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Lokales
Migration - Integration? - ZusammenLEBEN !
"Ich heiße Meryem, nicht Miriam"
Von Emma Weiß

Migration - Integration? Wenn man Politiker heute zu diesen Themen hört, dann geht es in der Regel um Ausgrenzung. Wie kann ich den Einbürgerungstest so gestalten, dass die Menschen die Lust an der deutschen Staatbürgerschaft verlieren? Oder durchfallen? - Der Menschenrechtsverein Türkei/Deutschland "Tüday" veranstaltete zusammen mit dem "Kölner Appell gegen Rassismus" im "Allerweltshaus" eine von Hülya Engin moderierte Lesung und Diskussion mit dem in Köln lebenden Schriftsteller Sakir Bilgin zur Präsentation seines neuen Buches "Ich heiße Meryem, nicht Miriam".

Im Grundgesetz steht: " Die deutsche Staatsbürgerschaft darf nicht entzogen werden." Trotzdem muss Benjamin Okanu als Staatenloser in Deutschland leben. Ihm wurde die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen, weil er bei seinem Antrag falsche Angaben zu seinen Verhältnissen gemacht hatte. Er hatte seine Arbeitslosigkeit verschleiert. Unsere neuen Bürger dürfen uns nämlich nicht auf der Tasche liegen. Als Staatenloser wird Okanu keine Arbeitserlaubnis mehr bekommen. Da seine Frau Deutsche ist, wird er aber nicht ausgewiesen. Irgendwie sinnig dieses Vorgehen. Das Leben eines Staatenlosen kann man ein Stück weit ermessen, wenn man sich vorstellt, dass man für einen Wochenendtrip nach Holland ein Visum braucht, aber nicht weiß, an welche Botschaft man sich wenden kann, da keine auf der Welt für einen zuständig ist.

Sakir Bilgin - Thema: Identitätssuche
Sakir Bilgin - Thema: Identitätssuche
Foto: Emma Weiß



Bekannt geworden ist dieser Fall nur, weil Benjamin Okanu unter Berufung auf das Grundgesetz vor das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gezogen ist. Vier von sechs Richtern haben sich gegen ihn entschieden und die Ausbürgerung als eine "Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte" bezeichnet. Klar, es kann eine deutsche Staatsangehörigkeit, die mit vorgehaltener Waffe erzwungen wurde, nicht gültig sein. Nur das haben Okanu und die 84 anderen Menschen, die zwischen 2002 und 2004 wieder ausgebürgert wurden, auch nicht getan. Da der Vorgang als Verwaltungsakt gilt, kann auch nach Jahrzehnten die Staatsangehörigkeit aberkannt werden. Das ist ein unhaltbarer Zustand. Wie sollen Menschen, denen Deutschland ein Zuhause geworden ist, Sicherheit erleben angesichts solcher Gesetze?

Auch hier wird wieder deutlich, dass Integration als ein Problem der Menschen mit Migrationshintergrund - auch wenn der bereits in die dritte Generation vererbt wurde - betrachtet wird und nicht als eine Aufgabe und Bereicherung für die gesamte Gesellschaft. Nicht die Migrantinnen und Migranten oder ihre in Deutschland geborenen Kinder und Enkel haben da ein Problem. Sie sind Teil der deutschen Gesellschaft, werden von ihr geprägt und prägen sie mit. Wir alle erleben Bereicherung und Einschränkungen durch Menschen, die Wurzeln in anderen kulturellen Zusammenhängen haben. Wie wäre es da mal mit kostenlosen Türkisch-Kursen, z.B. für Lehrerinnen und Lehrer oder Eltern in Kitas, damit eine auf Verständigung nicht auf Ausgrenzung beruhende Elternarbeit und Förderung der jungen Menschen möglich wird? Warum betonen wir zuerst das, was uns trennt und nicht die mannigfaltigen Gemeinsamkeiten, allen voran das Leben in der gemeinsamen Stadt?

