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Inland
Die Genese der Plutonium- Tritium-Diktatur - Teil 3
In Memoriam Leon Grünbaum (1934 - 2004)
Von Dietrich Schulze

Der französische Physiker Leon Grünbaum hat sich bereits vor drei Jahrzehnten mit der kriminellen Vorgeschichte der deutschen Atomforschung beschäftigt. Er stammt aus einer jüdischen Familie, die mit ihm vor den Nazis fliehen musste, studierte bei Heisenberg in München und wurde als befristet Beschäftigter im Atomforschungsprogramm des Kernforschungszentrums Karlsruhe (jetzt Karlsruher Institut für Technologie KIT Campus Nord) von einem Alt-Nazi in der Geschäftsführung und weiteren Mithelfern erneut als Jude diskriminiert.


Physiker Dr. Dr. Leon Grünbaum 1969
Quelle: Dietrich Schulze
Anfang der 1980er Jahre legte Grünbaum eine zweite Disserta- tion im Fach Wissenschaftsge-schichte an der Sorbonne unter dem Titel „Die Genese der Plutoniumgesellschaft – politische Konspirationen und Geschäfte“ vor. Es ist kein Zufall, dass diese Anklageschrift gegen eine Technologie, deren Wirkungen die Menschheit mit Hiroshima, Tschernobyl und Fukushima zu spüren bekam und bekommt, nie veröffentlicht wurde. Wir bringen hier erstmals die Übersetzung eines Schlüsselkapitels daraus: 







Rudolf Greifeld, Herrmann Giesler, Albert Speer, Adolf Hitler und Arno Breker am 28. Juni 1940 in Paris (v.l.n.r.)
Quelle: Bundesarchiv Bild 183-H28708
 
Motivation für meine erneute Recherche im Kontext mit den Konsequenzen aus Fukushima für das Karlsruher Atomforschungsprogramm KIT und die Zivilklausel war ein bewegender Besuch von Grünbaums in Paris lebender Witwe. Zusammen mit Freunden wurde Mitte April eine Gedenkfeier an Leon’s Grab auf dem Friedhof in Mingolsheim bei Karlsruhe abgehalten. Hier das ins Deutsche übersetzte Kapitel III seiner Dissertation.
 
Leon Grünbaum „Die Genese der Plutoniumgesellschaft – politische Konspirationen und Geschäfte“
Kapitel III: Interludium alla tedesca - Deutsches Zwischenspiel:
Die Affäre Greifeld

Die Erfahrung eines dreijährigen Aufenthaltes am Kernforschungszentrum Karlsruhe von 1970 bis 1973 hat den Lebensweg des Autors dieser Schrift tief geprägt. Die Methoden sui generis, die man dort nutzt, um die Menschen zu schikanieren, sind nach außen hin zwar oft sehr höflich, aber kennzeichnend für den Verwaltungsapparat, und nur die zivile Kleidung der Vorstandsmitglieder erinnert daran, dass das Institut nicht offiziell den Militärs unterstellt ist. Ein Klima der Freiheit, das man in anderen Forschungszentren vorfinden kann, wird man hier vergeblich suchen. Es sei uns gestattet, einige Episoden als Beispiele anzuführen.
 
Während einer Betriebsversammlung am 26. September 1972 behauptete Dr. ZIEGLER, der Leiter der Juristischen Abteilung des Instituts, während einer lebhaften Diskussion zum Thema der übereilten Ausweitung der Praxis der Zeitverträge, dass es keine brauchbarere Praxis gebe als diese, die es gestatte „Ausländer“ in einer gewünschten Frist zu entlassen.
[Anmerkung: Wortlaut aus der Betriebsversammlung der Gesellschaft für Kernforschung am 26.9.1972: Dr. Ziegler: „Ich kann sagen, es ist sicherlich ein sachlicher Grund, wenn jemandem, der nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt und erstmals eine berufliche Tätigkeit aufnimmt, wenn mit einem solchen Mitarbeiter ein Zeitvertrag abgeschlossen wird, dann bin ich sicher, dass niemand sagen wird, hier liegen nicht genügend sachliche Gründe vor.“ Ein Betriebsratsmitglied: „Herr Dr. Ziegler, als Mann des Rechts bitte ich Sie folgendes wieder zurückzunehmen. § 75 des Betriebsverfassungsgesetzes lautet: Arbeitgeber – also Sie auch mit – und Betriebsrat haben darüber zu wachen, dass alle im Betrieb tätigen Personen nach den Grundsätzen von Recht und Billigkeit behandelt werden, insbesondere, dass jede unterschiedliche Behandlung von Personen wegen ihrer Abstammung, Religion, Nationalität, Herkunft usw. unterbleibt.“ Dr. Ziegler lehnte die geforderte Rücknahme in der Betriebsversammlung ab.]
 
