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Globales
Die Situation in der Türkei nach den Parlamentswahlen 2011 - Teil 6
Die "Verlierer" der AKP-Politik
Von Martin Dolzer

Schon im Verlauf der Tekel-Streiks 2009/2010 wurde deutlich, wie rabiat und rechtsstaatswidrig die AKP-Regierung auch gegen Streikende oder Proteste von Erwerbstätigen vorgeht. Sie wurden immer wieder von der Polizei zusammengeschlagen, misshandelt und inhaftiert. Die monatelangen Streiks der TabakarbeiterInnen aus dem Staatskonzern Tekel, die sich gegen bevorstehende Entlassungen und den marktradikalen Umbau der Arbeitsverhältnisse insgesamt wehrten, wurden international, auch von vielen GewerkschafterInnen aus der Bundesrepublik und Europa unterstützt. Sie waren, was die Mobilisierungsfähigkeit und den Aufbau der Solidarität der emanzipatorischen Kräfte in der Türkei angeht, ein gutes Zeichen und ein Ausgangspunkt der Zusammenarbeit von Kräften aus der türkischen Linken und der BDP, die den Streik ebenfalls unterstützte. (1)
 

Streikende Tekel-Arbeiter 2010
Quelle: kurdmania.org
An der Umsetzung der autokratischen und klientelisti- schen Politik der AKP änderten die Streiks allerdings zunächst wenig - der Reichtum, der u.a. durch die radikale Öffnung der türkischen Märkte für den „Westen“ gewonnen wurde, wird, wie in neoliberal- kapitalistischen Formationen üblich, nach Oben und klientelistisch verteilt, anstatt durch Umverteilung nach Unten und einen Ausbau des Arbeitsmarktes zum Wohle Aller genutzt zu werden. Faktisch bleibt das, entgegen weltweiten Trends, leichte Wirtschaftswachstum, für den Großteil der Bevölkerung, bis auf die Hoffnung irgendwie doch am Reichtum teilhaben zu können, wirkungslos. Auch die Arbeitslosenzahlen sowie die Zahl derjenigen, die völlig von jeglicher Teilhabe ausgegrenzt werden, nehmen weiter zu. Diesbezüglich sind, neben der weiter fortgeführten Aushöhlung des Arbeitsrechts, das skrupellose Niederwalzen von ganzen Gecekondos (inlandsmigrantisch geprägten Vororten) in Istanbul und die Vertreibung von Sinti und Roma und KurdInnen aus Istanbuls Innenstadt Beyoglu durch hemmungslose und von mafiösen Methoden geprägte Gentrifizierungs-maßnahmen, sowie die erneuten Dorfvertreibungen in den kurdischen Provinzen des Landes durch das Militär, weitere Beispiele.
 
Fazit: Das Vorgehen der AKP Regierung gegen den Wahlblock für Arbeit, Demokratie und Freiheit (BDP) und die politischen VertreterInnen auf kurdischer Seite, vor und nach den Wahlen, wie auch der Umgang mit den Tekel-Streiks ist mit der beschriebenen Politikausrichtung der AKP konsistent. Ein sich Formieren der Gesamtlinken in Zusammenarbeit mit einer starken emanzipatorischen kurdischen Kraft, soll auf jede erdenkliche Art torpediert und kriminalisiert - und jegliche wirksame Opposition in eine terroristische Ecke gestellt werden, um das eigene machtpolitische Projekt - die eigene Hegemonie - abzusichern.
 

Solidaritätsdemonstration für die Tekel-Arbeiter
Zudem wird ähnlich wie im Baskenland versucht, diejenigen Persönlichkeiten, die ein selbstbewusstes, emanzipatorisches Projekt am konsistentesten vertreten, durch juristische psychische oder physische Gewalt zu delegiti-mieren und zu zerstören. Die Festnahmen im Rahmen des Verfahrens gegen die KCK (Union der Gemeinschaften Kurdistans) seit 2009 und die Aberkennung des Mandats von Hatip Dicle, sowie die Nichtfreilassung der 5 Abgeordneten aus dem Wahlblock für Arbeit, Demokratie und Freiheit, sind Beispiele für diese Praxis.
 

