsträger“ steuerlich entlasten, um die Wirtschaft zu stimulieren, Wachstum zu generieren und am Ende das Steueraufkommen zu maximieren. In Wahrheit ist es genau umgekehrt: Eine Anhebung der Transferleistungen für sozial Benachteiligte wäre nicht bloß gerechter, sondern auch ökonomisch sinnvoller gewesen, weil diese das zusätzliche Geld in den Alltagskonsum stecken und damit die Binnenkonjunktur beleben würden, statt es zu sparen oder neue Spekulationsblasen auf den Finanzmärkten zu produzieren.
 
Das sog. Zukunftspaket: „Sparen“ auf Kosten der (Langzeit-)Arbeitslosen, ihrer Kinder und des Sozialstaates?
 
Auf ihrer „Sparklausur“ beschlossen die Regierungsparteien am 6./7. Juni 2010 mehrere zum Teil gravierende Leistungsreduktionen und Streichungen von Transferleistungen für Arbeitslose bzw. Arme. In dem „Die Grundpfeiler unserer Zukunft stärken“ überschriebenen Ergebnispapiers der Klausurtagung firmierte das Kapitel mit den massivsten beabsichtigten Ausgabenkürzungen unter dem Titel „Stärkung von Beschäftigungsanreizen und Neujustierung von Sozialleistungen“. Über die Hälfte der gesamten Bundesausgaben, wurde hervorgehoben, entfielen auf die Sozialausgaben. „Dies macht deutlich, dass eine nachhaltige Rückführung der staatlichen Defizite nur gelingen kann, wenn auch (?!) dieser Bereich einen zielgerichteten und fairen Beitrag leistet.“ (3)
 
Während die geplanten Maßnahmen zur Erhöhung/Erhebung von Steuern bzw. Abgaben im Unternehmens- und Finanzmarktbereich entweder bloße Luftbuchungen darstellten, weil sie – wie die Bankenabgabe, die Finanz-transaktionssteuer und die Brennelemente- bzw. Kernbrennstoffsteuer – im Rahmen eines „Restrukturierungsfonds“ den zu Belastenden selbst zugute kommen bzw. nicht oder nur ansatzweise realisiert oder nach dem schweren Unfall im Atomkraftwerk Fukushima sogar wieder in Frage gestellt wurden, noch ausgesprochen vage klingende und mittlerweile enttäuschte Versprechungen – wie die durch eine vom damaligen Verteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg vollmundig angekündigte Strukturreform der Bundeswehr angeblich frei werdenden Mittel – darstellen oder – wie eine Verschiebung des Baubeginns für das Berliner Stadtschloss – unter dem Strich finanziell kaum ins Gewicht fielen, waren und sind Hartz-IV-Bezieher/- innen extrem stark betroffen.
 
Das größte Aufsehen im „Zukunftspaket“ der Bundesregierung erregte die Absicht, Hartz-IV-Betroffenen das Elterngeld zu streichen bzw. auf die Transferleistung anzurechnen. Während der Höchstbetrag von 1.800 EUR im Monat bestehen blieb, sank die Lohnersatzrate beim Elterngeld ab einem Monatsnettoeinkommen von mehr als 1.240 EUR von 67 Prozent auf
65 Prozent. Dies bedeutete, dass Einkommensbezieher/innen im mittleren Bereich geringe, ausgerechnet die Besserverdienenden jedoch keinerlei Einbußen gegenüber dem Status quo zu verzeichnen hatten. Um dem Vorwurf der sozialen Schieflage ihres „Sparpaketes“ zu begegnen, beschloss die schwarz-gelbe Koalition nachträglich, d.h. erst während des Gesetzgebungsverfahrens im Oktober 2010, das Elterngeld auch Reichensteuerzahler(inne)n“ vorzuenthalten, also den sehr wenigen Menschen mit einem zu versteuernden Jahreseinkommen von mehr als 250.000 EUR bzw. 500.000 EUR bei gemeinsam veranlagten Ehepaaren, die Kinder bekommen und sich um deren Betreuung kümmern. Dadurch wurde die Glaubwürdigkeit der Regierungs-parteien allerdings keineswegs wieder hergestellt.
 