Daraufhin wurde der folgende Text zur Abstimmung gebracht: „Der Betriebsrat möge beschließen: … Herr Dr. Ziegler hat auf der Betriebsversammlung am 26.9.1972 Begründungen für den Abschluß von Zeitverträgen genannt, wobei er die Staatsangehörigkeit eines Arbeitnehmers erwähnte. Diese Äußerung hat erhebliche Zweifel an der Gewährleistung einer nicht unterschiedlichen Behandlung ausländischer und deutscher Arbeitnehmer hervorgerufen. Der Betriebsrat bittet daher die Geschäftsführung, die Ausführungen Herrn Dr. Zieglers klarzustellen und die Grundsätze der Gesellschaft für Kernforschung über die Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer ausführlich zu erläutern.“
 
Dr. ZIEGLER wurde somit auf der Betriebsratssitzung am 15.11.1972 dazu veranlasst, zu seinen Darlegungen hinsichtlich der diskriminierenden Maßnahmen gegen die Ausländer Stellung zu nehmen. Wie zu erwarten, erklärte er, dass seine Worte nicht so zu interpretieren sind, als seien sie ausschließlich gegen die „Ausländer“ gerichtet, sondern es handele sich ganz einfach um ein allgemeines Problem des Arbeitsmarkts! Im Protokoll des Betriebsrats steht zu lesen, dass Dr. ZIEGLER bei der Verwendung des Begriffs „Ausländer“ stillschweigend Personen einbezogen hatte, die sich noch in der Ausbildung befinden und nicht allein die Nationalität der Menschen gemeint war.
 
Der Autor hatte an dieser Betriebsversammlung teilgenommen. Er kann bestätigen, dass Dr. ZIEGLER im Verlauf der Diskussion über die Zeitverträge den Begriff „Ausländer“ bewusst und nachdrücklich gebraucht hat, obwohl das Problem ohne jedweden Bezug zur Nationalität der Mitarbeiter behandelt worden war…..
 
Ein weiteres Leitungsmitglied, Dr. GREIFELD, administrativer Vorstandsvorsitzender seit Gründung des Zentrums wurde in seinen Äußerungen noch deutlicher. Er verlangte, dass – wenn man schon Ausländer einstelle – der Vorzug „Blonden, Schweden zum Beispiel“ gegeben werden müsse, und nicht Personen, die vom Balkan kämen! Kurz gesagt, er schlug eine Art Arisierung des ausländischen Personals vor! Es muss daran erinnert werden, dass dies weniger als 30 Jahre nach dem Tod von HITLER geschah …


Rudolf Greifeld bei der Einweihung der Reaktorsiedlung in Leopoldshafen
Foto aus der Jubiläumszeitschrift "25 Jahre Kernforschungszentrum Karlsruhe"
 
Eine Frage stellt sich: Entsprach denn diese Haltung der Leitung des Kernforschungszentrums Karlsruhe der von der sozialdemokratisch-liberalen Koalition verfolgten Politik? Man muss sich vergegenwärtigen, dass das Zentrum zu 90% vom Bund und zu 10% vom Land Baden-Württemberg finanziert wird. Selbstverständlich sollte dann die vom Forschungszentrum verfolgte Politik auch den Wünschen des Bundes – des Hauptgeldgebers – entsprechen.
Sehr viele Geschichten wären zu erzählen, wollte man den Leser die reale Atmosphäre nachempfinden lassen, die innerhalb des Zentrums herrschte, die kurz gesagt politisch eine extrem rechte war.
 