Hatip Dicle - seit April 2010 aus politischen
Gründen in Haft, gewann, von der BDP unterstützt,
im Juni 2011 als unabhängiger Kandidat die Wahl
in der Provinz Diyarbakır doch wurde ihm wenige
Tage nach der Wahl sein Mandat wegen der
Haftstrafe entzogen.
Quelle: beyazgazete.com
Die Pressefreiheit wird in diesem Rahmen erneut stärker eingeschränkt und die militärische Zuspitzung der Lösung der kurdischen Frage bewusst zuungunsten gesellschaftlicher Stabilität eskaliert. Die kontinuierlichen Friedensangebote und einseitigen Waffen-stillstände, die Friedens-bemühungen Abdullah Öcalans, sowie die demokra-tischen Interventionen der BDP und des DTK (Kongress für eine demokratische Gesellschaft) ignoriert die AKP, soweit es irgend möglich ist. Der internationalen Öffentlichkeit werden in diesem Zusammenhang marginale Zugeständnisse oder auch eine Zurückname von kurz zuvor umgesetzten Verschlechterungen der Situation, als demokratische Initiativen verkauft. Die Verfassungsreformpläne der AKP und Versuche zur Lösung der kurdischen Frage werden allerdings ohne die Einbindung der weiteren gesellschaftlichen Akteure Makulatur bleiben. Diese Ansicht wird selbst in weiten Kreisen der Türkischen Mainstreammedien geäußert.
 
Die Regierungen innerhalb der EU preisen die Eskalationspolitik der AKP weiterhin als „Rolemodel“ für einen gemäßigten Islam im Mittleren Osten an und bevorzugen in Bezug auf die Lösung der kurdischen Frage, dort nicht mögliche Varianten wie die Machtübernahme durch die AKP oder eine „Farbenrevolution.“ Aus rein wirtschaftlichen und geostrategischen Motiven, tragen sie daher eine Mitverantwortung für kontinuierliche, gravierende Verletzungen der Menschenrechte und des Völkerrechts. Die Türkei gilt ihnen weiterhin als wichtiger Vorhof zum Mittleren Osten, NATO-Bündnispartner als und besonders wichtig für die geplanten „Neustrukturierungen“ im Irak, in Syrien, im Iran, im Libanon und in Ägypten. Gerade in diesem Zusammenhang besteht offenbar die Befürchtung, dass eine gut organisierte, dynamische, sozialistische Bewegung, wie sie die kurdische Bewegung ist, den unorganisierten und deshalb leicht instrumentalisierbaren „Demokratischen Bewegungen“ in diesen Ländern als Vorbild dienen könnte, wenn nicht weiterhin mit allen Mitteln versucht wird, ihre Entfaltung zu verhindern.
 
Der Versuch einer völkerrechtswidrigen Militärintervention seitens des Iran, seit dem 16. Juli 2011 läßt sich in dieser internationalen Gemengelage ebenfalls leichter verstehen. Mehrere Nachrichtenagenturen, MenschenrechtlerInnen und PolitikerInnen aus dem Iran, dem Irak, der Türkei und Europa berichten in diesem Zusammenhang von einer Zusammenarbeit der Iranischen und der Türkischen Armee. Am 11. Juli war der türkische Außenminister Davutoğlu zu Gesprächen in den Iran gereist. In der regierungsnahen Tageszeitung Zaman bekräftigte der dem türkischen Ministerpräsidenten Erdogan nahe stehende Kolumnist, Fehmi Korun die Zusammenarbeit der Türkei mit den USA wie auch die Kooperation mit dem Iran. Er drohte, dass „ein ähnliches Massaker, wie gegen die Tamil Tigers in Sri Lanka auch an PKK und PJAK begangen werden könne.“ (2)
 
Die Vorwürfe einer Zusammenarbeit zwischen der iranischen und türkischen Armee werden durch Augenzeugen bestätigt. Berichten zufolge haben 20 türkische Panzer und ca. 300 Soldaten zwischen dem 21. und 25. Juli den Esendere-Grenzübergang von der Türkei in den Iran überquert. Auch ein Dorfschützer, der auf iranischer Seite an den Militäroperationen teilnahm, erklärte er habe die Leichen 5 türkischer Soldaten gesehen und ergänzte: „Ich habe auf vier iranischen Lastwagen eine große Zahl von türkischer Munition und 120mm Artilleriegeschossen gesehen, die in das Dorf Gire Şeytan gebracht wurden. Unter der Munition befanden sich auch Mörser und viele türkische Waffen.“ (3)
 
Die aggressive türkische Repressionspolitik wird seitens der europäischen Regierungen offensiv unterstützt und mitbetrieben - u.a. im Rahmen sicherheitspolitischer und militärischer Zusammenarbeit, der Ausrüstung der Türkei mit Waffen und Repressionsstrukturen und Ausbildungsprogrammen, sowie der erneut zunehmenden Kriminalisierung der legitimen politischen kurdischen VertreterInnen in Europa. Zuletzt wurde das sichtbar im Rahmen einer Razzia- und Festnahmewelle gegen legal arbeitende Vereine und PolitikerInnen in Frankreich, wie auch zunehmender Repression und Festnahmen, sowie erste Verfahren nach §129b gegen vermeintliche Kader der PKK, in Deutschland. Zur derzeitigen Gesamtstrategie gehört auch der Ausbau militärischer, juristischer und polizeilicher Kompetenzen zur Bekämpfung von wirksamen Oppositionsbewegungen im Rahmen der EU Außen- und Sicherheitspolitik. (4)
 
