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Aktueller Online-Flyer vom 29. April 2024  

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Globales
Zweiter Bericht der Menschenrechtsdelegation aus Van und Semdinli
Besuch der Generäle
Von Britta Eder, Gül Güzel und Martin Dolzer

Vergangene Woche besuchten türkische Generäle, darunter Generalstabschef Necdet Özel, die Gouverneure mehrerer kurdischer Provinzen, um das weitere Vorgehen in der „Auseinandersetzung“ mit der PKK zu besprechen. Necdet Özel, der als Hardliner bezüglich der kurdischen Frage bekannt ist, wurde bekanntlich nachgewiesen, dass er 1999 den Befehl zu einem Giftgaseinsatz gegeben hatte, bei dem 19 PKK-Guerillas starben. Während des Besuchs der Generäle in Van waren auf den Straßen rund um das Gouverneursgebäude Soldaten mit schweren Maschinengewehren und Polizisten in voller Montur samt kugelsicheren Westen postiert. Die Ergebnisse der Treffen zwischen Generälen und Gouverneuren wurden bisher nicht öffentlich gemacht.

Demonstration gegen "F-Typ" Isolations-Gefängnis
Quelle: www.emekdunyasi.net/de
 
 
Festnahmen in Van, Catak, Istanbul, Diyarbakir, Mersin und Adana
 
Am Freitag, 9. September, nahm die Polizei 19 Menschen in Van und 10 in Catak fest. 4 der Festgenommenen waren Berichten zufolge Guerillaangehörige. Zuvor hatten bisher Unbekannte in Catak einen Polizisten entführt. Während der Vorführung der Festgenommenen beim Haftrichter trafen sich Angehörige und MenschenrechtlerInnen sowie Mitglieder der BDP und der "Friedensmütter" in Cafés in der Nähe des Gerichtsgebäudes. Eine Horde behelmter Polizisten lief durch die Caféhaus-Gasse, drohte mit Schlagstöcken und vertrieb die Wartenden. Für ein derartiges Vorgehen gab es keinen Grund, geschweige denn eine juristische Grundlage. Jede Form der kritischen Öffentlichkeit oder Solidarität soll offenbar unterbunden werden. Zuerst wollten einige der Polizisten auch uns drohen. Das wurde dann von einem Einsatzleiter mit der Bemerkung, dass wir Touristen seien, verhindert. Die Regierung Erdogan ist offenbar bemüht, trotz ihrer menschenverachtenden Praxis gegenüber der Internationalen Öffentlichkeit Normalität und Rechtsstaatlichkeit vorzutäuschen. Das gesamte Gericht wurde von behelmten Polizisten gesichert.
 
In Adana wurden in der letzten Woche ebenfalls 30 Menschen, darunter Mitglieder der BDP und Journalisten der Nachrichtenagentur Dicle Haber News Agency (DIHA) festgenommen. In den letzten Tagen kam es ebenfalls zu Festnahmen in Istanbul (9 Personen), in Mersin (10 Personen), in Diyarbakir (3 Personen).
 
Hochzeitsteilnehmer und Jugendliche in Semdinli erschossen
 
In der Nacht zum 11. September töteten Soldaten und Polizisten im Umfeld einer Hochzeitsfeier und im Verlauf von ungehemmtem Beschuss von Wohnhäusern in der kurdischen Stadt Hakkari/Semdinli 4 Menschen. Die Hochzeit fand vor und im Gebäude der Stadtverwaltung statt. Semdinli wird von der sozialistischen, prokurdischen Demokratischen Friedenspartei (BDP) regiert. Die kurdische Bewegung ist hier sehr kraftvoll. Augenzeugenberichten zufolge eröffneten die "Sicherheitskräfte“ das Feuer in der gesamten Stadt mit schweren Waffen, Granatwerfern und scharfer Munition als Racheakt wegen eines Angriffs der Guerilla der PKK auf eine Polizeiwache und eine Jandarma-Station. 


