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Aktueller Online-Flyer vom 24. April 2024  

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Globales
Zur Auslieferung eines linken Journalisten von Venezuela nach Kolumbien
Great Game in der Karibik
Von Ingo Niebel

Der Journalist des kolumbianischen Nachrichtenportals ANNCOL, Joaquín Pérez Becerra, ist am 23. April bei seiner Einreise mit einem Linienflug aus Frankfurt in Caracas festgenommen und wenige Tage später - auf Wunsch des kolumbianischen Präsidenten - von Venezuelas Regierung nach Kolumbien ausgeliefert worden. Während venezolanische Basisgruppen und die Kommunistische Partei (PCV) das in einer Pressekonferenz als politisch unakzeptabel kritisierten, erklärte Präsident Hugo Chávez, die Festnahme stehe im Zusammenhang mit der Verpflichtung zum "Kampf gegen Terrorismus, Kriminalität und organisiertes Verbrechen“. Präsident hatte gegenüber der Presse erklärt, er habe Chávez persönlich um die Verhaftung Becerras gebeten. Dieser sei "der Rädelsführer der internationalen Front der FARC". (1)
 

Joaquín Pérez Becerra
Die Verhaftung und Abschiebung des schwedischen Journalisten kolumbianischer Herkunft, Joaquín Pérez Becerra, hat in der Linken weltweit unterschiedliche Reaktionen ausgelöst und dazu geführt, dass sich viele mehr oder weniger gewollt positioniert haben. Im Verlauf dieses Prozesses wurde deutlich, dass sich der Fall Becerra auf verschiedenen    
                                                                         Ebenen diskutieren lässt.
 
Da ist zum einen die persönliche: Ein Familienangehöriger oder jemand, der mehr als nur Kollege oder Genosse ist, wird verhaftet und an einen Staat ausgeliefert, der die Menschenrechte missachtet. Wie schnell da die Emotionen hoch gehen können, erlebte ich, als die spanische Polizei 2003 meinen baskischen Freund und Kollegen Xabier Oleaga zusammen mit weiteren Journalisten festnahm und folterte sowie die Zeitung Egunkaria schloss. Das richtige Mittelmass in einer solchen Situation zu finden, ist nicht einfach. Daher konnte ich so manche Reaktion auf Becerras Verhaftung am 23. April nur zu gut nachvollziehen. Aber ich befürchtete auch Überreaktionen, weil die Emotionen schlechte Ratgeber sind, just in einem Moment, in dem der Feind sie bewusst schürt. In solchen Fällen, das hat mich die Erfahrung gelehrt, hilft nur eins: "Einen kühlen Kopf und warme Füsse bewahren". Aber ich weiß auch, dass das meine Schlussfolgerung ist, die ich nicht als Maßstab verwende, um andere daran zu messen.
 
Zurück zum Fall Becerra
 
Dann existiert noch die berufliche Ebene, wo man sich mit einem Kollegen solidarisiert, der durch seine Berichterstattung eben jenem Staat die Maske vorgeblicher Demokratie abgerissen hat und so dessen reaktionäres Antlitz als Yankee-Vasall in der Region zum Vorschein brachte. Und schließlich gibt es da noch die Ebene der Lateinamerika-Solidarität, wo Becerra durch seine Tätigkeit ein bekannter Mann war. Auf diesen drei Levels wurde seit dem 23. April, dem Tag seiner Verhaftung, der Fall diskutiert.
 
Quasi ausgeblendet blieben dabei die geopolitischen und geheimdienstlichen Hintergründe, mit denen Becerras Schicksal eng verwoben ist. Dass der Journalist und Aktivist unfreiwilliger Teil einer größeren Operation sein könnte, die sich gegen das bolivarianische Venezuela und seinen höchsten Repräsentanten, Präsident Hugo Chávez, richtete, blieb vielfach unberücksichtigt. Stattdessen gingen bestimmte Personen und Organisationen so weit, den Comandante und seine Minister des "Verrats" zu beschuldigen. Das gipfelte letztlich in einer Puppenverbrennung.
 