Und das lässt sich nicht klarer ausdrücken als mit den Worten von Staatssekretär Dr. SPERLING, mit denen er sich im Februar 1973 auf der Jahrestagung des Verbandes der Wissenschaftler an Forschungsinstituten an Dr. HAUFF, den gegenwärtigen Minister, wandte [zum Zeitpunkt der Jahrestagung war Dr. Hauff Staatssekretär im Forschungsministerium]. SPERLING erklärte, dass „das Kernforschungszentrum aus Militärs ohne Uniform besteht und die Verwaltung die Rolle einer Truppe in Zivil spielt“. SPERLING hoffte, auf diese Weise Dr. HAUFF, dessen Karriere noch in den Anfängen steckte, zur Einsicht bringen zu können. Aber er hatte sich getäuscht. Die Reaktion von HAUFF auf seine Rede war von unerwarteter Heftigkeit. Um diese Reaktion nachvollziehen zu können, muss man wissen, dass HAUFF bereits zuvor ein Schreiben einer Gruppe von Mitarbeitern des Zentrums Karlsruhe erhalten hatte. In diesem Schreiben wurde auf „Kameradschaften“ zwischen einigen Mitarbeitern der Verwaltung des Zentrums hingewiesen, die in Kriegszeiten geschlossen wurden und allermindestens als zweifelhaft erschienen.
 
In der Tat kann man diese neonazistische Atmosphäre nur empfinden und erkennen, wenn man sie schon einmal durchlebt hat. Der Autor hatte sie vorausgefühlt, als er das Gelände des Zentrums betrat, aber er musste zuerst einmal ein Knäuel von Ereignissen durchleben, um schließlich zur Entdeckung der Aktivitäten eines gewissen Dr. GREIFELD während des Zweiten Weltkriegs zu gelangen, die „allermindestens als zweifelhaft“ erschienen.
 
So kam es auch dazu, dass in der Zeit seines Aufenthalts in Karlsruhe einer der Kollegen des Autors, dessen Namen der Autor aus Sicherheitsgründen besser nicht nennt, auf einer Abendgesellschaft in einem Privatklub einen gewissen Dr. ERNST traf. Dieser Dr. ERNST war schon nicht mehr sehr jung und war während des Krieges in Paris tätig, wo er auch die Bekanntschaft des Dr. GREIFELD gemacht hatte. Und am Ende der Abendgesellschaft richtete ERNST wie ganz selbstverständlich an den Kollegen des Autors die Bitte, Dr. GREIFELD Grüße zu überbringen.
 
So gelangten wir an den Anfang der Spur, die zeigte, dass Dr. GREIFELD gut und gern einen Teil des Krieges in Frankreich verbracht hat. Dieses mündliche Zeugnis hatte aber nur geringen Wert. Was man brauchte, war die schriftliche Bestätigung von ERNSTs Äußerung durch GREIFELD. Anstatt ERNSTs Botschaft einfach nur an GREIFELDs Sekretärin zu überbringen, bevorzugten wir den internen Postweg. Der Kollege des Autors verfasste eine schriftliche Mitteilung an GREIFELD¸ in der er ihn über die Grußbotschaft ERNSTs informierte. In dieser Mitteilung führte er klar die Tatsache an, dass der Beginn der Bekanntschaft dieser beiden Personen in die Zeit der Okkupation von Paris durch die Deutschen fiel. GREIFELD beantwortete die Mitteilung und bestätigte, ERNST während des Kriegs in Paris kennengelernt zu haben.
[Anmerkung : Wortlaut der zitierten Antwort von Dr. Greifeld vom 5. Juni 1972: „Besten Dank für Ihre Nachricht vom 22. Mai 1972, in der Sie Grüße von Dr. Ernst ausgerichtet haben. Zur Klarstellung möchte ich sagen, dass ich Herrn Dr. Ernst seit vielen Jahren kenne, insbesondre aus gemeinsamer Zeit in Paris. Doch waren weder er noch ich Kommandant, sondern wir waren beide in der Militärregierung Frankreich tätig.“]
 
