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Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

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Inland
EGMR-Urteil gegen die Kündigung von Brigitte Heinisch und deutsche Gerichte
Whistleblowing durch Meinungsfreiheit geschützt!
Von Guido Strack

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 21. Juli entschieden: Die fristlose Kündigung von Brigitte Heinisch, Berliner Altenpflegerin und Whistleblower-Preisträgerin 2007, und die Weigerung der deutschen Gerichte diese Kündigung aufzuheben, verstößt gegen das Recht auf Meinungsfreiheit, das in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechts-Konvention garantiert wird.


Whistleblower-Preisverleihung 2007 an Brigitte Heinisch durch Dr. Peter Becker, Vorsitzender der IALANA (International Association Of Lawyers Against Nuclear Arms)
Quelle: http://vdw-ev.de/festveranstaltung/
 
Kündigung wegen Strafanzeige gegen Vivantes
 
Anfang 2005 war Brigitte Heinisch von ihrem Arbeitgeber, dem landeseigenen Berliner Konzern Vivantes GmbH fristlos gekündigt worden, weil sie im Dezember 2004 eine Strafanzeige gegen Vivantes wegen des Verdachts auf Betrug und weitere Straftaten gestellt hatte. Hintergrund war die Besorgnis von Frau Heinisch um erhebliche Personal- und Qualitätsmängel in der Pflege. Bei ihrer Arbeit in einem Berliner Altenheim von Vivantes hatten Zustände geherrscht, die sie nicht hinnehmen und auch nicht verantworten wollte: Wund gelegene Hilfsbedürftige, die stundenlang nicht versorgt wurden, zu wenig Zeit für alte Menschen, die sich allein nicht mehr helfen konnten. Ihrer Ansicht nach hatte Klinikbetreiber Vivantes zu wenig Personal und war nicht in der Lage, die Bewohner ihres Alten- und Pflegeheims ausreichend zu versorgen. Darauf hatte sie, teilweise auch gemeinsam mit Kolleginnen, zuvor schon mehrfach intern hingewiesen. Auch der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) hatte mehrfach Pflegemängel festgestellt. Aber weder Heinischs Hinweise noch die Feststellungen des MDK hatten zu einer Verbesserung der Situation geführt.
 
Eigenwerbung von Vivantes: "Vivantes gehört zu Berlin. Vivantes ist Leben in Berlin. Vivantes sieht sich längst nicht mehr nur als Krankenhausunter-nehmen. Unser Auftrag ist die gesundheitliche Daseinsvorsorge für alle Menschen in dieser Stadt, für die Kranken jeden Alters wie für die Gesunden. Kurz: Für Gesundheit in jeder Lebenslage. Lifestyle oder Lebensrettung, glückliche Geburt oder würdiges Sterben. Vivantes ist für Berlin da – für eine halbe Million Menschen Jahr für Jahr." (1)
 
Entscheidung des EGMR
 
In seiner Entscheidung nennt der EGMR das Verhalten von Frau Heinisch explizit "Whistleblowing" und verweist auch auf die jüngste Entschließung der Parlamentarischen Versammlung des Europarats zu diesem Thema.
 
Im Kern der Entscheidung ging es um die Frage, ob die Kündigung der Frau Heinisch eine in einem demokratischen Rechtsstaat notwendige und verhältnismäßige Einschränkung der Meinungs- und Informationsverbreitungs- freiheit darstellte. Hierzu nimmt das Gericht eine Einzelfallabwägung vor. Dabei stellt es jenen Grundrechten auf der einen Seite die vom Gericht explizit anerkannte Verpflichtung von Beschäftigten gegenüber ihrem Arbeitgeber zu Loyalität, Zurückhaltung und Diskretion auf der anderen Seite gegenüber.
 
Ausgangspunkt des Gerichts ist der Grundsatz, dass Beschäftigte regelmäßig zunächst ihren Vorgesetzten oder andere kompetente Stellen über mögliche Missstände am Arbeitsplatz informieren sollten. Nur falls dies offensichtlich nicht helfe, komme als letzter Ausweg der Gang an die Öffentlichkeit in Betracht. Es komme also darauf an, ob dem Beschäftigten andere effektive Wege zur Abstellung des Missstandes zur Verfügung standen. Der EGMR verweist dabei auf die Entschließung der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, nach welcher dort, wo ein ordnungsgemäßes Funktionieren interner Whistleblowing-Kanäle nicht erwartet werden kann, der Arbeitgeber Missstände und Rechtsbrüche also trotz Hinweis nicht abstellt, externes Whistleblowing geschützt sein muss.
 