Ersatzlos gestrichen wurde der Zuschlag, den es früher beim Übergang vom Bezug des Arbeitslosengeldes zum Bezug von Arbeitslosengeld II gab. Auf diese Weise wurde der Abstieg auf das Sozialhilfe-Niveau sozial abgefedert, was die Bundesregierung nunmehr für einen Fehlanreiz zur Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung hielt, weshalb sie lapidar und ohne jede Begründung erklärte: „Die Notwendigkeit des befristeten Zuschla- ges beim Arbeitslosengeld II ist überholt.“ (4) Durch seine Abschaffung wurde die sozialrechtliche Rutsche in die Armut für Langzeitarbeitslose noch steiler, als sie es seit dem Inkrafttreten von Hartz IV am 1. Januar 2005 schon war.
 
Den höchsten Betrag (2011: 2 Mrd. EUR; 2012: 4 Mrd. EUR; 2013 und 2014: jeweils 5 Mrd. EUR) wollte die schwarz-gelbe Koalition im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik „einsparen“, indem Förder- und Integrationsmaßnahmen für Erwerbslose, die bisher Pflichtleistungen waren, gestrichen oder zu bloßen Ermessensleistungen der Jobcenter wurden. Genauso erging es Maßnahmen zur beruflichen Weiterbildung und Umschulung von Arbeitslosen. Damit zeigte die Bundesregierung im Grunde, dass sich ihr Bekenntnis zur „Bildungsrepublik Deutschland“ und das Versprechen der Kanzlerin, „Bildung für alle“ zu ermöglichen, auf Exzellenzbereiche und die Elitebildung von Privilegierten beschränkten, aber Erwerbslose nicht einbezogen, obwohl diese angeblich „gefördert und gefordert“ werden sollten, wie sie dadurch auch die (Langzeit-)Arbeitslosigkeit noch erhöhte, was wiederum mit Mehrkosten im Bereich der passiven Arbeitsmarktpolitik verbunden sein dürfte.
 
Hartz IV als sozialpolitische Dauerbaustelle: Gewährleistung eines
menschenwürdigen Lebens oder Übergang zu „Hartz V“?
 
Am 9. Februar 2010 erklärte das Bundesverfassungsgericht die Berechnung der Hartz-IV-Regelsätze für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar und verpflichtete die Regierung zu einer Neuregelung. Zwar hat das Bundes-verfassungsgericht ein „neues Grundrecht für die Armen“ geschaffen, im Urteilstext fehlen aber klare, über die Fragen der Bemessung von Regelleistungen für Hartz-IV-Bezieher/innen hinausgehende Antworten, wie Volker Neumann konstatiert, der die inhaltlichen Leerstellen und argumentativen Schwachpunkte des Richterspruchs benennt: „Weder das von den Verwal-tungsgerichten aus der Würdenorm abgeleitete Gebot, gesellschaftliche Ausgrenzung zu verhindern, noch die mit dem Sozialstaatsprinzip begründete Pflicht zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit und damit zu Umverteilung werden auch nur angesprochen.“ (5)
 
Anstatt die Regelsätze, wie vom Bundesverfassungsgericht gefordert, bis zum 31. Dezember 2010 mittels einer schlüssigen Methodik, d.h. unter Vermeidung von Zirkelschlüssen neu zu berechnen und per Gesetz festzulegen, ließ sich Ursula von der Leyen nicht bloß sehr viel Zeit, bis ihr Ministerium im September 2010 den ersten Referentenentwurf vorlegte, sondern nutzte die durch das Urteil entstandene Lage auch, um darin – von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt – eine umfassende Novellierung des SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) und des SGB XII (Sozialhilfe) im Sinne der CDU/CSU/FDP-Koalition vorzunehmen. Unter den Änderungen waren Präzisierungen des Gesetzestextes und partielle Verbesserungen für Hartz-IV-Bezieher/innen (z.B. Übernahme der Kosten für die Warmwasserbereitung sowie der Anschaffungs- und Reparaturkosten für orthopädische Schuhe, Ermöglichung einer großzügigeren Ausgestaltung der Residenzpflicht von Leistungsberechtigten und Teilschließung der temporären Zahlungslücke beim Übergang von Langzeitarbeitslosen zur Altersrente), die sich hauptsächlich der Urteilspraxis von Sozialgerichten verdankten, aber auch gravierende Verschärfungen der für sie geltenden Bestimmungen, weshalb man im Rahmen einer kritischen Gesamtbilanz von „Hartz V“ sprechen kann.
 
