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Arbeit und Soziales
EVS - die falsche Berechnungsgrundlage zur Existenzsicherung bei Hartz IV
Zurück zum Warenkorbmodell!
Von Lutz Hausstein

Als das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) am 9. Februar 2010 die Grundlagen der Festsetzung des Regelsatzes der sozialen Mindestsicherung kritisierte, machte ein Begriff die Runde, von dem bis dato die meisten Menschen noch nichts gehört hatten: EVS (Einkommens- und Verbrauchsstichprobe). Das BVerfG kritisierte in seinem Urteil zwar prinzipiell die Berechnung der Hartz-IV-Sätze, stellte jedoch gleichzeitig die aktuell praktizierte Berechnungsmethode der EVS nicht infrage und stellte es der Bundesregierung frei, darauf zurückzugreifen. Im selben Urteil verwies das BVerfG jedoch auch auf das Grundrecht zur Gewährleistung einer menschenwürdigen Existenz nach Artikel 1 Grundgesetz (GG) zur Sicherung der physischen Existenz, sowie eines  Mindestmaßes an gesellschaftlicher, kultureller und politischer Teilhabe. Dieses ist, so das BVerfG, „unverfügbar“ und „muss eingelöst werden“. Der nun vor wenigen Tagen vorgelegte Referentenentwurf zur Neuberechnung der Regelsätze durch die Bundesregierung basiert erneut auf der EVS-Methode.


Cartoon: Kostas Koufogiorgos
 
EVS als statistische Erfassung
 
Die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe wurde erstmals 1962/63 in der damaligen Bundesrepublik durchgeführt und erfolgt seit 1973 im Fünf-Jahresabstand. Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR sowie in Berlin-Ost fand die EVS erstmalig 1993 statt. Dabei handelt es sich um eine stichprobenartige Erhebung durch das Statistische Bundesamt bei etwa 0,2 Prozent aller Haushalte, also jedem fünfhundertsten. Dies betrifft in der Regel zwischen 60.000 bis 75.000 Haushalte. Ausgenommen werden hierbei jedoch Haushalte mit einem monatlichen Haushaltsnettoeinkommen von 18.000 Euro und mehr. In der EVS werden die Angaben der Haushalte zur persönlichen und sozialen Situation, Wohnverhältnissen, Vermögen, Quellen und Höhe des Einkommens wie auch Höhe und Verwendungszweck von Ausgaben aufgelistet. Dabei werden die zu untersuchenden Haushalte nach einem quotierten Plan und anhand bestimmter Merkmale eingeteilt und ausgewählt. Gemäß diesem Verfahren werden die Haushalte zuerst nach Bundesländern gruppiert. Anschließend erfolgt eine weitere Gruppierung nach den Merkmalen Haushaltstyp, soziale Stellung und Haushaltsnettoeinkommen. Anhand dieser verschiedenen Gruppierungsmerkmale werden nun die Haushalte ausgewählt, welche in die Statistik Eingang finden.
 
In einem ersten Schritt erfolgt eine Abfrage zu den einzelnen Haushaltsmitgliedern, ihrem Alter und ihrer Ausbildung, der Wohnsituation, Geld- und Sachvermögen sowie der Ausstattung der Haushalte. Anschließend sind von den Befragten für den Zeitraum von drei Monaten ihre Einnahmen als auch alle Ausgaben in ein Haushaltsbuch einzutragen. Parallel dazu führt jeder fünfte befragte Haushalt ein Feinaufzeichnungsbuch, in welchem alle Ausgaben für Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren samt ihrer Mengen für einen Monat detailliert aufzulisten sind. Die aus diesen Daten generierten Statistiken werden vom Statistischen Bundesamt nach deren Aufarbeitung in den Folgejahren veröffentlicht.
 
Das Alternativmodell
 
Seit dem 1. Juli 1990 dient ein Teil dieser EVS-Datenbasis dazu, die damalige Sozialhilfe zu berechnen sowie – seit der Einführung der Hartz-Gesetze – den Eckregelsatz für Hartz IV. Die Berechnungsmethode nach der EVS-Statistik löste das bis dahin gebräuchliche Warenkorb-Modell ab. Dabei wurde von Wissenschaftlern ein an die Teilhabe-Normen des Grundgesetzes gebundener Warenkorb gebildet, in welchem die dafür notwendigen Güter und Dienstleistungen enthalten waren. Diese Bestandteile wurden mit Preisen, welche sich im unteren Viertel des Preisspektrums bewegten, bewertet. Hauptkritikpunkt am Warenkorbmodell und Argument für den Übergang zur EVS-Methode war die Subjektivität, welche sowohl die Bestandteile als auch die Mengen des gebildeten Warenkorbs maßgeblich beeinflusste.
 
Diesen Bedenken sollte nun mit dem Rückgriff auf die Daten des Statistischen Bundesamts Abhilfe geleistet werden. Da Statistiken keinen subjektiven Interpretationsraum gestatten, sondern stattdessen auf großer Datenbasis fußende, unbestechliche Zahlen liefern sollen, sei die EVS-Methode deutlich besser zur Ermittlung des Existenzminimums und damit zur Höhe des Regelsatzes geeignet, so die Verfechter der neuen Methode. Diese Auffassung wird jedoch schon dann brüchig, wenn einerseits normative Setzungen bei der Warenkorbmethodik vehement kritisiert, gleichzeitig aber bei der EVS-Statistik normative Kürzungen einzelner Positionen vorgenommen werden. Dabei wird die Kernfrage der Problematik pro oder contra EVS noch nicht einmal berührt. Ist die EVS überhaupt methodisch geeignet, ein Existenzminimum zu ermitteln?
 