Einschussloch in einem Büro der Stadtverwaltung von Semdinli
Foto: Martin Dolzer

Nahezu kein Haus in der Stadt blieb bei diesem völkerrechtswidrigen Vorgehen der "Sicherheitskräfte“ ohne Einschusslöcher. Das Gebäude der Stadtverwaltung durchsiebten Polizei und Militär systematisch mit Kugeln. In nahezu jedem Fenster des Gebäudes konnten wir Einschusslöcher sehen. Die Menschen flohen während des Beschusses in den hinteren Teil des Gebäudes und mussten dort mehrere Stunden aushalten. Der 17jährige Osman Erbaş wurde im Eingangsbereich von einer Kugel getroffen. Osman Erbaş verblutete auf dem Weg ins Krankenhaus, nachdem Soldaten über Stunden seinen Transport verhindert hatten. Mehrere Menschen wurden schwer verletzt. Necdet und Tayyar Güreli sowie Resul Cetin wurden auf einem Hügel inmitten von Wohnhäusern von einer Granate getötet, als sie das Geschehen aus der Ferne beobachteten. Resut Ersol erlag am 14. September im Krankenhaus von Van seinen Verletzungen.

Kurdischer Buchhändler Seferi Yilmaz vor seinem Laden in Semdinli
Foto: Nick Brauns, www.kurdmania.org
 
Das Militär griff zudem unzählige Häuser mit Maschinengewehren und Raketen an - darunter das Haus des Buchhändlers Yilmaz. Eine Rakete zerfetzte einen Teil einer Wand des Hauses seiner Familie und blieb dort stecken. Der Buchladen von Seferi Yilmaz war bereits 2005 von Todesschwadronen mit Handgranaten angegriffen worden. Zwei Mitarbeiter starben damals. Im Rahmen des Prozesses gegen die Täter aus den Reihen der Jandarma (Militärpolizei), die von der couragiert eingreifenden Bevölkerung von Semdinli gestellt worden waren, bezeichnete der Generalstabschef die Mörder als „gute Jungs“. Parallel zu dem Beschuss der Häuser verwüsteten Sondereinheiten der Polizei im Verlauf einer Razzia zahlreiche Wohnungen.
 
Im Vorfeld der Übergriffe hatte die PKK-Guerilla einen Polizei- und einen Jandarmaposten angegriffen. Ein Soldat und ein Polizist starben, mehrere wurden verletzt. Der nachfolgende Angriff der "Sicherheitskräfte“ auf die Hochzeit kann insofern als gezielter Racheakt gegen die Zivilbevölkerung gewertet werden.
 
An einer dreitägigen Trauerfeier in einem Zelt nahmen mehrere Tausend Menschen teil. Darunter viele Verwandte der Ermordeten - auch aus dem nahe gelegenem Irak - und mehrere PolitikerInnen der BDP. Eine Kommission aus Mitgliedern der Menschenrechtsvereine IHD, Mazlum Der und Meya Der sowie der Anwaltskammer von Hakkari erarbeitet eine ausführliche juristische Dokumentation über dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Kaymakan (Landrat) und die Staatsanwaltschaft verweigerten aber jede Zusammenarbeit mit der Kommission.
 
Wie aus unserem ersten Bericht hervor geht, hatten einige Tage zuvor Soldaten bei einer Friedenskundgebung der "Lebenden Schutzschilde“ in Hakkari/Cukurca den Stadtrat der Metropole Van, Yildirim Ayhan, mit einer Tränengasgranate getötet. Wir verurteilen die wiederholte gezielte Tötung von ZivilistInnen und FunktionärInnen der BDP durch türkische Sicherheitskräfte auf das Schärfste. Die Regierung Erdogan strebt seit den Parlamentswahlen im Juni 2011 offenbar eine "tamilische Lösung“ der kurdischen Frage an. In diesem Rahmen sind die völkerrechtswidrige Eskalation des militärischen Konflikts mit der PKK sowie Massaker im Zusammenhang mit systematischen Angriffen auf die Zivilbevölkerung offenbar politisch gewollt. Eine solche Vernichtungspolitik ist nicht hinnehmbar. Dass die türkische Regierung Friedensbemühungen der kurdischen Seite und das Engagement für die Menschenrechte als Terror definiert, verhindert jeglichen politischen Lösungsweg.
 