Musste der Grundsicherungsträger bisher vor einer Verhängung von Sanktionen die Hartz-IV-Bezieher/innen per Rechtsbehelfsbelehrung über damit für sie verbundene Konsequenzen aufklären, reicht nunmehr die Annahme, dass Betroffene die Folgen kennen. Darlehen sind grundsätzlich als Einkommen leistungsmindernd anzurechnen, sofern sie nicht explizit einem
anderen Zweck als der Sicherung des Lebensunterhalts dienen. Bestimmte Leistungen, die bisher vom Grundantrag mit erfasst waren, wie z.B. die Erstausstattung der Wohnung oder Sonderbedarfe bei Schwangerschaft und Geburt, müssen nunmehr zusätzlich beantragt werden, was dazu führen soll, dass die staatlichen Ausgaben sinken.
 
Unter den sechs im Gesetz fixierten Regelbedarfsstufen der Sozialhilfe, die von 364 EUR für alleinstehende bzw. alleinerziehende Leistungsberechtigte (Regelbedarfsstufe 1) bis zu 215 EUR für Kinder unter 6 Jahren (Regelbedarfs- stufe 6) reichen, ist die Regelbedarfsstufe 3 mit 291 EUR für erwachsene Leistungsberechtigte, die keinen eigenen Haushalt führen, von besonderem Interesse. Durch ihre Einführung drohte Menschen mit Behinderung, die im Haushalt ihrer Eltern oder in einer Wohngemeinschaft leben, nämlich eine drastische Kürzung der ihnen bislang zustehenden Transferleistungen, weil sie weder als eigene Bedarfsgemeinschaft anerkannt noch mit dem vollen Regelsatz bedacht wurden. In den anschließenden Verhandlungen der SPD und der Bündnisgrünen mit den Regierungsparteien erklärten sich diese
zwar bereit, eine Lösung des Problems herbeizuführen, eine verbindliche Frist wurde ihnen dafür aber nicht gesetzt.
 
Wenig befriedigen konnte auch, wie das Arbeits- und Sozialministerium die Regelbedarfe ermittelt hatte. Maßstab für das „menschenwürdige Existenzminimum“ von Erwachsenen ist das Ausgabeverhalten der von bisher 20 auf 15 Prozent geschrumpften Referenzgruppe von der jüngsten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamtes erfasster Einpersonenhaushalte mit den geringsten Einkommen, die überwiegend aus Rentner(inne)n und anderen Nichterwerbstätigen besteht. Durch die Verkleinerung der Referenzgruppe, die Vernachlässigung des Problems der „Aufstocker/innen“ bzw. Zuverdiener/innen und der verdeckt Armen (Referenzhaushalte, deren Einkommen unter dem Sozialhilfeniveau liegen) – beide Personengruppen hätten nach dem Verfassungsgerichtsurteil eigentlich herausgerechnet werden müssen, um Zirkelschlüsse von den Konsumausga- ben der Armen auf deren Bedarf zu vermeiden – sowie willkürliche Abschläge auf zahlreiche im Rahmen der EVS 2008 ermittelte Einzelposten wurde das Existenzminimum regelrecht nach unten manipuliert.
 