EVS liefert IST-Daten
 
Die EVS liefert unter anderem, wie oben ausgeführt, eine statistische Auswertung des Ausgabeverhaltens einzelner Bevölkerungs- und Einkommensgruppen. Sie stellt somit eine IST-Analyse dar. Ein Wert für ein Existenzminimum, eine soziale Mindestsicherung, hingegen muss sich als SOLL-Größe definieren, da er den monetären Wert widerspiegeln muss, der zur Wahrnehmung aller grundgesetzlichen und sozialrechtlichen Teilhaberechte als Mindestwert erreicht werden muss. Schon die abstrakte Darstellung offenbart, wie absurd es ist, aus einer IST-Größe einen SOLL-Wert abzuleiten. Dabei ist es völlig unerheblich, wie groß die Datenbasis der statistischen Erhebung ist, wenn allein schon die Art der Berechnung methodisch nicht in der Lage ist, die Frage nach der Höhe eines Existenzminimums zu beantworten.
 
Die Kernfrage besteht darin, ob aus den Einkommen (und sich daraus zwingend ableitender Ausgaben) eines Teils der Bevölkerung die Höhe eines Existenzminimums, welches generelle Gültigkeit haben muss, ermittelbar ist. Das muss prinzipiell verneint werden; denn ein Existenzminimum muss die Inanspruchnahme bestimmter Produkte und Leistungen finanziell ermöglichen, die dem abstrakten Begriff “Existenzminimum“ entsprechen. Hilfestellung hierzu bilden die grundgesetzlichen und sozialrechtlichen Verpflichtungen.
 
Geringe Einkommen begründen geringe Sozialleistungen
 
Wie wenig eine EVS-Statistik zur Bestimmung des Existenzminimums brauchbar ist, zeigt sich im Folgenden: In den letzten Jahren ist die Konzentration der Einkommen (und von Vermögen) in beiden Extremen signifikant gestiegen. Einerseits erhöhte sich die Zahl der Empfänger extrem hoher Einkommen, andrerseits ist aber auch die Zahl der Empfänger von extrem niedrigen Einkommen massiv angestiegen, was für diese auch weniger Ausgaben zur Folge hat. Von einem gesunkenen Existenzminimum zu reden, weil dieser Personenkreis nun weniger ausgibt, ist selbstverständlich absurd. Sprechen doch die vor allem überdurchschnittlich gestiegenen Preise für Produkte und Leistungen des täglichen Bedarfs eine genau entgegengesetzte Sprache.
 
Dies lässt sich auch eindrucksvoll an praktischen Beispielen nachweisen: Im Referentenentwurf zur Neufestsetzung des Hartz-IV-Regelsatzes findet sich ein monatlicher Betrag von 2,28 Euro für die Nutzung von Internetdienstleistungen wieder. Aufgrund dessen meinte Arbeitsministerin von der Leyen verkünden zu müssen, dass von nun an Regelsatzempfänger in die Lage versetzt wären, das Internet in Anspruch zu nehmen. Dass dieser Betrag tatsächlich finanziell keinen einzigen Hilfeempfänger dazu befähigt, zu den real herrschenden Preisen einen Internetzugang zu nutzen, muss nicht näher erläutert werden. Wie diese absurde Zahl aufgrund der Statistik der EVS zustande kommt, kann nur spekuliert werden. Da bekannt ist, dass ein größerer Anteil der in diese EVS-Statistik einfließenden Haushalte aus Rentnern besteht, die erfahrungsgemäß nur in Ausnahmefällen internetaffin sind, bewirkt dieser Umstand eine drastische Reduzierung des statistischen Durchschnittwerts der Ausgaben für die Internetnutzung. Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass auch jüngere Haushalte, trotz Interesse am Internet, aufgrund ihres niedrigen monatlichen Einkommens zwangsweise darauf verzichten müssen. Diese Gemengelage führt dazu, dass der daraus gebildete statistische Durchschnittswert so niedrig ist, dass kein einziger der Betroffenen das Internet nutzen kann.
 
Warenkorb – die geeignete Alternative
 
Zusammenfassend kann man feststellen, dass die EVS-Statistik schon aufgrund ihrer Methodik prinzipiell nicht dazu in der Lage ist, ein Existenzminimum zu ermitteln. Umso befremdlicher ist es, wenn öffentlich von der Arbeitsministerin sowie weiteren verantwortlichen Politikern behauptet wird, dass der so ermittelte Wert die Höhe des Existenzminimums sei. Gleichzeitig muss man kritisieren, dass das BVerfG in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 diese Methode überhaupt als prinzipiell zulässig betrachtet hat. Eine Rückkehr zum zuvor gebräuchlichen Warenkorbmodell scheint, trotz des auch ihm anhaftenden subjektiven Faktors, dringend notwendig. Erlaubt dessen transparente Darstellung der einzelnen Positionen doch wenigstens eine Überprüfung auf den Realitätsbezug. Somit wäre zuverlässiger gewährleistet, was das BVerfG mit Blick auf das Grundgesetz als zwingend vorausgesetzt hat: die physische Existenzsicherung sowie eine angemessene soziale, kulturelle und politische Teilhabe an der Gesellschaft – und das für Alle. (PK)
 
Lutz Hausstein, war von 2007–2008 Landessprecher des Arbeitskreises „Soziale Gerechtigkeit“ in Sachsen. Gemeinsam mit F. Krahmer verfasste er im September 2008 die „Beachtung einer „Studie““ [http://www.axel-troost.de/article/2794.sind_132_euro_fuer_hartz_iv_empfaenger_ausreichend.html], in welcher sie sich kritisch mit der 132-Euro-Studie von Thießen/Fischer der TU Chemnitz auseinandersetzten. Siehe auch http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=14786


Online-Flyer Nr. 273  vom 27.10.2010

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