Würde die Bundesregierung die AKP nicht als idealen Partner zur Sicherung der Ressourcen Öl und Gas sowie für die Öffnung weiterer Märkte im Mittleren Osten sehen, wäre sie in der Lage, deren menschenverachtende Praxis zu kritisieren und entsprechenden politischen Druck zur Einhaltung der Menschenrechte zu entfalten.
 
Kundgebung vor dem "F-Typ Gefängnis" von Van
 
Das "F-Typ Gefängnis" von Van liegt weit außerhalb der Stadt in einer trockenen und staubigen Gegend. Solche Gefängnisse wurden nach dem Vorbild der RAF-Haftanstalt in Stammheim gebaut und sollen auf Wunsch der türkischen Regierung in größerer Zahl aus Deutschland geliefert worden sein. Diese Gebäude sind Wind und Wetter ausgesetzt. Im Sommer ist es hier in Van sehr warm, im Winter kalt. Auf einer Kundgebung zum 31. Jahrestag des Militärputsches von 1980 thematisierte der Vorsitzende des Gefangenenvereins Tuhad Der, Ibrahim Efe, die Grausamkeiten der Militärs und der dem Putsch folgenden Regierungen. Efe betonte, dass die kurdische Bewegung seit Jahren die Demokratisierung der Türkei und eine friedliche Lösung der kurdischen Frage anstrebt. An der Kundgebung nahmen ca. 30 zivilgesellschaftliche Organisationen teil. Darunter befanden sich VertreterInnen des Menschenrechtsvereins IHD, von Tuhad Der, des Vereins der Angehörigen von gefallenen Guerillas, Meya Der, der Friedensmütter und mehrerer Frauenorganisationen sowie der BDP-Parlamentsabgeordnete Özdar Ucar und der Bürgermeister der Stadt Bekir Kaya (BDP).
 
Nach dem Putsch von 1980 waren 17.000 Menschen von Todesschwadronen aus der Geheimorganisation "Tiefer Staat“ ermordet worden. Eine ganze Generation linker und kurdischer Oppositioneller sollte ausradiert werden. In den Gefängnissen wie dem berüchtigten "Gefängnistrakt Nr. 5" von Diyarbakir wurden die politischen Gefangenen gezwungen, ihre Exkremente oder Mäuse zu essen und Mitgefangenen in den Mund zu urinieren. Darüber hinaus waren Elektroschocks, Schläge, Vergewaltigungen, Aufhängen an den Armen und weitere Foltermethoden an der Tagesordnung. Mit derartigen Grausamkeiten waren mehrere Tausend politische Gefangene konfrontiert.
 
Weitere Auswirkungen des Putsches waren: 650.000 Inhaftierungen,1.683.000 Ermittlungsverfahren, 7.000 geforderte Todesstrafen, 517 Hinrichtungen, davon 50 durch Erhängen, 98.400 Gefängnisstrafen wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in terroristischen Vereinigungen, 388.000 Entziehungen von Ausweispapieren, 171 Todesopfer durch Folter, 937 Fälle von Filmzensur, 14.000 Fälle der Aberkennung der Staatsbürgerschaft, 299 Tote in Gefängnissen. 400 Journalisten wurden zu mehr als 4.000 Jahren Gefängnis verurteilt.
 
Die Insassen der Gefängnisse in der Türkei sind auch heute noch dem Tod auf Raten ausgesetzt. Die Zellen sind schlecht durchlüftet, voll mit Schimmel und sind im Sommer zu heiß und im Winter zu kalt. Die Wärter sind in den kurdischen Provinzen Soldaten. Oft werden gerade politische Gefangene aus der kurdischen Bewegung von ehemaligen Angehörigen von Sondereinheiten, die gegen die PKK kämpften, bewacht. Viele der Gefängniswärter durchliefen die "Panamaschule“ oder ähnliche Einrichtungen, wo sie im Rahmen ihrer Ausbildung physische und psychische Folter lernten.
 