Von diesem Zeitpunkt an (das war 1972) hatte der Autor die Gewissheit, dass seine Recherchen von Erfolg gekrönt sein würden. Er hatte den Verdacht geschöpft, dass GREIFELD während des Krieges Aktivitäten antisemitischen Charakters betrieben hatte. Dieser Verdacht war in ihm aufgekeimt im Anschluss an ein persönliches Gespräch, das er mit Dr. GREIFELD in dessen Büro hatte. Die Archive zu durchsuchen, ohne eine Spur zu haben, hätte keinen Sinn gehabt. Aber zumindest war der Autor nun sicher, dass die Richtung „Paris“ zutreffend sein sollte. Hatte denn GREIFELD nicht selbst schriftlich bestätigt, ERNSTs Bekanntschaft während des Krieges in Paris gemacht zu haben? Außerdem hatte der Autor jetzt ein weiteres Positivum in seinen Händen: Unter der Antwort von GREIFELD stand die handschriftliche Unterschrift. Dies würde ihm den Vergleich mit den Unterschriften ermöglichen, die er vielleicht in Paris auf Dokumenten aus den deutschen Archiven aus der Kriegszeit finden würde. Hinzuzufügen ist, dass GREIFELD geäußert hatte, nicht der Wehrmacht angehört zu haben.
 
Im Besitze dieses Materials stattete der Autor in Paris Monsieur BLOCH, dem Vorsitzenden der Internationalen Liga gegen Rassismus und Antisemitismus, einen Besuch ab. Dieser half ihm dann, mit den KLARSFELDs in Kontakt zu kommen. Das war während des Sommers im Jahr des Heils 1972. Und zum Ende des gleichen Jahres hatte er die Möglichkeit eines langen persönlichen Gesprächs im Ministerium für Forschung und Technologie in Bonn mit Ministerialdirektor Dr. SCHMIDT-KÜSTER. Diskutiert wurde über den Arbeitsvertrag des Autors, den sein Institutsdirektor Professor Dr. HÄFELE um keinen Preis verlängern wollte. Als er bei dieser Gelegenheit Dr. SCHMIDT-KÜSTER seine Schwierigkeiten darlegte, wusste er noch nichts von den engen Beziehungen zwischen HÄFELE und GREIFELD, von denen er zu seinem eigenen Schaden erst viel später erfahren sollte. Dr. SCHMIDT-KÜSTER versprach ihm Hilfe und verpflichtete sich, alles zu unternehmen, um bis zum Zeitpunkt des Auslaufens des Arbeitsvertrags eine akzeptable Lösung zu finden. Es handelte sich darum, dass der Autor das von HÄFELE geleitete Institut verlassen sollte, um in ein anderes Zentrum zu wechseln, vorzugsweise eines außerhalb von Karlsruhe. Erwähnt wurde das CERN, in dem bereits eine vom Kernforschungszentrum Karlsruhe entsandte Forschungsgruppe arbeitete.
Trotz aller „Anstrengungen“ des Ministeriums hatte die Leitung in Karlsruhe die Verlängerung des Arbeitsvertrags verweigert. Es wäre übrigens interessant, eines Tages zu ermitteln, inwieweit von jenem Zeitpunkt an eine Art Berufsverbot seitens der Direktion von Karlsruhe ausgeübt worden sein könnte. Das, was man entdecken würde, hätte sicherlich nichts Überraschendes an sich.
 