Die folgende Analyse will den Blick auf jene Seite der Medaille Becerra werfen, die - aus welchen Gründen auch immer - weitgehend unbeachtet blieb. Sie ergänzt mit Fakten aus der Geopolitik und Informationen über den geheimdienstlichen Hintergrund des Falls meine persönliche Stellungnahme, die ich in diesem Zusammenhang an anderer Sache abgegeben habe. Die Analyse geht einher mit einem Gedanken, den der kolumbianische Journalist Miguel Suárez im Gespräch mit dem Onlineportal amerika21.de geäußert hat: Bei aller Enttäuschung und nachvollziehbarer Kritik an der Regierung in Caracas, lehnt er "undifferenzierte Angriffe" ab. Die Konsequenz müsste sein, "die Linke in Venezuela weiter zu stärken, 'weil Chávez offenbar von rechts unter Druck gesetzt wird'".
 

Hugo Chávez
Quelle: amerika21
Ideal wäre es, wenn sich ein Zustand herstellen ließe, der es ermöglicht, mit Becerra und Chávez solidarisch zu sein, ohne sich mit dem einen oder anderen zu entsolidarisieren. Das ist mein Anliegen. Ob es gelingen wird, weiß ich nicht, aber einen Versuch ist es wert. Denn die jetzige Situation kann weder dem Wunsch des Journalisten noch dem des Comandante entsprechen, sondern ist meines Erachtens das Ergebnis einer feindlichen Operation. Deren Ziel liegt darin, das Terrain zu bereiten, um Chávez 2012 die Wiederwahl zumindest zu erschweren und auf jeden Fall die bolivarianische Revolution zu schwächen und zu isolieren.
 

Geopolitik und bolivarianische Außenpolitik
 
In zwölf Jahren an der Spitze des Staates ist es dem Comandante der Bolivarianischen Revolution gelungen, Venezuela aus der politischen und ökonomischen Abhängigkeit der USA herauszuführen. Dem nicht genug: Sein Beispiel machte Schule in Nicaragua, Bolivien, Ecuador und Honduras. Gleichzeitig gelang es Chávez, das bis dato politisch im offiziellen lateinamerikanischen Kontext isolierte Kuba wieder in das Konzert der lateinamerikanischen Staaten zurückzuführen. Hieraus entstanden das Staatenbündnis ALBA und die Vereinigung südamerikanischer Staaten, die UNASUR. Beide bilden zusammen mit weiteren internationalen Zusammenschlüssen und Projekten unterschiedlicher Natur den außenpolitischen Schutzwall, mit dem Chávez seine bolivarianische Revolution vor den Angriffen des Imperiums im Norden schützen will und muss.
 
Die Geopolitik wird in Washington vielfach als ein "Great Game", als ein globales Schachspiel gesehen, bei dem die USA versuchen, Räume zu besetzen, gegnerische Figuren vom Brett zu nehmen und Regierungen, die sie als feindlich einstufen, ins Schachmatt zu setzen.
 
Dass die USA seit Chávez' Amtsübernahme 1999 nichts unterlassen haben, um ihn, seinen Transformationsprozess und all das, was er repräsentiert - die zweite Unabhängigkeit Lateinamerikas und der Karibik vom kapitalistischen Norden - zu stürzen, belegen ihre Unterstützung des Putsches von 2002, etliche Destabilisierungsmaßnahmen in Venezuela und nicht zuletzt die Verlagerung wichtiger Militärbasen ins benachbarte Kolumbien.
 
Kolumbien: Washingtons "südamerikanisches Israel"
 
Als Becerra am 23. April 2011 in Frankfurt den Flieger nach Caracas besteigt, sieht die außenpolitische Lage für Chávez so aus: Mit seinem kolumbianischen Amtskollegen Juan Manuel Santos steht er im Dialog, um die Kriegsgefahr, die unter dessen Vorgänger Álvaro Uribe beide Länder mehrmals an den Rand eines bewaffneten Konflikts gebracht hatte, zu mindern. Dass der Pazifikstaat in der US-Geopolitik die Rolle eines "südamerikanischen Israels" spielt, entspricht nicht nur Washingtoner Wünschen, sondern ist auch erklärtes Ziel von Santos. Dieser Umstand bedingt, dass Bogotá - sei es als Aggressor oder als Attackierter - mit der militärischen Hilfe der USA rechnen kann. Anders ausgedrückt: Wenn Kolumbien in den Krieg zieht, dann ziehen die Vereinigten Staaten mit.
 

