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Globales
„Israel ist eine der rassistischsten Gesellschaften der Welt“
„Ich liebe das Land, aber ich hasse den Staat"
Von Mario Damolin

Seit Dezember 2010 scheint eine neue rassistische Debatte in Israel die Glut wieder anzublasen. 27 Rabbinergattinnen haben einen vieldiskutierten Aufruf unterzeichnet, sich nicht mehr mit Arabern zu verabreden, nicht mehr mit ihnen zu arbeiten oder gemeinsamen Zivildienst zu leisten, wird berichtet. Wohnungen sollen nicht mehr an sie vermietet werden - aus Angst vor friedlicher Koexistenz. Das war auch nach einer Umfrage aus dem Jahr 2006 nicht anders, als 68 Prozent der Israelis ein Zusammenleben mit Arabern ablehnten, 34 Prozent meinten gar, die israelische Kultur sei gegenüber der arabischen minderwertig. Ist Rassismus in Israel alltäglich? Ein aufschlussreiches Interview von Mario Damolin mit Ilan Pappe. Die Redaktion.
Mario Damolin: Es gibt in Deutschland ein Sprichwort, das ungefähr so lautet: „Am radikalsten deutsch sind die Auslandsdeutschen.“ Sie leben seit einiger Zeit nicht mehr in Ihrer Heimat Israel, sondern in England. Hat Sie das radikaler werden lassen?

Israelis sind in der Tat sehr viel patriotischer und fanatischer in ihrem Verhältnis zu Israel, wenn Sie gerade nicht in diesem Land leben. Aber das ist nicht mein Punkt.  Ich bin nicht radikaler geworden, ich habe das Land auch nicht aus eigenem Antrieb verlassen. Es ist gerade umgekehrt. Ich wurde in den Augen der israelischen Machthaber als radikal angesehen, und dann haben sie mich aus dem Land geekelt. Ich wollte in diesem Land leben und lehren, aber nicht im zionistischen Sinne – und das eben ist nicht so einfach möglich. Also: Ich bin nicht aus Israel weggegangen, sondern dem Zionismus in Israel entflohen – das ist eine ganz andere Geschichte. Um dem Zionismus in Israel zu entgehen, muss man Israel verlassen.

Sie haben aber doch noch eine starke Bindung an Israel: Sprache, Kultur, auch die Geschichte. Welchen Prozess hat Ihr Weggang in Ihnen selbst angekickt?

Es ist eigentlich nicht so wichtig, wo man sich befindet. Leonard Cohen hat in seinem Lied „Democracy“ hinsichtlich den USA folgendes gesagt: „Ich liebe das Land, aber ich hasse den Zustand, in dem es ist.“ Ich gehe bei Israel noch etwas weiter: „Ich liebe das Land, aber ich hasse den Staat.“ Was mit meinem Weggang geschehen ist war eigentlich nur die Beendigung eines Prozesses. Geändert hat sich im Prinzip nichts. Ich trat keine geographische Reise an, sondern eine moralische, ethische, ideologische. Ich lebe ja fast noch das halbe Jahr in Israel. Ich habe noch sehr starke Bindungen an die palästinensische Community in Israel – immerhin noch zwanzig Prozent der Bevölkerung in Israel, niemand zählt sie genau, und kaum ein Israeli kennt sie. Und immer noch haben die Palästinenser nicht die gleichen Rechte wie die israelische Mehrheit. Selbst Mitglieder des Parlaments nicht. Das wäre doch für Deutschland undenkbar.


Ilan Pappés auf einer Friedensveranstaltung in Stuttgart
Foto: Mario Damolin

Sie konnten in Israel nicht so leben und arbeiten wie sie wollten?

Niemand hat mich gezwungen, Israel zu verlassen, aber ich wurde von meinem Arbeitsplatz an der Universität vertrieben – meiner politischen Ansichten wegen. Natürlich hätte ich im Land bleiben können, aber meine akademische Laufbahn wäre damit beendet gewesen. Und dann kam noch etwas für mich sehr Wichtiges hinzu: Ich hatte nicht den Eindruck, dass es da eine intellektuelle oder wissenschaftliche Szene gegeben hätte, in der ich hätte über diese Sache diskutieren und beraten können. Ich wollte auf jeden Fall den Kampf um Frieden und Aussöhnung weiter führen, und ich glaubte dabei im Ausland letzen Endes sinnvoller arbeiten zu können als in Israel selbst.