Aber das ist noch Zukunftsmusik. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Deutsche, die wie Ausländer aussehen, auch wenn sie im Deutschen Bundestag sitzen, werden zusammengeschlagen. Diese blanke Gewalt ist nur die Spitze des Eisberges. Durch die politisch sanktionierte Ausgrenzung gehören Pöbeleien, verachtende Bemerkungen und Herabsetzungen von Menschen zur Tagesordnung auf unseren Straßen. Statt gegen Gewalt von Rechts massiv vorzugehen, werden geringfügige Strafen verhängt, so dass von einer Abschreckung für Nachahmer keine Rede sein kann. Die Fußball-WM steht vor der Tür. Deutschland will sich als Gastgeber der Welt präsentieren. Müssen wir fürchten, dass die Gäste bedroht sind in Deutschland und sie - wie Heye es zu recht getan hat - vor bestimmten Orten warnen? Oder werden sich die Nazis für einen Monat zusammenreißen, so wie sie es 1936 bei der Olympiade getan haben, um der Welt zu zeigen, wie weltoffen und freundlich sie auf andere Kulturen zugehen können, um nachher wieder zuzuschlagen?

Die Angst vor dem Fremden ist keine deutsche Erfindung. Wir finden sie in vielen Teilen der Welt. China versucht seit 50 Jahren, Tibets Kultur zu zerstören und das Land zu sinisieren. In Frankreich, das wir so gern als Vorbild nehmen für beispielhafte Demonstrationsfreudigkeit, brannten vor wenigen Monaten jede Nacht die Vororte, weil junge Menschen, die ihr ganzes Leben in Frankreich gelebt hatten, als "Ausländer" keinerlei beruflichen Perspektiven haben.

Genau auf diesen Konflikt, gleichzeitig Einheimische und Ausländer zu sein, macht Sakir Bilgin mit seinem neuen Buch "Ich heiße Meryem, nicht Miriam - Brief an meine deutsche Lehrerin" aufmerksam. Es handelt von einem Ehrenfelder Mädchen, das Eltern hat, deren Eltern aus der Türkei gekommen sind. Der Autor lebt, seit er 1976 als 26-jähriger Student nach Köln kam, in der Bundesrepublik. Er hat an verschiedenen Kölner Grund- und Hauptschulen als Sportlehrer gearbeitet. Bei einem Urlaubsaufenthalt in Istanbul Ende der 70er Jahre wurde er von der Militärpolizei verhaftet und mehrere Jahre interniert. Kölner Freundinnen und Freunde, darunter auch die Bläck Fööss mit einem eigens für Bilgin geschriebenen Song, haben für seine Befreiung und Rückkehr nach Köln gesorgt.

Sakir Bilgin
Foto: Sakir Bilgin


Mit seinem Buch "Jeden Tag weint die Sonne. Drei Jahre in türkischen Militärgefängnissen" begann Sakir Bilgin anschließend seine schriftstellerische Tätigkeit. Das Erlebte zwang ihn zu schreiben. Im Gespräch mit mir sagt er, dass es einen inneren Antrieb gibt, der ihn dazu bringt, immer wieder gesellschaftspolitische Themen aufzugreifen. In seinem neuen Buch wendet er sich einer Problematik aus seinem direkten Umfeld zu: Wie ergeht es jungen Menschen, die ihr ganzes Leben z.B. in Köln verbracht haben, dort selbstverständlich zuhause sind und sich trotzdem genötigt sehen, die Türkei als ihre Heimat anzugeben, um sie nicht zu verraten?

Sakir Bilgin hat auch bei diesem Buch eine starke Triebfeder. Sie stammt aus unzähligen Gesprächen mit Kölner Schülerinnen und Schülern, die mit der alltäglichen Diskriminierung durch Lehrerinnen und Lehrer, Mitschülerinnen und Mitschüler zu ihm kamen. Trotz seines Bemühens, zu helfen und zu vermitteln, blieb bei Bilgin aus diesen Gesprächen ein Gefühl der Ohnmacht und der unzureichenden Hilfe zurück. Da die Problematik der Mädchen aufgrund strengerer traditioneller Erziehung im Elternhaus stärker war und die offenen Gespräche mit ihnen mehr Einblicke gaben, hat Bilgin das Experiment gewagt, aus der Sicht einer jungen Frau zu schreiben, und es ist ihm gelungen.