Kritik am deutschen Recht
 
Das Gericht betont dabei auch durchaus kritisch, dass das deutsche Recht keinen Rechtsanspruch des Whistleblowers auf interne Ermittlungen und Korrekturmaßnahmen vorsieht. Der von Frau Heinisch gewählte Weg, mehrfacher – erfolgloser – interner Beschwerden, gefolgt von einer unter anwaltlicher Beratung erstellten Strafanzeige war demnach nicht zu beanstanden, auch deshalb, weil Heinisch es zunächst auch bei einer bloßen Strafanzeige bewenden ließ und sich eben nicht direkt offensiv an die Medien wandte.
 
Der EGMR betont ausdrücklich das öffentliche Interesse an der Bekämpfung des aufgedeckten Missstandes, bei dessen Vorhandensein der Spielraum für Beschränkungen der öffentlichen Debatte sehr eng sein müsse. Dieses Interesse wurde angesichts der hohen gesellschaftlichen Relevanz einer bestmöglichen Altenpflege bejaht.
 
Das Gericht sieht ein Interesse an der Vermeidung von diffamierenden und böswilligen Anschuldigungen ohne jegliche faktische Substanz. Dabei betont das Gericht zwar, der Whistleblower habe eine Verantwortung, die Richtigkeit seines Vorbringens in einer den Umständen angemessenen Art und Weise zu überprüfen. Zugleich macht der EGMR aber auch deutlich, dass das Aufnehmen von Ermittlungen dann Aufgabe der Staatsanwaltschaft sei, vom Whistleblower also nicht erwartet werden könne, dass er deren Resultat voraussieht. Im Ergebnis stellt der EGMR somit im wesentlichen – wie schon das Bundesverfassungsgericht im Jahre 2001 – darauf ab, ob die Anzeige unter Angabe bewusst falscher Fakten oder leichtfertig ohne Faktenbasis gestellt wurde. Im Fall Heinisch verneint der EGMR jenen Ausschlussgrund vor allem unter Verweis auf die entsprechenden Feststellungen des MDK. Auch betont das Gericht, dass selbst gewisse Übertreibungen und Generalisierungen insoweit unschädlich seien, da jedenfalls keine bloßen Behauptungen ohne Faktengrundlage ins Blaue hinein aufgestellt worden seien, sondern der Anzeige vor allem eine Beschreibung der Pflegemängel zu Grunde lag.
 
Auch die Motive des Whistleblowers bezieht der EGMR in seine Abwägungsentscheidung mit ein. Allerdings können diese wohl nur in Ausnahmefällen zu Einschränkungen führen, solange der Whistleblower insgesamt gutgläubig ist, also daran glaubt, dass die von ihm vorgebrachte Information wahr ist (selbst wenn sich dies hinterher als Irrtum herausstellen sollte). Im konkreten Fall von Frau Heinisch hat das Gericht diese Gutgläubigkeit bejaht und darüber hinaus deutlich gemacht, dass es unerheblich ist, ob ihr Handeln zusätzlich auch noch davon motiviert wurde, ihre eigenen Arbeitsbedingungen zu verbessern.
 
Weiterhin ist auch der Schaden für den betroffenen Arbeitgeber ein Kriterium, welches der EGMR im Rahmen seiner Abwägung heranzieht. Der Schutz vor Rufschädigung und Schutz von wirtschaftlichen Interessen seien von der Rechtsordnung anerkannt, sowohl im Interesse des Betroffenen als auch im Gemeinschaftsinteresse an einer funktionierenden Ökonomie. Zugleich bestehe aber gerade bei öffentlichen Arbeitgebern und Unternehmen in öffentlicher Hand auch ein Interesse daran, die Qualität der Dienstleistungen sicherzustellen und möglicherweise bestehende Defizite im Rahmen einer Untersuchung und einer öffentlichen Debatte aufzuklären. Gerade im Falle von Pflegeleistungen durch Unternehmen in öffentlicher Hand überwiege daher das öffentliche Informationsinteresse die Interessen des Unternehmens an der Sicherung seines Rufs und seiner Geschäftsinteressen.
 