Ihr Historiker-Kollege Shlomo Sand, Professor in Tel Aviv und Autor des in Israel sehr umstrittenen Buches „Die Erfindung des jüdischen Volkes“, hat in einer Vorlesung an der New Yorker Columbia-Universität behauptet, er habe dieses Buch ganz bewusst nach seiner Ernennung zum Professor geschrieben. Hätte er es vorher veröffentlicht, wäre er nie Professor geworden.

Das stimmt. Sie können im akademischen Israel kein Buch vorstellen und dabei auf Unterstützung hoffen, wenn sich dieses Buch gegen zentrale Anschauungen der zionistischen Ideologie richtet. Das ist völlig unmöglich. Ich habe wegen meiner Bücher keine Möglichkeit gehabt, einen Lehrstuhl zu erhalten – und ich habe mehr Bücher veröffentlicht als jeder andere an der Universität.

Ihr Buch „Die ethnische Säuberung Palästinas“ erscheint in Deutschland mittlerweile in der siebten Auflage. Darin greifen Sie den Gründungsmythos Israels in drastischer Weise an: als eine Geschichte von Mord, Gewalt und Lüge. Ist dieses Buch eine wissenschaftliche Arbeit oder ein politisches Pamphlet?

Es ist beides, wie alle Geschichtsbücher. Geschichte ist keine Wissenschaft, zumindest keine „exakte Wissenschaft“. Geschichte besteht aus Erzählungen über Ereignisse, die man aus Dokumenten, persönlichen Gesprächen oder anderen „Archiven“ entnimmt und zusammenstellt. Das sind die Methoden der Humanwissenschaften. Ich glaube nicht, dass es „objektive“ oder „subjektive“ Historiker gibt. Es gibt Historiker, die sich der Limitierung ihrer Wissenschaft bewusst sind, und es gibt solche, die dieser Erkenntnis gegenüber völlig ignorant sind. Mein Buch hat sicher einen starken ideologischen und moralischen Bekenntnischarakter; aber es fußt auf Fakten, auf Dokumenten; es ist „sachkundig“ – ich glaube, das ist der Begriff dafür, besser als „wissenschaftlich“. Es ist ein sachkundiges Buch, geschrieben von einem, der sehr eng mit dem Thema, das es behandelt, verbunden ist.

Welche Theoretiker haben Sie am meisten beeinflusst?

Erst einmal Karl Marx – viel eher als Erkenntnistheoretiker denn als Soziologe oder Vertreter einer Kritik der bürgerlichen Ökonomie. Viele Leute verstehen überhaupt nicht, dass der größte Beitrag von Marx seine erkenntnistheoretischen Thesen waren. Er war einer der ersten, der uns erzählte, dass hinter jedem Individuum konkrete Interessen stehen – und einige Interessen eben auf die Macht und deren Erhaltung zielen. Noam Chomsky hat mich sehr beeinflusst, weil er Marx weiterentwickelt hat – besonders hinsichtlich einer „Theorie der hegemonialen Ideologie“; wie Akademiker im Namen einer wissenschaftlichen Objektivität Theorien entwerfen, die ganz im Sinne einer herrschenden Elite sind. Michel Foucault war für mich sehr wichtig, weil er uns gelehrt hat, nicht alles für gegeben hinzunehmen. Wenn man alles als gegeben hinnimmt, ist man schnell in großen Problemen; man muss das scheinbar Gegebene dekonstruieren. Aber ich will noch einen Wissenschaftler nennen, den ich für den größten Philosophen gerade für Historiker halte: Hans-Georg Gadamer. Er war für mich die Person, der besser als jeder andere Philosoph des 20. Jahrhunderts verstand, wo die Probleme und Erfolge einer Geschichtsschreibung liegen.