Wer ist Meryem, die diesem Buch ihren Namen gibt? Sie ist eine Kölnerin mit Migrationshintergrund. Aber was heißt das schon? Wer von uns hätte keinen Migrationshintergrund? Eine Kollegin von mir kommt aus Düsseldorf und tut alles, damit die Schülerinnen und Schüler das nicht erfahren, denn an einer Kölner Schule... Genau wie Meryem, die sagt: "Ich bin in diesem Viertel aufgewachsen, ohne irgend jemandem etwas getan zu haben. Ich habe mich nach Kräften bemüht, die Deutschen nicht zu stören. Wenn es nötig war, habe ich mich deutscher verhalten als Deutsche. Wenn es verlangt wurde, habe ich verheimlicht, dass ich eine Türkin bin." (Textauszug aus: "Ich heiße Meryem, nicht Miriam")

Identitätssuche ist ein entscheidendes Thema und zieht sich durch alle Kapitel. Junge Menschen - Meryem schreibt als 18-jährige kurz vor dem Abitur an ihre alte Hauptschullehrerin, die sie ihren Rassismus spüren ließ - junge Menschen brauchen Zugehörigkeit und Menschen, an die sie sich anlehnen können, um eine gefestigte Identität auszubilden. Meryems Identitätssuche wird durch verschiedene Einflüsse immer wieder gestört. In der Türkei wäre sie eine Fremde, man bezeichnete sie als "Deutschländerin". Und in Deutschland ist sie die Türkin. Aber eine Deutsche sein, das möchte sie auch nicht, auch wenn sie sich im Verlauf des Buches entscheidet, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen.

Auf eine Frage nach der Lesung, wie die Identitätssuche enden könnte, wo sie zu einem Ziel käme, antwortet Sakir Bilgin, dass es eine vielschichtige Identität sei. Geprägt durch zwei fast parallel existierende Gesellschaften, die sich doch gegenseitig beeinflussen. Türkische Familien in Deutschland leben anders als in der Türkei. Zum Teil ist die Angst gerade um heranwachsende Töchter größer und die Einschränkungen der Mädchen sind vielseitiger als in der Türkei. Auf der anderen Seite kommen sie mit vielfältigen Einflüssen in Berührung, die ebenfalls prägen und andere Sichtweisen zulassen. Gleichzeitig entstehen typische Verhaltensweisen von Minderheiten, nämlich: nicht zuerst den Austausch zu suchen, sondern sich abzukapseln, um die eigene Identität zu bewahren.

Aber wie lebe ich eine muslimische Identität, zu der die Einteilung des Tages in fünf Gebetszeiten gehört, wenn kein Muezzin öffentlich ruft und Arbeit und Schule nicht von allen unterbrochen wird? Es findet immer Veränderung statt. Und so bleibt nach allem Für und Wider auch für Sakir Bilgin nach der Lesung als mögliche Lösung und als Wunsch an eine in Deutschland lebende Gesellschaft, im immer wieder neu gesuchten Gespräch eine gemeinsame Lösung zu finden, die die Unterschiede nicht tilgt, aber auch nicht zu trennenden Mauern führt.

Auf meine Frage, ob er auch zuhause wäre, wenn er den Kölner Dom wieder sieht, meint er schmunzelnd, eher wenn er durch bestimmte Kölner Straßen gehe, ja, dann sei er zuhause. Dann sei er also ein Kölner, sage ich. Er: Das wohl nicht ganz, denn er lebe jetzt in Pulheim.




Online-Flyer Nr. 46  vom 30.05.2006

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