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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Inland
Der Schwabenaufstand gegen das Milliardenprojekt Stuttgart 21
Oben bleiben in Stuttgart - Solidarität aus Köln
Von Gudrun Bischoff und Kostas Koufogiorgos

Am vergangenen Samstag, dem 18. September, hat es uns wieder in den Schlossgarten am Hauptbahnhof getrieben. Es ist schon so etwas wie ein fixer Termin in der Wochenendplanung geworden: Jeden Freitag oder Samstag geht es zur Großveranstaltung, zur Demonstration gegen das monströse Bahnprojekt Stuttgart 21.



Samstag, den 18. September – 50.000 Kundgebungsteilnehmer gegen Stuttgart 21

Ausgestattet mit den in Stuttgart spätestens jetzt allgegenwärtigen "Oben bleiben - Gegen Stuttgart 21"-Buttons, mit Plakaten und Trillerpfeifen mischen wir uns unter die Menschenmenge. Es sind zehntausende, die ihre Enttäuschung und ihre Wut zum Ausdruck bringen, und tatsächlich, von Woche zu Woche werden es mehr. Es sind längst nicht nur Stuttgarter, die auf die Straße gehen, sie kommen aus dem ganzen Land - und schließlich sind auch wir "Reigschmeckte", so wie man die Zugezogenen im Ländle gern nennt. Aber auch wir wollen ein vernünftiges Modernisierungskonzept für den vorhandenen, denkmalgeschützten Bahnhof statt unter die Erde verbannt zu werden. Wir wollen keine Kürzungen im Kultur- und Bildungsbereich hinnehmen, um damit ein Prestigeprojekt der Politiker zu bezahlen. Wir wollen den Schlossgarten mit den jahrhundertealten Bäumen erhalten statt ein neues, seelenloses Stadtviertel vorgesetzt zu bekommen und vor allem: Wir möchten als Bürger der Stadt ernst genommen werden.

 
Der Aufkleber, hunderttausendfach in Stuttgart zu finden
 
Bis vor wenigen Monaten haben auch wir das Planungsgeschehen um Stuttgart 21 zwar kritisch, aber eher passiv beäugt. Doch spätestens seit nahezu täglich neue Details der katastrophalen Planung ans Licht kommen, es klar ist, dass immer höhere Kosten auf uns zu kommen und es sogar ernsthafte Sicherheitsbedenken gibt, ist es auch um unsere Fassung geschehen. Ein neues Gutachten schätzt die Kosten konservativ auf rund 10 Mrd. Euro, wenn nichts schiefgeht, wohlgemerkt. Und schiefgehen kann viel: Geologen fürchten um die reichen Mineralwasservorkommen Stuttgarts, es gibt Vermutungen, daß der gipshaltige Untergrund aufquellen könnte und Risse in den Häusern entstehen könnten oder diese sich senken. Der Ausbau des Güter- und Regionalverkehr wird in der Planung nicht berücksichtigt. All diese Details scheinen in den Augen der Planer nebensächlich zu sein, frei nach dem Motto: Augen zu und durch.


 
Unterirdische Umfragewerte für die CDU in Baden Württemberg
 
Sowieso komme der Protest der Bürger viel zu spät, halten uns die Macher von Stuttgart 21 gebetsmühlenartig vor. Schließlich gäbe es die Pläne ja schon seit 15 Jahren und man hätte sich informieren können. Dieses Argument ist spätestens jetzt hinfällig, da die Fakten von Stuttgart 21 ganz offensichtlich nur scheibchenweise ans Licht kamen.
 
Angesichts der massiver werdenden Proteste bemühte man sich, Tatsachen zu schaffen. Obwohl es nicht dem Zeitplan entspricht, rückte vor rund drei Wochen der Abrissbagger an und begann, den Nordflügel des Bonatz-Baus zu zerstören. Eine Provokation im doppelten Sinne, war doch immer davon die Rede, die wertvollen Muschelkalksteine Stück für Stück behutsam abzutragen.