Quelle: arendt-art 

In der letzten Zeit haben besonders Sie, Shlomo Sand, Tom Segev oder Moshe Zuckermann mit ihren Publikationen ein größeres Publikum gefunden. Gibt es so etwas wie eine „neue Generation“ israelischer Historiker, die die israelische Geschichtsschreibung in eine neue Richtung lenken?

So frisch und jung ist das alles nicht mehr; was man jetzt noch beobachten kann ist das Ende dieses Generationsprozesses. Es gab eine Gruppe, wir nannten sie die „Post Zionist Scholars“. Den größten Einfluss hatte diese Gruppe in den neunziger Jahren, etwa im Zusammenhang mit dem Oslo-Friedensprozess. Ich glaube, dass sich der Trend inzwischen umgekehrt hat. Sand und Zuckermann werden bald aus Altersgründen nicht mehr an der Universität lehren, und auch bin ja schon über sechzig. Und eine „neue Generation“ gibt es nicht. Ich generalisiere hier etwas, aber die jetzigen Nachwuchswissenschaftler sind in der überwiegenden Mehrzahl ziemlich unkritisch, sehr patriotisch und sehr viel ängstlicher, das wissenschaftliche Establishment und die zionistischen Inhalte der Humanwissenschaften anzugreifen. Ich habe mir einmal die letzten Jahrgänge von Doktorarbeiten über israelische Geschichte angeschaut: das ist hauptsächlich israelische Propaganda. Sicherlich wird es den ein oder anderen geben, der da nicht mitschwimmt. Aber das fällt nicht ins Gewicht, und das ist schade.

Was sowohl bei Shlomo Sand als auch in Ihrem Buch auffällt sind die Thesen, dass in die israelische Gesellschaft schon sehr früh und heute immer stärker eine Art Biologismus eingedrungen ist, der sich dann politisch als Rassismus äußert, als Rassismus gegenüber den Arabern, den Palästinensern.

Die ganze wissenschaftliche Grundierung der „Erzählung über das Land Israel“ besteht nur aus Mythen. Man hat die Geschichte eines exilierten Volkes erfunden, um dann dessen Rückkehr „in ein leeres Land“ zu zelebrieren. Und um das wirklich wissenschaftlich „fest“ zu machen, müsste man das ja eigentlich überprüfen; man müsste nachschauen, ob etwa die Rückkehrer die gleichen waren wie die Vertriebenen usw. Aber stattdessen hat man darüber einen „genetischen Beweis“ fabriziert, der auch nichts als Mythos ist.  Man erzählt die Geschichte, dass all die Juden, die aus der ganzen Welt nach Israel kommen, keine Immigranten, keine Kolonialisten sind, sondern Menschen, die dort immer schon gelebt haben. So kommen entweder theologische oder biologische Argumente, die beweisen wollen, wer ein Jude ist. Das ist doch schrecklich. Es waren doch die Nazis, die genau nachgeforscht haben, wer ein Jude sei. Und sie dann hinterher umgebracht haben. Ich will das nicht gleichsetzen: aber für mich ist es unethisch, solche Methoden zu verwenden, von wem auch immer. So wird Wissenschaft
missbraucht, um eine im Grunde rassistische Ideologie zu stützen. Und das Schlimme ist, man gibt vor, mit dieser Praxis die Folgen des historischen Rassismus gegenüber den Juden zu bekämpfen.

Was ist Ihre Erklärung für diesen Rassismus, der sich ja in konkreten Umfragen immer wieder deutlich hervorhebt? Etwa, dass weit über fünfzig Prozent aller Schüler der Oberstufen in Israel keinen arabischen Mitschüler in ihrer Klasse haben wollen. Oder die gängige Praxis, keine Wohnungen an Palästinenser zu vermieten.