Nach Auslaufen seines Arbeitsvertrags kehrte der Autor nach Frankreich zurück. Seine Intuition sagte ihm, dass er in der BRD keine Arbeitsmöglichkeit mehr bekommen würde. Aber erst später sollte klar werden, dass die Bedingungen in Frankreich kaum besser waren. Trotz der Intervention einer großen Zahl von Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Politik sah sich die französische Regierung immer wieder in der Situation „des großen Bedauerns, den Forderungen aus Gründen des Ansehens nicht nachkommen zu können.“
Als in der Presse der Skandal der TRAUBE-Affäre Furore machte, war das für den Autor eine Offenbarung. Es wurde für ihn zur Gewissheit, dass GREIFELD während des Krieges bestimmte antisemitische Aktivitäten begangen haben musste. Diese Überzeugung mit Beweisen zu belegen, würde keine geringe Arbeit darstellen, da bestimmte Personen nach wie vor eine beträchtliche Unterstützung genossen. Aber er hatte Glück und konnte in den Archiven des Jüdischen Dokumentationszentrums (Centre de Documentation Juive Contemporaine) recherchieren. Dort fand er die Strukturpläne des „Verwaltungsstabs des Militärbefehlshabers in Frankreich“ aus dem Jahre 1943/1944. GREIFELD war dort nicht erwähnt. Daraus zog er den Schluss, dass Dr. GREIFELD sich in Paris höchstens bis Ende 1942 aufgehalten hatte.
 
Was Dr. ERNST betrifft, war die Situation komplizierter, da dieser Familienname in Deutschland sehr verbreitet ist. Gefunden werden konnte ein gewisser Hans-Dietrich ERNST, der nach dem Krieg in Deutschland an einem geheimgehaltenen Ort lebte. Hans-Dietrich ERNST war während des Krieges Kommandeur der SIPO-SD in Angers. Nach dem Krieg wurde er der Verantwortlichkeit für die Deportation von 824 Juden beschuldigt und in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Bekannt war auch, dass bei dem allein für die in Frankreich begangenen Kriegsverbrechen zuständigen Staatsanwalt von Köln eine Klage gegen Hans-Dietrich ERNST eingereicht worden war. Daher hatte der Autor im April 1975 eine Unterredung mit Generalstaatsanwalt Dr. GEHRLING am Oberlandesgericht Köln. Diesem unterstanden alle Vorgänge, die in den LISCHKA-Prozess mündeten, in dem es um die Endlösung der Judenfrage in Frankreich ging. Dr. GEHRLING dachte, dass nur ein einziger Dr. ERNST existiere, und dieser schien nicht die Person zu sein, nach der gesucht wurde. In der Tat trug der eine den Doktortitel, der andere nicht, obschon beide Juristen waren. Der in Angers tätig gewesene ERNST lebte GEHRLING zufolge „irgendwo in Norddeutschland“, GEHRLING wusste aber, das „unser“ Mann in Baden-Württemberg wohnte. Er kannte in Baden-Württemberg keinen ERNST, der Kriegsverbrechen begangen hatte.
 
Nach diesem Gespräch begab sich der Autor in die Bibliothek von Köln, um dort in den Archiven der Doktorarbeiten zu recherchieren. Der Zufall wollte es, dass – wenn auch der Familienname ERNST recht verbreitet war, der Vorname des SS-Manns hingegen eher selten vorkam. In den durchsuchten Archiven gab es aber niemanden mit diesem Namen.
Irgendetwas in den Angaben von GEHRLING war unstimmig! Zurück in Paris, nahm der Autor die Suche nach den beiden ERNST wieder auf. Er durchblätterte alle Telefonbücher von Norddeutschland. Dabei fand er schließlich einen Hans-Dietrich ERNST¸ Anwalt in der schönen Stadt Leer nahe Oldenburg. Weitere Recherchen erbrachten ihm dann die Gewissheit, dass es sich tatsächlich um den früheren SS-Mann von Angers handelte.

