NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 26. April 2024  

zurück  
Druckversion

Kultur und Wissen
Rezension eines spannenden Buches von Pascal Beucker & Anja Krüger
„Die verlogene Politik“
Von Ulrich Klinger

Der Titel täuscht – leider. Es dreht sich keineswegs „nur“ um Politikerlügen und ihre Aufdeckung. Die kommen zwar auch vor (und nicht zu knapp), aber der weitaus überwiegende Teil der knapp 300 Seiten ist eine äußerst kenntnisreiche und detailgenaue Beschreibung der sozialen Zustände, deren Ursachen und des politischen Betriebs in unserer Republik.
 
Allerdings sind die einzelnen Kapitel jeweils unter dem Begriff „Lüge“ zusammengefasst. Beispiele gefällig?
Kapitel 3: „Die Riester-Renten -Lüge“
Kapitel 4: „Die Arbeitsmarkt-Lüge“
Kapitel 5: „Die Steuerlügen“
Kapitel 6: „Die Bildungslüge“
Kapitel 7: „Die Gesundheitslüge“
Kapitel 9 „Die Integrationslüge“
 
Ein Exkurs über „Möllemann – eine liberale Karriere“ und „Der gläserne Abgeordnete“ schließen letzten Endes das Buch ab.
 
Hinter diesen Überschriften verbirgt sich die von Pascal Beucker und Anja Krüger glänzend aufgearbeitete Sozialgeschichte der Republik. Nicht nur die der letzten Jahre. Die Autoren gehen in die Anfänge der Bundesrepublik zurück. Anhand der Parteispendenskandale der CDU unter Adenauer und Kohl (um nur die offensichtlich Hauptverantwortlichen zu nennen) wird klar, wie käuflich diese politische Partei war (und wahrscheinlich heute noch ist, denkt man z. B. an den gerade aktuellen Fall der Verlängerung der AKW-Laufzeiten), wie wenig Verfassung und Gesetze gelten, wie moralisch verkommen diese zwei Politiker während ihrer Amtszeit waren. Sie stehen nicht allein, andere werden auch benannt. Namentlich die FDP und ihre Herren Möllemann, Lambsdorff und Westerwelle stehen natürlich ebenso im Mittelpunkt.
 
Aber auch der heutige gängige Weg der Nebentätigkeiten bzw. des Wechsels nach der Politik ohne eine zeitliche Frist in die Wirtschaft wird ausführlich geschildert. Und damit reden wir dann nicht mehr nur von CDU und FDP, sondern spätestens jetzt sind SPD und GRÜNE ebenso betroffen. Dass hier dringend neue Regelungen notwendig sind, ist offensichtlich. Die Vorschläge und Forderungen von Transparency International und LobbyControl sind bekannt und harren der Umsetzung!
 
Aber, wie gesagt, dies ist nicht der Haupttenor des Buches.
 
Nehmen wir z. B. das Kapitel „Die Gesundheitslüge“.
 
Im August 2003 legte der damals 23jahrige Junge Union-Politiker Philipp Mißfelder den Grundstein für seine Bekanntheit mit der Aussage, dass er nicht einsehe, dass 85jährige noch ein künstliches Hüftgelenk erhalten sollen. Der Aufschrei war riesig, auch Vertreter seiner eigenen CDU distanzierten sich aus Furcht vor schlechten Wahlergebnissen umgehend. Schließlich galt der Grundsatz, dass Patienten in Deutschland alles bekommen, was sie medizinisch brauchen. Schauen wir uns in Europa um, dann ist dies vielerorts schon nicht mehr selbstverständlich. In Großbrittanien wird besagtes künstliches Hüftgelenk nur noch bis zum 75. Lebensjahr bezahlt, warum eigentlich nicht auch bei uns?
 
Der „Aufschrei“ war dann auch nur noch ein mehr oder weniger leises Gemurmel, als der Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Jörg-Dietrich Hoppe, im Mai 2008 erklärte, dass wegen der strikten Ausgabenbegrenzung nicht mehr alles bezahlbar sei: „Das heißt, eine Rationierung medizinischer Leistung ist unumgänglich“. Auch Schweden, Großbrittanien und Neuseeland hätten die von ihm vorgeschlagene Prioritätenliste längst.
 
Randgruppen wie Obdachlose, Junkies und illegalisierte Ausländer haben derzeit keinen oder nur einen eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung. Selbstständige, welche die Kosten für die Krankenkasse nicht bezahlen können, sind heutzutage größtenteils ohne Versicherungsschutz. 
 