Aus der Familientherapie weiß man ja, dass missbrauchte Kinder sehr oft als spätere Täter auftauchen. Was mich so irritiert, ist die Tatsache, wie schnell es gehen kann, dass aus einem Opfer ein Täter wird. Das ist nun nicht ein spezifisch israelisches Phänomen, das findet man überall auf der Welt. Das besondere am „zionistischen Rassismus“ ist die Tatsache, dass das gar nicht erkannt wird, man versteht überhaupt nicht, was das konkret ausmacht und bedeutet. Und hinzukommt das Streben, die ultimativen Opfer des 20. Jahrhunderts zu sein. So werden die Opfer des Holocaust missbraucht. Ich stimme Hajo Meyer zu, der in seinem Buch „Das Ende des Judentums“ zum Schluss sagt: Die Art und Weise, wie sich Israel heute verhält, missbraucht das Andenken an den Holocaust.

Um es deutlich zu sagen: Israel ist eine der rassistischsten Gesellschaften der Welt. Dieser Rassismus ist schon im Erziehungswesen angelegt, in den Medien, im akademischen Leben, in der Armee – man kann diesen Rassismus nicht einfach umgehen. Das ist kein Rassismus wie er in Südafrika typisch ist: mit nach Hautfarbe geteilten Toiletten oder Sitzen in Omnibussen. Aber im Apartheidstaat Südafrika gab es immerhin noch zehntausende von weißen Familien, die beispielsweise ihre Kinder einer schwarzen Nanny anvertrauten. Man stelle sich das in Israel vor: eine jüdische Familie engagiert ein palästinensisches Kindermädchen! Völlig undenkbar; vielleicht gibt es da ganz wenige Ausnahmen. Der zionistische Rassismus geht also viel tiefer als etwa der südafrikanische. Es ist nicht der klassische koloniale Rassismus, der ein Interesse hat, die „Eingeborenen“ auszubeuten. Es ist ein Rassismus, der diese Menschen einfach los haben will, der sie aussondert.

Vor allem in der Zeitung „Haaretz“ kann man immer wieder Kommentare lesen, die am Ende davon sprechen, die Probleme der jüdischen Israelis mit den Palästinensern könnten eigentlich nur noch von einem Psychiater gelöst werden.

Ich mag solche Bemerkungen nicht. Am Ende stellt der Psychiater noch fest, dass Israel unzurechnungsfähig und deshalb nicht verantwortlich ist für all das, was es tut. Nein, wir brauchen keinen Psychiater. Was wir brauchen sind moralische Autoritäten, ob das nun ein Rabbi ist, ein Priester, ein Imam, ein säkularer Guru, ja, vielleicht auch ein Politiker; auf jeden Fall eine Person, die die Juden in Israel davon überzeugen kann, dass sie moralisch und ethisch völlig falsch orientiert sind. Das scheint mir der Schlüssel für eine Lösung zu sein.

In Armenien ist der Völkermord die Basis für eine nationale Identität; in der Ukraine ist man bemüht, den „Holodomor“, den Hungertod von Millionen Menschen durch den Entzug von Lebensmitteln unter Stalin, zum Gründungsmythos einer Nation zu erheben. Eine „Opfer-Identität“ scheint fruchtbar für Staatsideologien zu sein. Ist es denn in Wirklichkeit nicht so, dass sich im Nahen Osten zwei „Opfer-Identitäten“ gegenüberstehen: Juden und Palästinenser?

Es gibt da eine Art Ungleichgewicht. In Armenien oder in der Ukraine hat die Geschichte der eigenen Opferrolle historischen Charakter gewonnen – diese Völker sind ja heute keine Opfer im früheren Sinne mehr. Bei den Palästinensern ist das anders: sie können sich den Luxus nicht leisten, eine Geschichte der eigenen Opferrolle zu entwickeln; sie sind ja heute immer noch Opfer, jeden Tag. Wenn der aktuelle Konflikt mit Israel vorbei wäre, könnten sie beginnen, an der Historisierung der eigenen Opferrolle zu arbeiten. Aber sie leben ja immer noch unter einer kolonialen jüdischen Herrschaft – das ist der Unterschied. Die Palästinenser, so wie ich das verstehe, stehen immer noch in einem erfolglosen Kampf, der vom Westen überhaupt nicht verstanden wird oder verstanden werden will: dem Kampf gegen das koloniale Joch. Und die Israelis begegnen diesem Kampf mit dem permanenten Verweis darauf, dass sie die eigentlichen Opfer seien, weil sie immer die Opfer sind: Wenn sie Gaza bombardieren, sind sie Opfer; wenn sie den Libanon bombardieren, sind sie Opfer; als sie mit den ethnischen Säuberungen in Palästina im Jahr 1948 begannen, waren sie die Opfer; wenn eine UNO-Resolution gegen ihre Politik beschlossen wird, sind sie Opfer. Es gibt also bei Palästinensern und Juden einen unterschiedlichen Zugang zur Opferrolle.