Die Mitglieder von L.I.C.A. (Ligue Internationale Contre l'Antisémitisme – Internationale Liga gegen den Antisemitismus) waren sehr zufrieden, endlich den Wohnort von Hans-Dietrich ERNST zu kennen. Mit Serge und Beate KLARSFELD gingen die Recherchen dann zu GREIFELD und seinem Freund ERNST weiter. Nunmehr waren beide als Mitglieder der Militärregierung während des Krieges eingeordnet. Aber das waren auch schon alle Angaben, über die wir verfügten. Der Autor war aber damals fest davon überzeugt, dass man etwas finden müsste, wenn man sich nur Zeit nähme. Und dazu kam es dann schließlich auch. Eines schönen Tages entdeckte man eine ganze Reihe von Dokumenten zum Thema „Deportation der jüdisch-bolschewistischen Elemente in Zwangsarbeitslager des Ostens“. Es handelte sich vorwiegend um Deportierte aus dem Lager Compiègne. Und alle diese Dokumente waren unterzeichnet von einem gewissen Dr. ERNST, Mitglied des Verwaltungsstabs des Oberbefehlshabers in Frankreich – Abteilung Polizei. Die Unterschrift enthielt nie einen Vornamen, wie das im Deutschen nach dem Doktortitel üblich ist. Der Autor erinnerte sich jedoch, dass der Freund von GREIFELD den Vornamen Waldemar trug. Um nachzuprüfen, ob es sich tatsächlich um den genannten ERNST mit Wohnsitz in Baden-Württemberg handelte, richtete der Autor ein Schreiben an den Oberstaatsanwalt GEHRLING und reichte gegen den eben neugefundenen ERNST Klage ein. Eine Woche später begab er sich nach Köln. Zu seiner großen Überraschung war dem Generalstaatsanwalt dieses Mal die Existenz eines zweiten Dr. ERNST bekannt – es war Waldemar ERNST. Er wohnte in Aalen in Baden-Württemberg und war ganz genau der Freund von GREIFELD!
 
Gegen Dr. Waldemar ERNST wurde ein Untersuchungsverfahren eröffnet und GREIFELD wurde vom Generalstaatsanwalt als Zeuge vernommen. Die Vernehmung fand in Karlsruhe statt. Die Tatsache, dass Dr. GREIFELD vom Staatsanwalt zu seinen Beziehungen zu Dr. ERNST während des Krieges befragt wurde, spielte im weiteren Verlauf dieses Verfahrens eine bedeutende Rolle. Es war mittlerweile Juni 1975 und noch immer lagen keine Beweise für die früheren antisemitischen Aktivitäten von Dr. GREIFELD vor. So entschloss sich der Autor, ein Rundschreiben zu verfassen, das er an Persönlichkeiten aus der Welt der Presse, an hohe Bonner Ministerialbeamte und in zahlreichen Exemplaren auch an das Kernforschungszentrum Karlsruhe versandte. Hier der Text:
 
„Es ist mir sehr daran gelegen, Dr. Greifeld, Vorstandsmitglied des Kernforschungszentrums Karlsruhe, Dank zu sagen dafür, dass er es mir ermöglicht hat nachzuweisen, dass Dr. Waldemar Ernst, Hauptgeschäftsführer der Schwäbischen Hüttenwerke GmbH Aalen (Tel. 07361/5021) in seiner Eigenschaft als führendes Mitglied der Verwaltung von Paris während der Kriegszeit und als Chef der Polizeiabteilung an den Aktionen gegen die Juden in Frankreich beteiligt war und in Verbindung mit dem SS-Obersturmbannführer Kurt Lischka zu den unmittelbaren Verantwortlichen für die Verfolgungen der Juden in Paris gezählt hat.
Dr. Greifeld, der sich zu gleicher Zeit wie Dr. Ernst in Frankreich aufhielt und dort verantwortliche Funktionen beim militärischen Oberbefehlshaber in Frankreich ausübte, hat mir offenbart, wo ich Dokumente zu den antisemitischen Aktivitäten von Dr. Waldemar Ernst auffinden kann. Diese Dokumente habe ich Herrn Generalstaatsanwalt Dr. Gehrling in Köln übergeben.
Es hatte zwar früher bestimmte Meinungsverschiedenheiten zwischen Dr. Greifeld und mir gegeben, aber seine Klarstellungen zu Dr. Ernst waren sehr wertvoll für mich und die deutsche Justiz, die gegenwärtig den Prozess gegen die Hauptverantwortlichen für die Endlösung der Judenfrage in Frankreich vorbereitet, der in Köln stattfinden wird.“
(Es folgen die Unterschrift des Autors und seine Anschrift in Frankreich.)
 