Dies war einmal anders. Bis in die 80er Jahre hinein gab es für die Bürger einen immer besseren Zugang zu Gesundheitsleistungen. Alles änderte sich ab 1992, als Horst Seehofer (CSU) Bundesgesundheitsminister wurde. Kanzler Kohl musste die Wiedervereinigung zugunsten der westdeutschen „Treuhand“ und der von ihr profitierenden Konzerne finanzieren – vorwiegend über die Sozialkassen. Im Dezember 1992 gab es das Gesundheitsstrukturgesetz, 4 Jahre später folgte das sog. Beitragsentlastungsgesetz, 1997 die GKV-Neuordnungsgesetze. Andrea Fischer (GRÜNE), Ulla Schmidt (SPD) und Philipp Rössler (FDP) setzen im Prinzip diese Linie fort. „Mehr Eigenverantwortung der Bürger“ ist die Devise – Kürzungen im Gesundheitsbereich wäre die ehrliche Definition.
 
„Ertönt der Ruf nach mehr Eigenverantwortung, müssen bei Patienten alle Alarmglocken schrillen, denn diese Wörter sind nichts weiter als ein Synonym fürs Selbstzahlen“.
 
Wurden früher einmal die Gesundheitskosten von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu je 50% getragen, hat sich das in wenigen Jahren entscheidend geändert. „Untersuchungen zufolge hat sich der Anteil zu einem Drittel Arbeitgeberfinanzierung und zwei Drittel Versichertenfinanzierung verschoben“.
 
Für medizinische Leistungen müssen Zuzahlungen bezahlt werden. „Die Befreiung von der Zuzahlung müssen die Betroffenen erst einmal beantragen. Für viele Familien aus einem prekären sozialen Umfeld stellt das eine geradezu unüberwindliche Hürde dar. Auch Menschen, die in Heimen leben und nur ein sehr geringes Taschengeld erhalten, müssen davon für medizinische Leistungen Zuzahlungen leisten. Das ist obszön“.
 
Das Kapitel endet mit den Worten: „In den USA hat Barack Obama nach hartem Kampf den Weg für den Aufbau eines Gesundheitssystems für alle gebahnt. Hierzulande stehen die Zeichen auf Abbau“.
 
Dies alles ist glänzend geschrienen, liest sich stellenweise wie ein Krimi. Man merkt deutlich, dass beide Verfasser Journalisten sind. Sie decken die Hintergründe auf, benennen Gewinner und Verlierer und entlarven Worthülsen (und deren Zustandekommen). Und sie sind parteiisch. Pascal Beucker und Anja Krüger beziehen mit diesem Buch Stellung. Sie bleiben nicht bei der Analyse stecken, sondern benennen die Folgen für die Bevölkerung, insbesonders für die Abgehängten. Der Unterschicht und deren Lage gilt ihr besonderes Interesse. Insofern unterscheiden Sie sich wesentlich von dem Verhalten der Mitglieder der Mittelschicht, der sie von Beruf und Status her entstammen und die sich z. Zt. aus Angst vor dem sozialen Abstieg eher von der Unterschicht abgrenzt als den Mitgliedern der Oberschicht (oder der herrschenden Klasse, wenn man es dann so ausdrücken will) Paroli zu bieten. Sie zeigen Solidarität. Und die ist wichtig in dieser kalten Zeit des praktizierten Neoliberalismus.
 
„Die verlogene Politik“ benennt die Probleme, zeigt die Ursachen und hilft insoweit, die Verhältnisse wieder real zu sehen. Es gibt Bücher, die erscheinen zum richtigen Zeitpunkt. Dieses ist so eines. Gerade jetzt, zu Zeiten des Sarrazinhypes und seiner für unsere Demokratie und unser Zusammenleben gefährlichen Thesen. (PK)
 
Ulrich Klinger betreibt eine Buchhandlung für ausgesuchte Literatur in Köln, erreichbar unter
Buchhandlung-klinger@netcologne.de, in der Rochusstr. 93. Mehr unter www.klinger.online.de
 
Pascal Beucker & Anja Krüger: „Die verlogene Politik“ - Macht um jeden Preis, Knaur Taschenbuch, 305 Seiten, € 8,99


Online-Flyer Nr. 268  vom 22.09.2010

Druckversion     



Startseite           nach oben

KÖLNER KLAGEMAUER


Für Frieden und Völkerverständigung
FOTOGALERIE