Juan Manuel Santos
Quelle: kk-f.net
Teil dieser Allianz ist seit längerem schon Israel, das in Kolumbien einen strategischen Partner sieht, um die Expansion des Erzfeindes Iran vor allem in den ALBA-Staaten zu konterkarie- ren. Zu diesem Zweck kooperieren die Israelis mit den Kolumbianern im Sicherheitsbereich, wie die Ausbildung von Paramilitärs und die Beteiligung an Aktionen gegen die FARC belegen.
 
Als gedienter Militär weiß Chávez, was es bedeutet, wenn er sich auf einen bewaffneten Konflikt mit diesen drei Militärmächten einließe. Dass er angesichts dieser Gefahr keinen Rüstungswettlauf begonnen hat, sondern mit seiner Variante der Politik "Wandel durch Annäherung" gekontert hat, ist ein legitimes Mittel, um die Lage zu entspannen.
 
Neben mittelfristigen Überlegungen verlangt aber auch eine kurzfristige Notwendigkeit, Spannungen abzubauen: Am 11. Mai 2011 übernahm Kolumbien die Präsidentschaft in der UNASUR, die sie sich mit Venezuela teilt. Nach einem Jahr wird die Bolivarianische Republik die Organisation leiten. In Washington wäre die Freude groß, wenn Bogotá und Caracas derart im Clinch lägen, dass UNASUR nicht mehr arbeiten kann.
 
Da auch in Lateinamerika Gesten die Politik charakterisieren, lieferte Venezuela festgenommene Guerilleros aus und Bogotá überstellte im Gegenzug einen Drogenboss. Zum anderen setzen sich beide Staatsoberhäupter, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven, für eine Rückkehr von Honduras in die Staatengemeinschaft ein. Santos vertritt den amtierenden Präsidenten Profirio Lobo - Chávez den weggeputschten Manuel Zelaya. Auch der honduranische Widerstandsrat ist mit den Vermittlungsbemühungen des Venezolaners einverstanden. Eine Verhandlungslösung eröffnet zumindest theoretisch die Möglichkeit, dass das zentralamerikanische Land auf friedlichem Wege die verfassungsmäßige Ordnung wieder herstellen kann, die der Putsch 2009 zerstört hat.
 
Während Chávez die Öffentlichkeit von seinen Schritten am 19. April unterrichtete, relativierte Santos am selben Tag alle vorherigen Gesten mit der Bemerkung, die FARC sei ja doch in Venezuela präsent.
 
Dessen ungeachtet kündigte Chávez auch an, dass er weiterhin global aktiv sein werde: So will er zusammen mit Kuba und Nicaragua den Friedensplan für Libyen wieder aufnehmen. "Einen entsprechenden Vorstoß hatte der Staatschef bereits Ende Februar gemacht. Die Idee war in Südamerika und bei afrikanischen Staaten auf Resonanz gestoßen, wurde jedoch von dem westlichen Militärbündnis im UNO-Sicherheitsrat blockiert", meldete amerika21.de. Der NATO-Krieg dauerte da schon über einen Monat, ohne dass ein Ende absehbar ist. Während die Koalition der Kriegswilligen weiter mordet, Deutschland nicht genau weiß, wie es am besten seine Interessen am libyschen Gas und Öl vor der imperialistischen Konkurrenz schützen soll, wollen die ALBA-Staaten als einzige eine friedliche Lösung finden.
 
Dass die Kriegstreiber in Washington gemeinsam mit den ihnen verbündeten Falken in Tel Aviv und Bogotá etwas gegen Chávez' außenpolitischen Kurs unternehmen mussten, war eine Frage des Wann und nicht des Ob.
 
"Zuerst Caracas, dann Havanna"
 
Zur Königsklasse der Geheimdienstarbeit gehört es, eine Operation zu konzipieren, die zwei Skorpione dazu bringt, sich wider ihrer Natur gegenseitig umzubringen. In diese Kategorie fällt die noch namenlose Operation, die den Fall Becerra gebar. Sie gehört zu einem Masterplan, den ich nach der Analyse verschiedener politikwissenschaftlicher Studien unter der Parole "Zuerst Caracas, dann Havanna" zusammengefasst habe.
 
Demnach wissen die Feinde der kubanischen Revolution, dass sie das seit über 50 Jahre erfolgreich verteidigte politische und gesellschaftliche System auf der Insel nicht offen angreifen und überrennen können. Deshalb haben sie Venezuela als seine Achillesferse ausgemacht und wollen Havanna durch den "Regime Change" in Caracas in eine unhaltbare Situation bringen.
 