Abschreckungswirkung für andere Mitarbeiter
 
Schließlich berücksichtigt der EGMR auch noch die Schwere des Grundrechtseingriffs und sieht die fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses insoweit als maximale Sanktion an. Dabei stellt das Gericht nicht nur auf die massiven Auswirkungen für die betroffene Frau Heinisch ab, sondern auch auf die von der Kündigung ausgehende Abschreckungswirkung für andere Mitarbeiter. So sei es möglich, dass nicht nur Mitarbeiter von Vivantes, sondern auch andere in der Pflege Beschäftigte zum Schaden der Gesellschaft als Ganzer davon abgeschreckt werden könnten, auf Missstände hinzuweisen. Gerade in einem Bereich, in dem es um alte und kranke Menschen gehe, die ihre Rechte oft selbst nicht mehr wahrnehmen könnten, seien aber die Mitarbeiter am besten geeignet, ihren Arbeitgeber und die Öffentlichkeit insgesamt auf Missstände hinzuweisen. Das EGMR sah daher die Kündigung von Frau Heinisch auch unter diesem Aspekt als unverhältnismäßig an.
 
Im Ergebnis stellte das Gericht einen Verstoß der Bundesrepublik Deutschland gegen Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) fest. Die deutschen Gerichte hätten es versäumt, eine faire Abwägung zwischen dem Ruf und den Rechten des Arbeitgebers und dem Recht der Beschäftigten auf Meinungsfreiheit herzustellen. Der EGMR sprach Frau Heinisch neben einer Kostenerstattung in Höhe von 5.000 EUR auch einen Schadensersatz für den erlittenen immateriellen Schaden in Höhe von 10.000 EUR zu, lehnte aber weitergehende Schadensersatzforderungen von Frau Heinisch ebenso ab wie ihr Vorbringen, dass zugleich auch das Recht auf ein faires Verfahren aus Artikel 6 EMRK verletzt worden sei. Hierzu stellt der EGMR nur knapp fest, dass Beweislastfragen Sache der nationalen Rechtsordnungen seien und Frau Heinisch die Möglichkeit hatte, vor den nationalen Gerichten ihre Position vorzutragen. Damit sei Artikel 6 Absatz 1 EMRK genügt worden.
 
Die Folgen des Urteils für Brigitte Heinisch und andere
 
Das EGMR-Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die Bundesregierung kann innerhalb von 3 Monaten gegen die einstimmig getroffene Kammerentscheidung Einspruch einlegen und die Verweisung an die Große Kammer des EGMR beantragen. Selbst mit der Rechtskraft der Entscheidung des EGMR würde das Arbeitsverhältnis der Frau Heinisch aber keineswegs automatisch fortbestehen. Dem stehen mehrere rechtskräftige Urteile deutscher Gerichte entgegen. Frau Heinisch hat jedoch die Möglichkeit, unter Berufung auf die Entscheidung des EGMR ein Restitutionsverfahren in Deutschland zu betreiben. Inwieweit sie damit, auch vor dem Hintergrund parallel erfolgter fristgemäßer krankheitsbedingter Kündigungen, Erfolg haben kann und eventuell sogar einen Ersatz des ihr entstandenen materiellen Schadens wird erreichen können, ist aber heute kaum absehbar.
 
Das Urteil ist eine sehr positive Entscheidung. Das Whistleblower-Netzwerk freut sich sehr für und mit unserem Vorstandsmitglied Brigitte Heinisch. Wir beglückwünschen sie zu ihrer Rehabilitierung, bewundern die Energie, mit der sie das Urteil erstritten hat und wünschen ihr, dass sie diese auch noch haben wird, wenn es nun darum geht, ihren Weg weiterzuverfolgen und die Aufhebung der deutschen Fehlurteile zu erreichen. Dank gebührt auch ver.di und allen anderen Unterstützerinnen und Unterstützern von Brigitte Heinisch.
 
Was die Übertragbarkeit des Urteils auf andere Fälle angeht: Wir sehen durch das Urteil eine deutlichen Stärkung der Position und Chancen von Whistleblowern vor Gerichten in Deutschland und Europa. Dies gilt aber leider bestenfalls für noch anhängige und zukünftige Gerichtsverfahren. Wir fordern daher nach wie vor, all jene ebenfalls zu rehabilitieren, denen, ähnlich wie Frau Heinisch, der Schutz von Gerichten bisher versagt wurde. Hier ist die Politik gefordert.
 