Diesem Rundschreiben beigefügt waren Dokumente zur Judendeportation, die unterzeichnet waren von Dr. ERNST. Die Presse reagierte nicht – aus gutem Grund!
Es ging also darum zu sehen, wie GREIFELD diese Kröte schlucken würde. Er konnte nicht wissen, ob der Autor zu diesem Zeitpunkt ein Dokument über dessen Aktivitäten während des Krieges in Paris in Händen hatte. Anhand seiner Reaktion würde es ein Leichtes sein, den Schluss zu ziehen, ob man die Recherche fortsetzen müsste oder nicht. GREIFELD reagierte nicht. Man konnte nun also berechtigterweise vermuten, dass bestimmte seiner Aktivitäten antisemitischen Charakters gewesen waren. Die Recherchen in den Archiven des Jüdischen Dokumentationszentrums wurden mit verstärkter Kraft wieder aufgenommen. Im Oktober 1975 wurde schließlich ein Dokument aus dem Verwaltungsstab entdeckt, auf dem sich eine Unterschrift ähnlich der von Dr. Rudolf GREIFELD befand. Es stammte vom 2. Januar 1941 und war in der Tat das erste Dokument, das von einer antisemitischen Maßnahme in Frankreich berichtete! Hier der Text:
 
1.) Vermerk
In der jüngsten Zeit machen sich die Juden in Paris wieder sehr breit. So waren z.B. in dem Cabaret „Le bœuf sur le toit“ im Gebäude des Hotels „George V“ – von den Wehrmachtsangehörigen abgesehen – in der Silvesternacht sehr viele Juden. In der gleichen Nacht ist im Cabaret „Les Trois Valses“ – nach Angabe des OKVJ Fein – ein deutsches Lied, das die Kapelle spielte, ausgepfiffen worden. Zu dieser Zeit waren auch hier Juden. Gerade dieses Lokal wird von vielen Wehrmachtsangehörigen besucht. Auch in dem Cabaret „Carrère“ verkehren sehr viele Juden.



Ich rege deshalb an, dass die Bewilligung auf verlängerte Polizeistunde in den von Wehrmachtsangehörigen häufig besuchten Lokalen überprüft wird und die Verlängerung der Polizeistunde von der Verpflichtung abhängig gemacht wird, dass der Eigentümer ein Schild an der Tür anbringt, wonach Juden der Zutritt verboten ist.
2.) An das Polizeireferat zuständigkeitshalber.
Paris, den 2. Januar 1941.“ (Es folgt die handschriftliche Unterschrift GREIFELD)
Das Gutachten, das im Weiteren von einem Experten für Graphologie und Paläographie beim Berufungsgericht Paris angefertigt wurde, ließ keinen Zweifel: Das Dokument war tatsächlich während des Krieges von GREIFELD unterzeichnet worden.
Wie sich anhand der Anmerkung am Textende des Dokuments leicht feststellen lässt, war Dr. GREIFELD nicht zuständig, solche Maßnahmen zu ergreifen, er gehörte nicht der Polizeiabteilung an, sondern der Abteilung, die sich mit Alltagsfragen befasste, dem täglichen Leben während der Okkupation. Die Bedeutung, die die deutschen Behörden seiner antisemitischen Initiative beimaßen, spiegelte sich in Folgendem wieder: Zum Zeitpunkt, da er seine „geniale Idee“ – die erste antisemitische Maßnahme in Frankreich – hatte, stand GREIFELD im Rang eines „Kriegsverwaltungsassistenten“. Dreizehn Tage später war GREIFELD zum „Kriegsverwaltungsrat“ befördert worden.
 
Ende Oktober hielt der Autor gemeinsam mit den KLARSFELDs in der Europa-Hauptstadt Straßburg eine Pressekonferenz ab. Die antisemitischen Aktivitäten von Dr. GREIFELD wurden hier der Öffentlichkeit bekanntgegeben. Gefordert wurde der Rücktritt GREIFELDs vom Posten des Vertreters der Bundesrepublik Deutschland, den er im Lenkungsausschuss des englisch-französisch-deutschen Laue-Langevin-Instituts in Grenoble innehatte. Ein Deutscher, der während des Krieges in Frankreich antisemitische Maßnahmen gefordert hatte, saß nach dem Krieg im Direktionssessel eines Kernforschungszentrums in Frankreich – im Namen der Kooperation zwischen Paris und Bonn! Das war zu viel. Sein Fall hatte den gleichen provokatorischen Charakter wie der von BÖTTCHER im Kernforschungszentrum Jülich nahe der holländischen Grenze.
 