Das am 3. Dezember 2010 vom Bundestag in seiner ersten Fassung beschlossene EGRBEG missachtete die entscheidende Forderung des Bundesverfassungsgerichts, Hartz-IV-Bezieher(inne)n ein „menschenwürdiges Existenzminimum“ zu gewährleisten. So strich man den Hartz-IV-Empfänger- (inne)n nicht bloß die Ausgaben für Haustiere, Schnittblumen und Zimmerpflanzen, den Besitz eines Handys sowie Versicherungen aller Art, enthielt ihnen vielmehr auch die bisher für Tabakwaren und alkoholische Getränke gewährten 19,19 EUR pro Monat mit der Begründung vor, diese Güter gehörten nicht zum Grundbedarf, und bewilligte ihnen als Ersatz 2,99 EUR für Mineralwasser. Hierdurch wuchs die Gefahr ihrer sozialen Ausgrenzung weiter, denn zu rauchen oder gemeinsam mit Freunden und guten Bekannten abends mal ein Bier zu trinken, gehört nun einmal zur „Pflege zwischen-menschlicher Beziehungen“ (Urteilstext) und zur Alltagsnormalität in unserer Gesellschaft.
 
Gemäß der Neuberechnung überhaupt nicht erhöht wurden die Hartz-IV-Regelsätze für Kinder und Jugendliche, für die man ein „Bildungs- und Teilhabepaket“ im Wert von 250 EUR pro Jahr vorsah. Hierin eingeschlossen waren aber 100 EUR des bisherigen „Schulbedarfspakets“, das nunmehr als „Schulbasispaket“ bezeichnenderweise in zwei Raten (zu Beginn des Schuljahres am 1. August 70 EUR und zu Beginn des zweiten Halbjahres am 1. Februar noch einmal 30 EUR) ausgezahlt wird, sowie 30 EUR, die für (Schul-)Ausflüge und eintägige Klassenfahrten vorgesehen sind und früher im Regelsatz enthalten waren.
 
Aufgrund des Regierungswechsels in Nordrhein-Westfalen, wo die SPD-Politikerin Hannelore Kraft am 14. Juli 2010 zur ersten Ministerpräsidentin des Landes gewählt worden war und ein rot-grünes Minderheitskabinett gebildet hatte, fand das EGRBEG am 17. Dezember 2010 im Bundesrat keine Mehrheit. Bei den zähen, schwierigen und langwierigen Verhandlungen des Vermittlungsausschusses, den die Bundesregierung daraufhin angerufen hatte, ging es um drei Problemkreise: die Höhe des Regelbedarfs, das „Bildungs- und Teilhabepaket“ sowie Mindestlöhne für einzelne Branchen.
 
Über die Verschärfungen für Hartz-IV-Betroffene im Gesetzestext wurde mit Ausnahme der geplanten finanziellen Schlechterstellung von bei ihren Eltern oder in einer Wohngemeinschaft lebenden Behinderten und von Menschen, die bürgerschaftliches Engagement zeigen bzw. sich ehrenamtlich betätigen, offenbar gar nicht gesprochen. So können die Bundesländer kreisfreie Städte und Landkreise fortan ermächtigen oder verpflichten, die „angemessenen“ Kosten für Unterkunft und Heizung per Satzung auf ihrem Gebiet festzulegen. Dies gilt für Mietpauschalen, wenn auf dem kommunalen Wohnungsmarkt ausreichend freier Wohnraum zur Verfügung steht, sowie für „Gesamtangemessenheitsgrenzen“, die Unterkunft und Heizung betreffen. Durch eine solche Pauschalierung der Unterkunftskosten, wie sie Hessen seinen Kommunen im Juni 2011 ermöglicht hat, dürften zahlreiche Hartz-IV-Empfän-ger/innen auch veranlasst werden, ihre bisher vom zuständigen Grundsiche-rungsträger bezahlte Wohnung in einem gutbürgerlichen Stadtviertel aufzugeben und in eine Hochhaussiedlung am Stadtrand zu ziehen, wo die Mieten niedriger sind. Dadurch leistet man einer Gettoisierung bzw. einer sozialräumlichen Segregation der Armutspopulation, die sich in Großstädten ansatzweise bereits seit geraumer Zeit erkennen lässt, politisch zusätzlich Vorschub. 
 