Politischer Handlungsbedarf besteht aber nicht nur mit Blick auf Altfälle. Der Ruf nach einer gesetzlichen Regelung zum effektiven Schutz von Whistleblowern in Deutschland und Europa sollte nach dem Urteil des EGMR keineswegs verstummen, sondern umso kräftiger vorgebracht werden. Das Urteil hat zu Recht auf die Bedeutung von Whistleblowing in einer demokratischen Gesellschaft hingewiesen, aber auch darauf, dass in Deutschland Whistleblower kein Recht auf Aufklärung haben und der EGMR ihnen dieses ebenfalls nicht gewähren kann. Eine demokratische Gesellschaft aber braucht genau dieses Recht auf Aufklärung!
 
Auch unter Schutzaspekten ist die bloße Korrektur von Teilen der bei Whistleblowern eingetretenen Schäden am Ende von äußerst langwierigen Gerichtsverfahren über viele Instanzen nicht ausreichend. Der EGMR konnte nur durch Auslegung ganz allgemeiner Rechtsprinzipien ein – von seiner Wirkung her zunächst auch großteils nur symbolisches – Urteil in einem Einzelfall herstellen und damit den von ihm selbst beschriebenen Abschreckungseffekt, dem sich potenzielle Whistleblower gegenübersehen, etwas abmildern. Es kommt aber darauf an, diesen Abschreckungseffekt zu beseitigen und Menschen positiv zu ermutigen, Missstände nicht nur in der Altenpflege sondern auch in vielen anderen Bereichen offen anzusprechen und auf Änderungen zu dringen. Hierfür ist das vorliegende Urteil mit all seinen differenzierten Formulierungen und Abwägungskriterien leider nur bedingt geeignet.
 
In diesen Kriterien sind immer noch zu viele Unwägbarkeiten vorhanden. Betroffenen kann kurz nach Feststellung vermeintlicher Missstände daher in vielen Fällen nach wie vor nicht dazu geraten werden, sich an Behörden oder gar an die Öffentlichkeit zu wenden. Ist das Urteil auch auf Lebensmittelfälle, Korruption, Steuerhinterziehung oder auf Umweltvergehen und Datenschutzverstöße direkt übertragbar? Was gilt, wenn der Arbeitgeber Abhilfe verspricht – wie lange muss ein Arbeitnehmer dann abwarten, dass auch wirklich etwas passiert? Was gilt, wenn der Arbeitgeber zwar nicht kündigt, aber Karrieren blockiert, Whistleblower in leere Büros oder abgelegene Filialen versetzt oder sich sonstiger Mobbingtechniken bedient? Gilt diese Rechtsprechung auch bei anonymen Meldungen oder greift hier weiter die Meinung des Bundesarbeitsgerichts, dass die anonyme Wahrnehmung des Grundrechts auf Meinungsfreiheit nicht möglich ist?
 
Diese und viele weitere Fragen sind auch nach dem aktuellen Urteil noch offen, offen für eine durch das Urteil hoffentlich beförderte Diskussion der Kernfrage: Wie viel Kenntnis über Missstände in Organisationen, wie viel behördliche und öffentliche Kontrolle und Diskussion will unsere Gesellschaft, und welchen Schutz und welche Anreize will sie Insidern dafür bieten, dass sie dies ermöglichen? Mit Spannung warten wir auch darauf, wie sich die Parteien bei der im Herbst anstehenden Debatte um gesetzlichen Whistleblowerschutz positionieren werden. Wir jedenfalls fühlen uns durch das heutige Urteil bestärkt, es stellt unserer Auffassung nach immerhin einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung dar.
 
Ergänzung der Redaktion: Altenpflegerin Brigitte Heinisch verlangte nach dem Urteil eine Rehabilitation durch den Berliner Senat. Klaus Wowereit als Regierender Bürgermeister, aber auch Justizsenatorin Gisela von der Aue (beide SPD) und Gesundheitssenatorin Katrin Lompscher (Linke) sollten sich entschuldigen und sich dafür einsetzen, dass ihre Kündigung zurückgenommen werde, sagte Heinisch am Donnerstag in Berlin. (PK)
 
(1) http://www.vivantes.de/vivantes-das-unternehmen/
 
Guido Strack ist 1. Vorsitzender des Whistleblower-Netzwerk e.V.
 
Über ihre Erfahrungen als Altenpflegerin im Kampf gegen den Pflegenotstand hat Brigitte Heinisch im Jahr 2009 das Buch "Satt und sauber?" veröffentlicht. Rowohlt Digitalbuch, 9,99 €, 978-3-644-41161-6
 









Online-Flyer Nr. 312  vom 27.07.2011

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