Am Rande des Schlossgartens – im Hintergrund der noch intakte Teil des Bahnhofs

Das hat wohl das Faß zum Überlaufen gebracht. Anstatt wie von den Bauherren wohl geplant, resignierten die Bürger nicht angesichts der Bahnhofsruine. Der Zorn wird im Gegenteil mit jedem Tag größer. So groß, dass er nun auch über Stuttgarts und Baden-Württembergs Grenzen hinaus bis nach Berlin schwappt und sich selbst die Kanzlerin genötigt fühlte, im Rahmen der Haushaltsdebatte in der vergangenen Woche Stellung zu Stuttgart 21 zu nehmen. Einen Volksentscheid lehnt sie freilich ab, schließlich habe das Projekt ja alle demokratischen Hürden genommen. Sie erklärt die Landtagswahl im kommenden März kurzerhand zum Volksentscheid. Bis dahin werden aber weite Teile des Bahnhofs und hunderte Bäume dem Erdboden gleichgemacht sein. Das Volk darf dann wohl noch für oder gegen einen Wiederaufbau stimmen.
 
Das Motto der Protestbewegung auf zehntausenden von Ballons
 
Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster sagte noch am vergangenen Donnerstag in einer Schwerpunktsendung des SWR zum Thema Stuttgart 21, man solle die Proteste doch nicht überbewerten. War er wohl noch nie ein besonders bürgernahes Stadtoberhaupt, so hat er spätestens jetzt das Gefühl für die Stimmung in seiner Stadt verloren. Als er vor vierzehn Tagen das Stuttgarter Weinfest eröffnete, und zahlreiche Demonstranten seine Rede störten, brachte er nur hilflos hervor: "Well, Democracy is sometimes difficult". Dieses Zitat schmückt nun den Bauzaun vor der Nordflügelruine.
 
Der Riese Stuttgart 21 erschrickt vor dem anhaltenden Protest der kleinen K21-Bewegung
 
Diese Hilflosigkeit teilt Schuster mit Ministerpräsident Mappus und Bahnchef Grube. Da reicht es von einem trotzigen "Das wird jetzt gebaut" über "Die Stuttgarter erhalten ein Geschenk und wissen es gar nicht zu würdigen" bis zu "Eine Volksentscheidung würde den Rechtsstaat beschädigen". Einer immerhin hat sich am vergangenen Freitag von dem sinkenden Schiff verabschiedet: Stuttgart 21-Sprecher Wolfgang Drexler, SPD, mußte sich zwischen dem Projekt und seiner Partei entscheiden, da letztere ihm keine Rückendeckung mehr geben konnte.
 
Während man den Eindruck gewinnt, dass die Projektplaner unsicher werden und immer mehr herumlavieren, wittert das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 Morgenluft, zumindest gefühlt. Auch nach dem Rücktritt Drexlers herrscht eine Stimmung, die vermittelt: Man kann den Wahnsinn doch noch stoppen und den bereits zerstörten Nordflügel notfalls wieder aufbauen.



Stuttgart 21-Sprecher Drexler von der SPD tritt zurück

Wenn der Anlaß nicht so traurig wäre, könnte man von einer Volksfeststimmung sprechen, die die ganze Stadt erfaßt hat. Die Leute mit den grünen K(opfbahnhof) 21-Buttons und Tragetaschen lächeln sich verschwörerisch auf der Straße und in der Straßenbahn zu, Autofahrer schwenken K21-Fähnchen und hupen, wenn Sie am Hauptbahnhof vorbeifahren. Es ist dieses Durchdringen des Protests in wirklich alle Schichten, das die Politiker so verunsichert. Es sind eben nicht die obligatorischen "linken Spinner" oder ein "schwarzer Block", keine "versprengten Chaoten", die für Unruhe sorgen. Es sind Denkmalschützer, Architekten, Ärzte, die am Abend ihr Büro und ihre Praxis früher schließen, um pünktlich zur Demonstration zu kommen. Es sind Kinder mit ihren Eltern, es sind Rentner, die am Sitzblockadetraining teilnehmen, kurzum, es sind wirklich alle und immer mehr Bürger, die verlangen, ernst genommen und gehört zu werden.
 
Die Demonstrationen selbst erleben wir als ausgesprochen friedliche Veranstaltungen. Selbst einige Polizisten outeten sich schon zeitweilig mit diskreten "Oben bleiben!"-Buttons, die wurden freilich bald darauf von ihren Vorgesetzten ermahnt, neutral zu bleiben. Ein anderer Gesetzeshüter, der die undankbare Aufgabe hatte, den Abrißbagger zu schützen und dem dabei ein "Schäm' Dich" eines aufgebrachten Stuttgart 21 - Gegners entgegen schlug, konnte nur entgegnen: "Ja, ich schäme mich."