Die Presse veröffentlichte die Information. „Le Monde“, „Figaro“ und andere nicht-extremistische Zeitungen publizierten die Geschichte. In Deutschland wurde sie von der liberalen Zeitung „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ korrekt verbreitet. Dr. GREIFELD erklärte Journalisten gegenüber, dass das alles nichts als eine Lüge sei und dass man hier nichts als einen Racheakt von Seiten des Autors dieses Buches sehen könne. Er habe, so äußerte er sich, während seines Aufenthaltes in Frankreich in der Zeit des Krieges nie antisemitische Maßnahmen befürwortet.
Die offiziellen Behörden unterstützten GREIFELD; er blieb im Amt sowohl in Grenoble wie auch in Karlsruhe.
 
Angesichts dessen bildete sich ein „Komitee zur Greifeld-Affäre“ und veröffentlichte ein Begehren. Mehr als vierhundert französische und ausländische Physiker verlangten mit ihrer Unterschrift, dass GREIFELD das Laue-Langevin-Institut verlässt. Nun sah sich der Bundesforschungsminister gezwungen, sein Schweigen zu brechen. Der gleiche Dr. HAUFF, der uns (wie zuvor beschrieben) empfangen hatte, erklärte der Presse gegenüber, dass sein Ministerium den Fall GREIFELD „sehr gewissenhaft“ untersuchen werde. Die „Frankfurter Allgemeine“ veröffentlichte einen Artikel, in dem der Journalist sich die Frage stellte, wieso HAUFF all diese Zeit benötigt hatte, um den antisemitischen Charakter von GREIFELD zu begreifen. Zu diesem Thema war ihm ja doch schon zu Beginn des Jahres 1973 berichtet worden, als er in die Regierung eintrat!
 
In welchem Maße hatte GREIFELD Unterstützung aus Bonn genossen? Wer waren seine wahren Freunde im Beamtenapparat des Ministeriums? Der Autor hatte ein Schreiben an Staatssekretär HAUFF gerichtet, in dem er diesen um ein Gespräch ersuchte, um ihm seine Klagegründe gegen GREIFELD anhand von Dokumenten darzulegen. HAUFF antwortete umgehend, wobei er die Angelegenheit einem Beamten¬ des Ministeriums – Dr. BISCHOFF – übertrug. Er riet, mit diesem in Kontakt zu treten, was auch so geschah. In einem Telefongespräch legte Dr. BISCHOFF seine Absicht dar, sich nach Paris zu begeben, um die Authentizität dieser Dokumente, die die antisemitische Haltung GREIFELDs in der Kriegszeit belegten, zu prüfen. BISCHOFF fuhr aber nicht nach Paris, denn der Autor hatte ihm geraten, Kontakt mit Generalstaatsanwalt Dr. GEHRLING aufzunehmen, der ihm die Erklärungen des Autors bestätigte. Dies geschah am 5. Dezember 1975.
 
Epilog: Anstatt sich nach Paris zu begeben, sandte BISCHOFF dem Autor aus Bonn ein Schreiben, in dem er diesen informierte, dass ihm Dr. GREIFELD am Tag nach dem Telefongespräch seinen Rücktritt vom Amt im Lenkungsausschuss des Laue-Langevin-Instituts in Grenoble angeboten hatte. (PK)
 
 
Das Original der Dissertation von Leon Grünbaum liegt dem Autor vor. Von ihm wurden die Anmerkungen in eckigen Klammern eingefügt. Die Übersetzung aus dem Französischen besorgte Rolf Junghanns. 
Der Beitrag des Autors gehört zum Artikel „Zerbrecht die Plutonium-Tritium-Diktatur!“ für die Zeitschrift „Marxistische Blätter“ Heft 3 Nr. 11, der online in zwei Teilen in der „Neuen Rheinischen Zeitung“ am 4. Mai 2011 www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=16473 und am18. Mai 2011 www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=16511 erschien.


Online-Flyer Nr. 303  vom 25.05.2011

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