Man braucht weder Wikileaks noch Zugriff auf die Computer der CIA, um zu wissen, dass der Weg zu diesem Ziel ebenfalls über die Präsidentschaftswahlen in Venezuela 2012 geht. Nach den zahlreichen Rückschlägen seit 1998 dürften auch die vehementesten "Regime Changer" begriffen haben, dass sie Chávez nicht frontal angreifen können, weil die Opposition nach wie vor unfähig ist, einen glaubwürdigen Kandidaten zu präsentieren. Ergo kann das Ziel nur sein, den Comandante in der schlechtesten aller möglichen Positionen gewinnen zu lassen. Neben einer entsprechenden Oppositionsarbeit muss daher seine Glaubwürdigkeit bei Teilen seiner Anhängerschaft vor allem im Inland untergraben werden. Das Ziel ist hierbei, Chávez zumindest auf einen Umfragewert von 49 bis 51 Prozent zu drücken. Das würde es ihnen erlauben, ihm Wahlfälschung zu unterstellen und sein Image als "Diktator" aufzupolieren. Er stünde damit in derselben Reihe wie Lukaschenko in Weißrussland oder Gadaffi in Libyen. Der Fall des nordafrikanischen Staatschefs zeigt erneut, wohin die imperialistische Stigmatisierung heutzutage führt. Letztere ist auch das Produkt geheimdienstlicher Vorarbeit.
 
Geheimdienste versus Caracas
 
Dass Becerras Reise nach Venezuela zumindest unter Beobachtung des kolumbianischen Geheimdienstes DAS stand, gab niemand geringeres als Präsident Santos zu, als er dem familieneigenen Blatt El Tiempo sagte: "Estábamos detrás de él hace mucho tiempo" (Wir waren schon seit langem hinter ihm her).
 
Weiter führte er aus, dass seine Behörden angeblich eine Mail der FARC-Führung abfingen, in der diese Becerra bat, rasch zu einem Treffen zu kommen. Santos benutzte diese Worte, um den Journalisten unter Terrorverdacht zu stellen. Deshalb glaube ich diese Aussage nicht. Sie belegt aber, dass der DAS wenigstens in der Lage war, die Korrespondenz, wenn sie denn existiert hat, mitzulesen. Oder Bogotá verfügte über die Möglichkeiten, Becerra mit einer gefälschte Nachricht nach Venezuela zu locken.
 
An eben dieser Geheimdienstfront wiederholt sich eine vergleichbare Situation, wie sie Chávez außenpolitisch vor der eigenen Haustür vorfindet, wenn er gen Kolumbien schaut: eine Allianz aus CIA, DAS und MOSSAD. Seit April 2010 ist aktenkundig, dass Bogotá das so genannte FARC-Umfeld in Europa - oder was es dafür hält - ausspioniert. Auf der Liste der Zielobjekte stehen sogar EU-Parlamentarier. Weitere Informationen zur Tätigkeit des DAS in der EU finden sich in dem lesenswerten Artikel "'Operación Europa': espionaje internacional del gobierno colombiano" von Hernando Calvo Ospina.
 
Nur: Der kolumbianische Geheimdienst wäre gnadenlos überlastet, wenn er diese Spionageaktivitäten aus eigener Kraft stemmen müsste. Ergo braucht er Hilfe von befreundeten Diensten. An erster Stelle rangiert hier natürlich die CIA, aber auch nach Deutschland bestehen enge Verbindungen. Diese sind so gut, dass das BKA V-Leute in Kolumbien führen darf. Dass die Wiesbadener Behörde bei Interpol die wichtigsten und meisten Plätze besetzt, rundet die Möglichkeit der effektiven Polizei- und Geheimdienstkooperation ab, zumal auch politisch zwischen Berlin und Bogotá, Merkel und Santos alles im Lot ist.
 
Im Gegenschluss bedeutet das: Der kolumbianische Präsident hätte ebenso gut im Bundeskanzleramt anrufen können, um Becerra beim Zwischenstopp in Frankfurt festnehmen zu lassen - wenn er denn gewollt hätte, seinem venezolanischen Amtskollegen einige Probleme zu ersparen.
 