 
Die Absperrung vor der Nordflügelruine
 
Die Presse hätte anscheinend lieber etwas dramatischere Bilder, läßt sich damit doch sicher mehr Auflage machen. Doch wir waren Teil der absolut friedlichen Menschenkette, die wir um den Stuttgarter Landtag gebildet haben. Die Polizei war natürlich präsent, die Bannmeile wurde jedoch praktisch nicht verteidigt bzw. auf etwa zwei Meter reduziert. Doch am nächsten Morgen springt uns beim Aufschlagen der Zeitung ein Foto an, dass einen berittenen Polizisten bei einer augenscheinlich dramatischen Auseinandersetzung mit einigen Demonstranten zeigt. Genau neben diesem Pferd hatten wir am Abend zuvor stundenlang gestanden. Während der ganzen langen Demonstration gab es also vielleicht ein bis zwei Minuten, in denen dieses Bild zustande kam, doch es wurde natürlich für die Titelseite ausgewählt. In sehr kleinen Lettern konnte man dann lesen, dass es eine friedliche Veranstaltung war. Den Stuttgart 21-Machern wäre es sicher lieber, auf einen Haufen Chaoten schimpfen zu können. Den Gefallen werden wir Ihnen freilich nicht tun.

 
Alle Baumhäuser werden geräumt, damit hunderte Bäume gefällt werden können

Gespannt schauen wir nun auf die weiteren Entwicklungen. Für Drexler muß ein Nachfolger gefunden werden, und Bahnchef Grube läßt verlauten, dass er sich nun doch noch einmal um einen runden Tisch bemühen will. Die CDU läßt immerhin die juristische Möglichkeit eines Volksentscheids prüfen. Die SPD wirbt bereits öffentlich dafür, obwohl sie offiziell noch hinter dem Projekt steht. Angesichts der neuesten, für die großen Parteien und für die FDP desaströsen Umfragewerte wird nun immerhin allerorten nervös mit der Wimper gezuckt. Denn wenn jetzt Landtagswahlen stattfänden, bekäme Baden-Württemberg einen grünen Ministerpräsidenten.
 
Wir werden weiterhin Eindrücke aus Stuttgart sammeln - und oben bleiben! (PK) 

Alle Cartoons und Fotos von Kostas Koufogiorgos


Solidaritätsschreiben aus Köln
 
Stuttgart 21 stoppen - die Erfahrungen des Kölner U-Bahn-Baus
 
Liebe Gegnerinnen und Gegner von Stuttgart 21,
trotz Eures massenhaften Widerstandes weigern sich die Verantwortlichen bislang, dieses Projekt aufzugeben. Wie notwendig und richtig es ist, dieses Projekt zu stoppen, mag das Beispiel der Kölner Nord-Süd-U-Bahn zeigen. In Köln handelt es sich nicht mehr um die Frage, was passieren kann, wenn gegen begründete Mahnungen und Warnungen ein unsinniges Projekt durchgezogen wird. Aus Köln muss man leider berichten, was passiert ist. Bei uns wird derzeit die Nord-Süd U-Bahn gebaut. Baubeginn war Anfang 2004. Ursprünglich sollte die gesamte Strecke Ende 2010 in Betrieb gehen. Jetzt spricht der Vorstandschef der Kölner Verkehrsbetriebe von Ende 2017 als Datum für eine mögliche Inbetriebnahme…
 
2 Milliarden für 4 km
 
Ursprünglich wurden die Baukosten mit 550 Millionen Euro angegeben. Mittlerweile werden die Baukosten mit 1,1 Milliarde Euro beziffert. Dazu kommen allerdings noch die Kosten durch den Einsturz des Kölner Stadtarchivs. Insgesamt schätzt man die Kosten für die Bergung und Restaurierung der Archivalien, Neubau des Stadtarcharchivs, Abriss benachbarter Häuser, Sanierung einer benachbarten Schule, Baustellensicherung, Folgen Bauverzögerung, auf über 1 Milliarde Euro. Einen genauen Betrag kann heute noch niemand nennen. Er wird aber deutlich über 2 Milliarden Euro liegen. Verglichen mit S21 ist die Nord-Süd-Bahn sogar ein kleines Projekt. Die Tunnelstrecke ist rund 4 km lang, zusätzliche 2 km sollen oberirdisch als Straßenbahn verlaufen.
 