Während der Gespräche einigten sich die Teilnehmer/innen von CDU, CSU, FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen, den Empfängerkreis des „Bildungs- und Teilhabepaketes“ nicht bloß auf die Kinder der Bezieher/innen des Kinderzuschlags, sondern auch auf jene von Wohngeldbezieher(inne)n auszuweiten und seine Organisation vollständig den Kommunen zu übertragen. Näher kam man sich auch bei der Frage nach seiner Finanzie- rung, die der Bund am Ende über Umwege (stärkere Beteiligung an den Unterkunftskosten) vollständig übernahm. Sehr große Schwierigkeiten gab es bei den Mindestlöhnen, weil die FDP-Verhandlungsdelegation eine gleiche Entlohnung von Stammbelegschaften und Leiharbeiter(inne)n erst nach längerer (Einarbeitungs-)Zeit akzeptieren wollte, wenn von diesen kaum noch welche im Betrieb arbeiten. Überhaupt keine Annäherung gab es beim Regelsatz bzw. -bedarf.
 
In der Nacht vom 8. auf den 9. Februar 2011, also genau ein Jahr nach der
Urteilsverkündung, wurden die Verhandlungen ergebnislos abgebrochen, weil sich CDU, CSU und FDP einerseits sowie SPD und Bündnis 90/Die Grünen andererseits nicht einigen konnten. Angesichts der minimalen Differenz zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien bei der symbolträchtigen Regelsatzhöhe (5 bzw. 11 EUR) war das Scheitern öffentlich kaum
vermittelbar. Entsprechend katastrophal fiel das Medienecho aus. Die meisten Kommentator(inn)en stimmten in der Vermutung überein, dass durch den Abbruch der Gespräche die Parteienverdrossenheit gefördert und der Demokratie ein Bärendienst erwiesen worden sei.
 
Statt das „unechte“, d.h. nur von der knappen CDU/CSU/FDP-Mehrheit im
Vermittlungsausschuss getragene Ergebnis aufgrund der dieser Koalition im Bundesrat für eine Beschlussfassung fehlenden Stimme durchfallen zu lassen, einigten sich die SPD-geführten Länder mit den Regierungsparteien auf eine zweite Anrufung des Vermittlungsausschusses. Dessen neuerliche Verhandlungen endeten in der Nacht vom 20. auf den 21. Februar 2011 mit einem äußerst widersprüchlichen Resultat. So lehnten es CDU, CSU und FDP ab, sich beim Regelbedarf gewissermaßen in der Mitte zu treffen und ihn rückwirkend zum 1. Januar 2010 um 8 EUR zu erhöhen. Während die Bündnisgrünen den Verhandlungstisch gegen Mitternacht wegen dieses zentralen Streitpunktes verließen, gab die SPD ein weiteres Mal nach und akzeptierte die Minimalerhöhung des früheren Eckregelsatzes, der nunmehr eine zusätzliche Anhebung des Regelbedarfs für alleinstehende Erwachsene um 3 EUR zum 1. Januar 2012 folgt. So glaubten zwar beide Seiten ihr Gesicht zu wahren. Gerechtigkeit auf Raten gibt es allerdings nicht: Entweder war die Anhebung des Hartz-IV-Regelsatzes um 5 EUR, wie von CDU, CSU und FDP behauptet, in einem transparenten Verfahren ermittelt, (nachprüfbar) „realitätsgerecht“ und daher verfassungskonform, oder sie war es nicht.
 
Schaut man genauer hin, trägt das EGRBEG auch in seiner am 25. Februar 2011 von Bundestag und Bundesrat endgültig verabschiedeten Fassung dem BVerfG-Urteil kaum Rechnung. Der zwischen CDU/CSU, FDP und SPD geschlossene Kompromiss war im Grunde ein parteipolitischer Kuhhandel auf Kosten der Ärmsten. Darüber können die vereinbarten, zum Teil aber sehr niedrigen Mindestlöhne in der Teil- bzw. Leiharbeit, dem Wach- und Sicherheitsgewerbe sowie der Weiterbildung nicht hinwegtäuschen. Denn selbst wenn es mit ihrer Hilfe gelänge, den seit Inkrafttreten der sog. Hartz-Gesetze enorm gewachsenen Niedriglohnsektor etwas zurückzudrängen, würde das den nicht erwerbsfähigen Sozialhilfebezieher(inne)n, den Langzeitarbeitslosen ohne Zuverdienst sowie den auf die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung angewiesenen (Früh-)Rentner(inne)n wenig nützen. Sie alle hätten eine nennenswerte Regelsatzerhöhung benötigt, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können.
 