Wie dem auch sei, Becerras Entscheidung, von Schweden über Deutschland nach Venezuela zu reisen, versetzte die Macher der Operation in die Lage, zwei Automatismen in Gang zu setzen, die kaum aufzuhalten wären. Offensichtlich haben die Masterminds dafür den richtigen Zeitpunkt - die Ostertage - abgewartet, wo wie überall in der christlichen Welt die Verantwortung von den obersten Entscheidungsebenen auf die "Stallwachen" übergeht. Und die Strippenzieher wussten, dass die Venezolaner wahrscheinlich nicht in der Lage wären, kurzfristig und unvorbereitet diese Automatismen zu stoppen.
 
Automatismus I: Becerra
 
Laut offizieller Darstellung präsentierten die Kolumbianer einen Interpol-Haftbefehl, mit dem sie von den Venezolanern die Festnahme und Auslieferung Becerras verlangten. Anstatt Kanzlerin Merkel um Hilfe zu bitten, rief Santos höchstpersönlich und zeitnah zur Landung der Maschine bei Chávez an. Er wird ihm nicht auf die Nase gebunden haben, dass es sich bei dem Verdächtigen um den Kopf einer bekannten linken Nachrichtenagentur handelt. Dasselbe tat sein Verteidigungsminister, der Venezuelas Innenminister Tareck El Aissami mit der Nachricht konfrontierte: "Sie haben ihn", wie der venezolanische Journalist Ernesto Villegas Poljak schreibt. Sie - dass waren kolumbianische Agenten, die sich an Bord der Lufthansa-Maschine befanden. Chávez gab grünes Licht und setzte damit einen Prozess in Gang, der zur Abschiebung von Becerra am 25. April führte.
 
Wie dieser Vorgang genau ablief, ist ebenso unbekannt, wie die Motive und Umstände, die zu Chávez' Entscheidung geführt haben. Am 30. April 2011 beschrieb der Staatschef die Situation so: "No tengo la menor duda que lo sembraron aquí para ponernos a nosotros una papa caliente. Así que si yo lo agarro, soy malo y si no lo agarro, también soy malo. Cumplí mi responsabilidad y lo capturamos” ("Ich habe nicht den geringsten Zweifel darüber, dass sie uns eine heisse Kartoffel zugespielt haben. Sodass ich, wenn ich sie auffange, schlecht bin, und wenn ich sie nicht fange, dann bin ich auch schlecht. Ich kam meiner Verantwortung nach und wir nahmen ihn fest.)
 
Tatsächlich brachte Santos' Schachzug Chávez in eine Lage, in der er ab Becerras Boarding nur noch zwischen Pest und Cholera wählen konnte. Zur Auswahl standen ganz schlechte, schlechte oder weniger schlechte Optionen. Würde er Becerra nicht nach Kolumbien abschieben, sondern nach Europa zurückschicken oder ein Auslieferungsverfahren riskieren, stünde er als "Terrorhelfer" da. Seine Kolumbien-Politik wäre ebenso Makulatur gewesen wie sein Engagement in Sachen Honduras und Libyen. Damit wäre erstens sein politischer Handlungsspielraum stark eingeschränkt gewesen und zweitens würde er sich über die Terrorflanke wieder angreifbar machen. Denn in Spanien läuft ein Ermittlungsverfahren, das seine Regierung beschuldigt, mit der FARC und der baskischen ETA zusammenzuarbeiten. Im Fall der Abschiebung an Kolumbien drohte Chávez politischer Krach im eigenen Lager und mit den Unterstützern im Ausland, die Verletzung geltenden Rechts sowie ein Imageverlust.
 
Die Entscheidung ist bekannt: “El único responsable de la deportación de Joaquín Pérez es Chávez y yo asumo mi responsabilidad" (Der einzige Verantwortliche für die Abschiebung von Joaquín Pérez ist Chávez und ich stehe zu meiner Verantwortung).
 