Zudem ist es seit einigen Jahren nicht mehr erlaubt Essen ins Gefängnis mitzubringen oder im Gefängnis selbst zu kochen. 75 % der Inhaftierten sind krank. Die häufigsten Krankheiten sind Depressionen, Magenerkrankungen, Augenerkrankungen und Atembeschwerden. Die medizinische Versorgung ist mangelhaft und wird in vielen Fällen verweigert oder nur in Begleitung von Soldaten - auch während der Untersuchung - zugelassen. Zudem verschreiben die GefängnisärztInnen bei sämtlichen Krankheitssymptomen überwiegend das gleiche Medikament. 85 Todkranke sind derzeit inhaftiert und werden trotz eindeutiger Diagnose und mehrfachen Entlassungsanträgen nicht entlassen. Insgesamt stieg die Zahl der politischen Gefangenen seit 2009 von ca. 5.000 auf ca. 9.000. Die Zahl der Inhaftierten erhöhte sich seit 2002, dem Jahr der Regierungsübernahme durch die AKP von ca. 53.000 auf über 124.000. Die politischen Gefangenen werden zudem zynischer Weise oft als "Erpressungspotential“ benutzt. Wenn Familienangehörige der Inhaftierten politisch aktiv sind, kommt es nicht selten vor, dass diese politischen Gefangenen in Gefängnisse weit entfernt in den Westen der Türkei verlegt werden. 


Kundgebung auf dem Weg zum F-Typ-Gefängnis in Van
Foto: Martin Dolzer

Die TeilnehmerInnen der Kundgebung wurden bereits bei der Abfahrt in Van, wie auch während der Kundgebung von mehreren Zivilpolizisten gefilmt. Angehörige der zivilgesellschaftlichen Organisationen und unsere Delegation wurden von den "Sicherheitskräften“ durch Aufdringlichkeit und Ausfrageversuche belästigt. Der Eingang des Gefängnisses war von Soldaten mit schweren Waffen hermetisch abgeriegelt.
 
Der Protest vor dem Gefängnis vom F-Typ in Van war sehr kraftvoll. Die Menschen sind entschlossen, weiter für Frieden und gegen fortgesetztes Unrecht, Tyrannei und die Besatzungspolitik des türkischen Staates zu kämpfen. Fast jede Familie hat Angehörige, die im Verlauf der Auseinandersetzung um kulturelle Selbstbestimmung gestorben oder Opfer von Verfolgung oder Folter geworden sind oder sich der Guerilla angeschlossen haben.
 
Trotzdem besteht eine realistische Möglichkeit für Frieden. Dazu wäre allerdings ein Dialog sämtlicher beteiligten AkteurInnen notwendig. Stattdessen plant die türkische Regierung aber weitere völkerrechtswidrige Bodenopera-tionen im kurdischen Gebiet des Nordirak. Als Legitimation dafür soll unter anderem der Vorfall in Semdinli dienen. Die türkische Mainstreampresse propagierte, dass die PKK dort für den Tod von 4 Zivilisten verantwortlich gewesen sei. Ein solches Vorgehen ist mehr als zynisch. Die AKP verfolgt ein Neo-Osmanisches Projekt, dass mit allen Mitteln durchgesetzt werden soll. Für die Europäischen Regierungen dient sie dabei als angeblich gemäßigt islamisches Rollenmodell bei der Neuordnung des Mittleren Ostens. (PK)
 
Die AutorInnen:
Britta Eder ist Rechtsanwältin, Gül Güzel ist Journalistin und Gesundheitsmediatorin und Martin Dolzer ist Soziologe und Mitarbeiter der MdB Heidrun Dittrich, Die Linke.
 
Lesen Sie hierzu unsere Meldung vom 24. September zur Festnahme von einigen Mitgliedern der Menschenrechtsdelegation.


Online-Flyer Nr. 321  vom 28.09.2011

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