Was ich so erstaunlich bei den Palästinensern finde, ist die Tatsache, dass sie die einzige mir bekannte anti-koloniale Bewegung sind, die immer für „Normalität“ gekämpft hat. Ich kenne eine palästinensische Familie aus Tantura ganz gut; das Städtchen liegt in der von der UNO bestimmten Zone eines jüdischen Staates. Der Sohn ist ein führender Sicherheitsbeamter in Ramallah, und er sagte zu mir: „Weißt du, wir haben unter osmanischer Herrschaft gelebt, unter britischem Protektorat, warum nicht unter einer jüdischen Regierung? Ist doch kein Problem!“ Solche Auffassungen gab es noch während die ethnische Säuberung lief. Aber kurz nach Gründung des israelischen Staates 1948 kamen die Juden und befahlen den Palästinensern, ihre Häuser zu verlassen.

Aber war es nicht seltsam von Seiten der Palästinenser, inmitten größten gesellschaftlichen Aufruhrs, sichtbarer Massaker in den Jahren 1948/1949, täglicher Flüchtlingsströme einfach so „Normalität“ herbeizuwünschen?


Tatsache ist, dass die meisten Palästinenser auf dem Land lebten, in Dörfern. Sie waren nicht bewaffnet und hatten keine Vorstellung davon, wie man sich wehrt. Wenn sie sich auflehnten, wurden sie massakriert. Und sie wussten das – besonders nach dem furchtbaren Massaker in Deir Yassin 1948. Man muss sich nur einen einfachen palästinensischen Bauern vorstellen, der die Alternative hat, entweder in seinem Dorf zu sterben oder irgendwo anders zumindest die Chance auf ein Weiterleben zu bekommen, vielleicht mit der kleinen Hoffnung einer späteren „Normalisierung“ und Rückkehr – natürlich wird er seine Sachen packen, seine Familie um sich scharen und fliehen. Alles andere wäre ja wirklich ziemlich dumm und selbstmörderisch. Und er wurde ja noch von der UNO dazu ermuntert, die ihm sagte, er solle erst einmal sein Dorf verlassen, er könne später wieder zurück kommen, wenn der „Krieg“ beendet sei. Das war ja das größte Verbrechen gegenüber den Palästinensern. Und dann die UNO-Resolution für einen jüdischen Staat, der Einmarsch der jüdischen Armee, die auf alles pfeift, was da vorher versprochen war. Da war nichts mehr mit „Normalität“.

Israels politische Klasse hat immer behauptet, das Land sei die einzige Demokratie im Mittleren Osten, mit allen Errungenschaften der bürgerlichen Aufklärung wie etwa der Pressefreiheit.


In Israel ist das sehr kompliziert. Die meisten Journalisten in diesem Land haben die Zensurschere im Kopf. Ich würde mir wünschen, dass sehr viel mehr und wahrheitsgemäßer über die Situation in den besetzten Gebieten berichtet würde, über Menschenrechtsverletzungen. Aber die meisten tun das nicht, sie fühlen sich wie Soldaten, die einen gerechten Krieg führen, sie teilen die gleiche Ideologie wie die herrschende politische Klasse. Mit der Pressefreiheit ist das nicht weit her in Israel…

…es gibt Journalisten wie Gideon Levy oder die mit vielen Preisen bedachte Amira Hass, beide von der Zeitung „Haaretz“….

…und das war es dann. Da ist nicht viel mehr. Und außerdem gibt es ja in Israel noch eine Zensurbehörde.