s21-demo - Warnungen ignoriert
 
Die Geschichte der Nord-Süd-U-Bahn ist eine Geschichte von ignorierten Warnungen. Bereits vor dem Einsturz des Stadtarchivs gab es eine Reihe von Zwischenfällen. Im September 2004 neigte sich der Turm der Kirche St. Johann Baptist. Etliche Häuser entlang der U-Bahn Baustrecke bekamen im weiteren Verlauf der Bauarbeiten Risse. Der Ratsturm des Historischen Rathauses senkte sich im August 2007 um sieben Millimeter. Trotzdem wurde unverdrossen weiter gegraben. Am 3. März 2009 geschah die eigentliche Katastrophe. Das Stadtarchiv und zwei angrenzende Häuser stürzten ein. Zwei Bewohner, 17 und 24 Jahre jung, starben in den Trümmern. Die Unglücksstelle ist bis heute eine Baustelle, 10 Prozent der Archivalien liegen immer noch im Kölner Grundwasser. Inzwischen wurde bekannt, dass beim Bau u.a. vorgeschriebene Bauprotokolle gefälscht und illegal Grundwasser abgepumpt wurde. Federführend beim Bau der Nord-Süd-Bahn ist der Konzern Bilfinger Berger. Die Kontrollen waren mangelhaft.Die Folgen soll jetzt die breite Masse der Bevölkerung bezahlen. Die immensen Mehrkosten werden nämlich bislang hauptsächlich von der Stadt getragen. Die beteiligten Baukonzerne haben dagegen noch keinen Cent bezahlt.

Lügen und Zinsen
 
Beim Bau wurde nicht nur gepfuscht sondern auch vorher schon gelogen. Ein Beispiel sind die Kostensteigerungen für die Stadt Köln. Ursprünglich hieß es: Die Stadt werde 10% der Baukosten (= 55 Mio. Euro) tragen. Schon damals war aber klar, dass die Stadt auch die Nebenkosten (= 82 Mio. Euro) bezahlen wird, also 132 Mio. Euro. Heute summieren sich die Kosten für die Stadt auf rund 450 Mio., weil die Nebenkosten noch stärker gestiegen sind als die Baukosten und Teile von Bund und Land nicht als "förderungswürdig" anerkannt wurden. Da die Stadt kein Geld hat, muss sie das über Kredite finanzieren, die Gesamtsumme steigt so (über 35 Jahre abzuzahlen) auf 924 Mio. alleine für die Stadt Köln.
 
Statt 55 inzwischen 924 Mio. Euro
 
Von propagandistischen 55 Mio. Euro auf reale 924 Mio. Euro, das ist die tatsächliche Kostensteigerung für die Stadt Köln. Das macht pro Jahr 26 Mio. Euro Belastung für den Haushalt, 35 Jahre lang. Und darin sind die Schäden durch den Archiveinsturz noch gar nicht enthalten. Die Stadtratsmehrheit hat bereits Einschnitte bei den Ausgaben für Jugend und Soziales für dieses Jahr umgesetzt. Ein Kürzungshaushalt und Gebührenerhöhungen sollen demnächst beschlossen werden.
 
Liebe Gegnerinnen und Gegner von S21: In Köln gab es zwar Protest gegen den Bau der Nord-Süd-Bahn, aber er war leider schwach. Wenn die Menschen in Köln so entschlossen und zahlreich aufgestanden wären wie ihr in Stuttgart und das Projekt verhindert hätten, dann würden zwei Menschen noch leben, das Stadtarchiv wäre unversehrt, die AnwohnerInnen müssten nicht jahrelang Lärm und Dreck ertragen und die Allgemeinheit hätte viel, viel Geld gespart. So aber sollen wir und sogar noch die nächste Generation mit Sozialkürzungen, Gebührenerhöhungen und höheren Fahrpreisen für dieses unsinnige Projekt zahlen.
 
Wir unterstützen Euren Protest und wünschen Euch vollen Erfolg. Bleibt entschlossen, bleibt oben!
 
Solidarische Grüße 
Claus Ludwig, Stadtrat Die LINKE.Köln* 
Özlem Demirel, Mitglied des Landtages NRW, Die LINKE* 
Linksjugend ["solid] Köln


Online-Flyer Nr. 268  vom 22.09.2010

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