Individuelle Verantwortung und revolutionäre Verantwortung
 
Da Venezuela weder über einen Visumszwang verfügt noch von seinen Besuchern verlangt, dass sie sich wie USA-Reisende durchleuchten lassen müssen, konnte auch Becerra eine kurzfristig geplante Reise in die Karibik antreten. Er tat dies in eigener Verantwortung. Keine offizielle Stelle hatte ihn eingeladen. Anscheinend fühlte er sich sicher vor jeglicher Art der Strafverfolgung außerhalb von Schweden. Das wirft Fragen auf. Dass Bogotá das kolumbianische Exil und die Soli-Bewegung in Europa ausspioniert, musste ihm bekannt sein, ebenso wie der Versuch, beide Bereiche zu kriminalisieren. Außerdem dürfte er verfolgt haben, wie die spanische Justiz seit 2009 ihr Damokles-Schwert mit der Aufschrift "FARC-ETA-Chávez" über Caracas pendeln lässt. Ebenso wenig war es ein Geheimnis, wie sensibel venezolanische Stellen reagieren, wenn sie in der einen oder anderen Form mit den Auswirkungen des kolumbianischen Bürgerkriegs oder des politischen Konflikts zwischen Basken und Spaniern konfrontiert werden. Angesichts der geschilderten außenpolitischen Lage mussten die Abschiebungen, mit denen Caracas 2010 auch gegen baskische Soli-Aktivisten vorging, eigentlich Warnung genug gewesen sein, um eine Reise dorthin nicht ohne entsprechende Absicherung vorzunehmen.
 
Dabei ist meines Erachtens irrelevant, ob es einen Interpol-Haftbefehl gab und ob Becerra davon wissen konnte oder musste. Die Reise anzutreten, lag allein in der Verantwortung des Journalisten. Nicht Chávez stellte ihm die Falle, sondern Santos.
 
Während Becerra - menschlich nachvollziehbar - wüste Beschimpfungen gegen die Venezolaner, die ihn verhafteten, losgelassen hat, zeigte Chávez wieder einmal, wie sehr er sich von den übrigen Politikern weltweit unterscheidet: Anstatt Köpfe zu fordern und rollen zu lassen, übernahm er die volle Verantwortung und stellte sich vor seine Truppe.
 
Automatismus II: Die Linke
 
Da davon auszugehen ist, dass nicht nur der DAS die pro-bolivarianische Szene beobachtet und analysiert, konnten sich die Macher der Operation sicher sein, dass Becerras Verhaftung für Empörung sorgen würde. Emotionen sind bekanntlich schlechte Ratgeber, wenn es darum geht, eine Krise sachlich anzugehen. Die Dringlichkeit der Abschiebung erhöhte den Druck, der sich per Internet und über die sozialen Netzwerke noch weiter steigern liess. Becerras Lage forderte schnelle Aktionen heraus. Aber es gibt Situationen, in denen man abwarten sollte, bevor man zu schnell die falschen Schlüsse zieht und ungewollt dem Feind zuarbeitet. Da in letzter Zeit in Europa viel über eingeschleuste Undercover-Polizisten zu lesen war, die sich in ihrem Operationsgebiet auch als Agents Provocateurs betätigten, steht die Frage im Raum, an welcher Stelle sie ihren Teil dazu beigetragen haben, um das bolivarianische Lager inner- und außerhalb von Venezuela zu spalten. Ich spreche hiermit keinen Generalverdacht aus, sondern verweise lediglich auf eine übliche Praxis von Geheimdiensten, die viele Aktivisten erst dann spotartig einblenden, wenn mal wieder ein "Maulwurf" aufgeflogen ist.
 
Erwartungsgemäß führte Becerras Festnahme zu einer breiten Aktionsfront. Auf der einen Flanke standen jene, die sich aus politischer und/oder beruflicher Solidarität für seine Freiheit einsetzten. Am anderen Ende positionierten sich jene, die zwar aufgrund ihrer Vergangenheit als links gelten, aber bereits früher offen Stellung gegen Chávez, die bolivarianische Revolution und sogar Kuba bezogen haben.
 
Damit hatten die Macher der Operation Teile der Pro-bolivarianischen gegen den Comandante in Position gebracht. Hier greift dann das eingangs erwähnte Bild von den beiden Skorpionen, die sich umbringen sollen. Damit das geschieht, muss man sie mit einem Ring aus Feuer umgeben und diesen immer enger ziehen, bis die beiden Tiere sich so unnatürlich nahe gekommen sind, dass sie sich gegenseitig meucheln.
 
Dass Heinz Dieterich (2) zu denjenigen gehört, die seit dem 1. Mai kräftig dabei sind, Öl in den Feuerkreis zu gießen, wundert nicht, seitdem der Soziologie-Professor ab 2007 die bolivarianische und kubanische Revolution immer heftiger attackiert. Am Tag der Arbeit deklarierte er: "Santos y Chávez establecen la hegemonía estadounidense en América Latina" (Santos und Chávez stellen die US-Hegemonie über Lateinamerika wieder her). So spricht er dann auch von einem "Kurswechsel der staatlichen Elite". Angesichts dessen ließe sich die Sache des Volkes nur noch "durch die frühe und bewusste Intervention der organisierten Massen retten". Dieterich ließ offen, wer den Part des Retters konkret übernehmen soll.
 