Einem Außenstehenden mag es erscheinen, dass diese gewaltförmige Situation, wie sie in Israel, dem Gazastreifen und den besetzten Gebieten herrscht, generell nicht lösbar ist.

Verhandlungen, wie wir sie seit 1967 kennen, werden keinen wirklichen Wandel, keine Lösung hervorbringen. Die damit befassten Diplomaten und Wissenschaftler haben einfach keine Beziehung zu der Realität an der Basis der Gesellschaft, und deshalb werden Verhandlungen auch keinen Frieden bringen. Ich sehe da nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir steuern auf eine große Katastrophe zu, die kommen wird, wenn das so weitergeht, oder es gibt einen Frieden, der von „unten“, aus dem Volk inspiriert ist und von dort auch organisiert wird. Ein Frieden, der nicht von den Politikern verhandelt wird, so schwer das auch jetzt vorstellbar scheint. Es gibt erste Ansätze dazu, vor allem auf der palästinensischen Seite, jedoch leider nicht auf Seiten der Israelis. Wichtig ist Druck von außen vor allem auf Israel.

Wenn man heute eine Umfrage unter Palästinensern machen würde, in der Westbank oder im Gazastreifen, die überwiegende Mehrheit würde sich weder der Hamas noch der Fatah zurechnen. Die würden eher so argumentieren: Wir sind Palästinenser und wollen diese mörderische Situation beenden. Oder schauen sie in die Flüchtlingslager in Jordanien, im Libanon oder in Syrien – dort spüren sie eine neue Mentalität, einen neuen Geist, eine neue Energie, um aus dieser Situation heraus zu kommen. Aber man darf nicht vergessen: die Palästinenser haben es neben Israel vor allem mit den USA zu tun; die EU ist auch nicht unbedingt ein Verbündeter; und dann sind da noch diese korrupten arabischen Regimes mit ihren zum Teil undurchsichtigen Interessen.

Laufen Sie nicht in Gefahr, die Palästinenser zu idealisieren?

Ich will es noch einmal betonen: mein Eindruck ist, dass sich die Einstellung der Palästinenser – auch für mich überraschend – nach hundert Jahren Leiden nicht generell verändert hat: sie sehnen sich nach einem „normalen Leben“, da kann man jeden durchschnittlichen Palästinenser fragen, ob in Gaza oder in Düsseldorf. Die meisten wollen als gleichberechtigte Bürger in ihrem Heimatland leben, ohne Rachegedanken. Fragt man dagegen einen durchschnittlichen Israeli, so hört man: Ich will in einem Land leben, in dem es keine Araber gibt. Und genau das ist der Unterschied.

Ich möchte die Palästinenser nicht idealisieren, die haben auch noch eine ganze Menge anderer Probleme: ihr Frauenbild ist zum Teil völlig antiquiert; se haben diese problematischen Clan- und Familienstrukturen, sie haben alle Attribute einer durchschnittlichen arabisch-moslemischen, nahöstlichen Gesellschaft, mit all diesen Aspekten von Gewalt und patriarchalischer Herrschaft. Aber eines haben sie nicht: sie sind nicht involviert – wie die zionistische Bewegung – in zerstörerische Projekte, in Projekte der Vertreibung; sie haben keine Absicht, ihre Ideologie anderen gewaltsam überzustülpen. Ich wiederhole mich: die Palästinenser wollen einfach nur die „Normalität“ eines einigermaßen gesicherten Lebens. (HDH)

Ilan Pappes Eltern stammen aus Deutschland und flohen in den 1930ern vor dem Nazi-Terror aus dem Deutschen Reich. Er diente in der israelischen Armee während des Yom Kippur Krieges 1973 auf den Golanhöhen. 1978 schloss er sein Studium an der Hebräischen Universität Jerusalem ab. Seine Doktorarbeit beendete er 1984 an der University of Oxford unter Albert Hourani und Roger Owen. Von 1984 bis 2007 war er Professor für politische Wissenschaften an der Universität Haifa und lehrt nun an der Universität Exeter in England. Pappé gehört zur Gruppe der Neuen israelischen Historiker. (wikipedia)


Online-Flyer Nr. 268  vom 26.01.2011

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