Der überwiegende Teil der hiesigen Mainstreammedien, die in Bezug auf das Thema Türkei leider relativ gleichgeschaltet sind, berichtet meist einseitig und oft auch bewusst wahrheitswidrig im Rahmen der vorgegebenen Hegemonie. Das geschieht erschreckender Weise noch weit unter dem Differenzie-rungsniveu der türkischen Mainstreammedien, deren JournalistInnen und RedakteurInnen allerdings weit größerem Repressionsdruck ausgesetzt sind. (5)
 
Wie in patriachal-kapitalistischen Gesellschaftsordnungen üblich, stehen bei der Gestaltung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik die ungeschminkten und ungebremsten wirtschaftlichen Interessen einem, an Grund- und Menschenrechten orientierten, politischen Handeln im Weg. Eine Demokratisierung der Türkei und die Gewährung von kulturellen und Grundrechten für die kurdische Bevölkerung und religiöse Minderheiten, würden auf jeden Fall durch diplomatischen Druck aus Europa vereinfacht. Die europäischen Regierungen haben allerdings offenbar zuviel Angst vor der beschriebenen dynamischen, linksemanzipatorischen, demokratischen Bewegung, die durch die kurdische BDP und den Linken Wahlblock ihren parlamentarischen Ausdruck findet. Denn eine demokratisch organisierte Gesellschaft, in einer so ressourcenreichen Region, wäre nicht mehr so leicht instrumentalisierbar, wie eine von gravierenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen geprägte Gesellschaft und ein sich autokratisch entwickelnder Staat. In patriachal-kapitalistischen Formationen neigen die Herrschenden zudem ohne den Druck von starken gesellschaftlichen Bewegungen grundsätzlich zu gewaltförmigen Konfliktlösungsansätzen. Deshalb wäre es für eine positive Entwicklung wohl auch förderlich, wenn die Friedensbewegung, sowie außerparlamentarische und parlamentarische Kräfte in Europa die Situation in der Türkei und die kurdische Frage mehr zu ihrem Thema machen würden.
 
In Bezug auf die kurdische Frage müssten sowohl seitens der türkischen Regierung, wie auch international, die BDP und der DTK, sowie Abdullah Öcalan und die PKK als gleichberechtigte Dialogpartner in einem möglichen, ernsthaften und nicht nur angedeuteten Friedensdialog anerkannt und der direkt nach der Wahl erneuerte einseitige Waffenstillstand der PKK sofort positiv erwidert werden.
 
Darüber hinaus wäre es notwendig, Wege der Aufarbeitung geschehenen Unrechts und der Integration der politischen Gefangenen und Guerillas in das demokratische Leben zu eröffnen. Die kurdische Seite ist seit langer Zeit zu einem derartigen Friedensprozess bereit - jedoch ist die Geduld und Leidensfähigkeit der Bevölkerung in Bezug auf die anhaltenden menschen-verachtenden staatlichen Praktiken und die Hinhaltetaktik der AKP soweit überstrapaziert, das im Fall einer Fortsetzung dieser Vorgehensweisen, ein erneuter Bürgerkrieg droht. (PK)
 
 
(1) http://www.labournet.de/internationales/tr/aktionoderstreik.html
(2) http://www.suite101.de/content/kurden-sehen-internationalen-komplott-a119415?template=article_print.cfm
(3) http://www.nadir.org/nadir/initiativ/isku/pressekurdturk/2011/30/05.htm
(4) http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=14203
(5) Dolzer, Martin, in „Der türkisch-kurdische Konflikt“, Pahl-Rugenstein, Bonn, 2010
 
 
Martin Dolzer, geb. 1966 in Kiel, Diplom Soziologe, ist Öffentlichkeitsreferent in einem Anwaltsbüro, Autor des Buches „Der türkisch-kurdische Konflikt“ und freier Journalist.
Seit 10 Jahren intensive Beschäftigung mit dem Thema Türkei und Kurdistanpolitik. Teilnehmer an Menschenrechtsdelegation und Forschungsreisen in die Türkei, die kurdischen Provinzen des Landes und in den Irak, u.a. im Rahmen wissenschaftlicher Mitarbeit für die Bundestagsabgeordneten Norman Paech und Andrej Hunko, Die Linke


Online-Flyer Nr. 320  vom 21.09.2011

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