In Venezuela schlüpft zurzeit die mit Chávez verbündete KP (PCV) in diese Rolle. Sie reagierte 26. April auf die Abschiebung mit dem Statement: "La confianza está fracturada" (Das Vertrauen ist zerbrochen). Das Mitglied des Polit-Büros, Pedro Eusse, stellte Chávez' Entscheidung als eine "Konzession gegenüber den imperialistischen Kräften, den reaktionären Kräften und den konterrevolutionären Kräften des Kontinents" dar. Ganz im Sinne von Dieterich verlangte das KP-Mitglied eine "Kollektive Leitung des venezolanischen Prozesses", dessen Führung die "Arbeiterklasse und das arbeitende Volk" übernehmen soll.
 
Am 28. April unterstützte die PCV eine Protestaktion vor dem Außenministerium in Caracas. Ihre Vertreter vor Ort hatten kein Problem damit, vor einem Transparent zu sprechen, das Außenminister Nicolás Maduro und Informationsminister Andrés Izarra "Hunde von Santos" und "Verräter" nannte. Am Ende der Veranstaltung verbrannten die Protestierenden eine lebensgroße Puppe mit den Fotos der beiden Kabinettsmitglieder. Das Pressebüro der PCV fertigte ein Video der Aktion an, das es auf Youtube veröffentlichte.
 
Aus der für den 30. April angekündigten Stellungnahme wurde letztlich eine juristische Analyse, die belegen soll, warum die Abschiebung von Becerra illegal war. Sie erschien erst am 2. Mai mit einer Distanzierung von den Ereignissen des 28. April. Einen Ausweg aus der Krise zeigt die PCV nicht auf.
 
Damit hat die KP Venezuelas mit dazu beigetragen, die Konfusion weiter zu vergrößern. Auch das liegt im Sinn der feindlichen Strategie. Der PCV kommt hierbei eine besondere Stellung und somit Verantwortung zu, da sie zum Beispiel nicht nur in Deutschland seit 2002 sehr viel präsenter als Sprachrohr der Bolivarianischen Revolution aufgetreten ist als andere Organisationen.
 
Und auch in Deutschland macht sich so mancher "Lateinamerikaspezialist" zum Erfüllungsgehilfen der Interessen anderer, indem er durch falsche Übersetzungen die Konfusion vergrößert. Auf der Internetseite Redglobe war am 9. Mai 2011 zu lesen, dass der Präsident des venezolanischen Parlaments, Fernando Soto Rojas, der der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) angehört, gesagt haben soll: "'Die offizielle Linie der PSUV ist es, dass wir uns mit der PCV nicht anlegen werden. Das sind wichtige strategische Verbündete, die wir mit Respekt behandeln müssen.'"
 
Im spanischen Original (sowohl auf der Seite der zitierten Zeitung als auch bei Tribuna Popular ) steht aber der Satz: "La línea oficial del PSUV es que nosotros no nos vamos a pelear con el PCV. Son aliados estratégicos importantes y tenemos que tratarnos con respeto." Folglich kann die korrekte Übersetzung nur lauten: "Die offizielle Linie der PSUV ist, dass wir uns nicht mit der PCV streiten werden. Sie sind wichtige strategische Alliierte und wir müssen uns mit Respekt behandeln".
 
Darüber hinaus kursieren jetzt eine unzählige Menge an Aufrufen, die zur Solidarität mit Becerra aufrufen. So mancher von ihnen ist mit der Forderung vergiftet, sich für die Bolivarianische Revolution und gegen Chávez zu positionieren. Diese unvollständige Aufzählung von Stellungnahmen zeigt, dass es den Feinden der Bolivarianischen Revolution gelungen ist, einen Keil in die Reihen ihrer Unterstützer zu schlagen. Dass jeder Transformationsprozess eine Phase der Klärung durchlaufen muss, liegt in der Natur der Sache, weil der Feind nicht nur auf den Putsch als Mittel der Intervention setzt, sondern auch auf die Zersetzung von innen heraus. Dieser Gefahr entgegenzuwirken, obliegt den Venezolanern.
 