Hartz IV bleibt ein sozialpolitischer Konfliktherd. Hierauf gaben die Startschwierigkeiten beim „Bildungs- und Teilhabepaket“ im April 2011 einen Vorgeschmack. Nur ca. 2 Prozent der Alg-II-beziehenden Eltern beantragten ihren Kindern daraus rückwirkend ab 1. Januar desselben Jahres zustehende Leistungen, obwohl sie den Geldbetrag von maximal 108 EUR sogar ohne Nachweis etwa über das gemeinschaftliche Mittagessen ihrer Sprösslinge in der Schule oder der KiTa erhalten konnten. Die geringe Inanspruchnahme widersprach zwar dem öffentlichen Zerrbild der Hartz-IVEmpfänger/innen als „Sozialschmarotzer“, die den Staat „abzocken“, wo sie nur können, veranlasste Ursula von der Leyen jedoch nicht etwa, die bürokratische Abwicklung ihres „Bildungs- und Teilhabepaketes“ zu hinterfragen, sondern führte nach einer Krisensitzung mit Vertreter(inne)n der Kommunen bloß zu einer Verlängerung der Antragsfrist um zwei Monate (bis zum 30. Juni 2011) und einer ministeriellen Anregung gegenüber den kommunalen Trägern, die Eltern im Hartz-IV-Bezug schriftlich über ihre Rechte beim „Bildungs- und Teilhabepaket“ zu informieren, ohne dass mehr als ein Drittel der Eltern entsprechende Anträge stellten. Am 1. Januar 2012 steigen die Regelbedarfe der alleinstehenden Erwachsenen zwar von 364 auf 374 EUR und der Kleinkinder von 215 auf 219 EUR, die Höhe der Regelbedarfe von Über-5-Jährigen bleibt aber wie schon im Vorjahr unverändert, was zeigt, dass CDU, CSU und FDP trotz einzelner Leistungsanhebungen sowie entgegen aller Familien- und Sozialrhetorik nicht die Armut von Millionen (jungen und älteren) Menschen, sondern im Grunde eher die Armen bekämpft. (PK)
 
(1) Vgl. hierzu: Christoph Butterwegge, Krise und Zukunft des Sozialstaates, 4. Aufl. Wiesbaden 2011, S. 113 ff.; ders., Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird, 2. Aufl. Frankfurt am Main/New York 2011, S. 168 ff.
(2) Siehe CDU Deutschlands/CSU Landesleitung/FDP (Hrsg.), Wachstum – Bildung – Zusammenhalt. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP für die 17. Legislaturperiode (des Deutschen Bundestages), Rheinbach o.J.
(3) Die Grundpfeiler unserer Zukunft stärken. Acht Punkte für solide Finanzen, neues Wachstum und Beschäftigung und Vorfahrt für Bildung, Ergebnispapier der „Sparklausur“ der Bundesregierung, 6./7. Juni 2010; http://www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/2010/2010-06-07-eckpunktekabinett,property=publicationFile.pdf, S. 1 (30.7.2010), S. 4
(4) Die Grundpfeiler unserer Zukunft stärken, a.a.O., S. 4
(5) Volker Neumann, Ein neues Grundrecht für die Armen. Was das Bundesverfassungsgericht zum Anspruch auf ein Existenzminimum sagt, in: Vorgänge 191 (2010), S. 108 5
 
Der Autor Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft und ist
Geschäftsführender Direktor des Instituts für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln. Soeben ist sein Buch „Krise und Zukunft des Sozialstaates“ in vierter, gründlich überarbeiteter und (um ca. 120 bis 150 Seiten) erweiterter Auflage im VS-Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) erschienen.
Einen weiteren Betrag von Christoph Butterwegge finden Sie auf der Seite http://www.weltderarbeit.de/, von der wir diesen Artikel übernommen haben: "Die Zukunft des Sozialstaates – Niedergang oder Neugestaltung?"


Online-Flyer Nr. 327  vom 09.11.2011

Druckversion     



Startseite           nach oben

KÖLNER KLAGEMAUER


Für Frieden und Völkerverständigung
FOTOGALERIE