Vertrauen und Glaubwürdigkeit sichern
 
Chávez' größtes Gut ist seine Glaubwürdigkeit, die über die Landesgrenzen hinaus wirkt. Santos hat diesen Charakterzug schamlos ausgenützt, als er seinen Amtskollegen an dessen Versprechen erinnerte, bei der Bekämpfung der Kriminalität zusammenzuarbeiten. Wie er damit umgeht, ist seine persönliche Angelegenheit und muss daher hier nicht weiter erörtert werden.
 
Geblieben ist eine Irritation über Venezuelas Haltung gegenüber Menschen, die sich einerseits mit der Bolivarianischen Revolution solidarisch erklären, aber andererseits auch Kämpfe wie den in Kolumbien und im Baskenland mittragen. Von der Unterstützung dieser Aktivisten und Journalisten lebt auch der Transformationsprozess in Venezuela. Ihr aller Manko ist, wie jetzt der Fall Becerra wieder gezeigt hat, dass interessierte Staaten sie nach Bedarf zu "Terrorverdächtigen" hochstilisieren können.
 
Während Venezuela seine Staatsbürger entsprechend schützt, hat es bei Ausländern in der letzten Zeit sehr reflexartig mit Abschiebung reagiert. Das ist sein gutes Recht - aber es nutzt in diesem Fall dem Feind, zumal sich ein Casus Becerra jederzeit wiederholen kann. Demnächst könnte es einen europäischen Journalisten schwedischer Herkunft treffen, den die Kolumbianer als Verbindungsmann zur FARC betrachten. Oder die Spanier nutzen meine nächste Venezuela-Reise, um mich zu instrumentalisieren, indem sie eine Verbindung zur ETA konstruieren. Oder die CIA schickt einen Provokateur los. Ihr Repertoire an "dirty tricks" lässt zahlreiche Varianten zu.
 
Was tun?
 
Wenn der venezolanische Staat sich vor Manipulationen dieser Art schützen will, ohne das Vertrauen der Unterstützer zu verlieren, wird er wohl ein wie auch immer geartetes Visaverfahren einführen müssen: In der untersten Stufe bekommt jeder Reisende eine Touristenkarte. Liegt ein internationaler Haftbefehl vor, wird nach internationalem Recht verfahren. Journalisten und Aktivisten beantragen eine Art Visum. Im Fall eines plötzlich auftauchenden Haftbefehls werden sie in das Land abgeschoben, aus dem sie eingereist sind.
 
Diese oder eine ähnliche Maßnahme könnte helfen, verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen, Sicherheit für beide Seiten zu schaffen und Glaubwürdigkeit zu sichern. Letzteres wird besonders wichtig sein, um die nächsten Angriffe abwehren zu können und das Ansehen der Bolivarianischen Revolution zu sichern. Hier bedarf es zunächst der Initiative in Venezuela. Die Revolution muss Institutionen schaffen, die zum Beispiel in Europa eigenständig ihre Politik und Werte verteidigen können. Die Erfahrung hat gezeigt, dass der diplomatische Dienst dazu nur sehr eingeschränkt einsetzbar ist, weil er aufgrund internationaler Abkommen im Gastland nur sehr begrenzt politisch tätig werden darf. Auch die Regierungspartei PSUV ist gefragt, ihre Auslandsarbeit derart zu gestalten, dass sie selbständig auftreten kann und deshalb mit einem eigenen politisches Profil wahrgenommen wird. Kuba kann hier als Beispiel dienen, weil es ihm gelungen ist, eine funktionierende Solidaritätsbewegung über Jahrzehnte und trotz aller weltpolitischen Einschnitte am Leben zu halten. Wenn Venezuela davon lernt und die nötigen, eigenen Schritte unternimmt, wird es auch in Europa möglich sein, die Solidaritätsarbeit im Sinne der Bolivarianischen Revolution zu gestalten. (PK)
 
 
(1) http://amerika21.de/nachrichten/2011/04/28631/anncol-mitarbeiter-verhaftet
http://amerika21.de/nachrichten/2011/05/29260/venezuela-perez-becerra
(2) Heinz Dieterich, ein deutscher Sozialwissenschaftler, der 1996 das Buch "Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts" geschrieben hat.
(3) http://berriak-news.de/index.php?option=com_content&view=article&id=83%3Agreat-game-in-der-karibik&catid=21%3Astellung-zur-bolivarianischen-revolution&Itemid=49&lang=de
 


Online-Flyer Nr. 303  vom 25.05.2011

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