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Aktueller Online-Flyer vom 19. Mai 2024  

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Inland
100-Jahrfeier des Helmholtz-Gymnasiums Hilden - Kritische Beiträge gestrichen
Zensur zugunsten von BAYER
Von Peter Kleinert und Dr. Walther Enßlin

Das Helmholtz-Gymnasium in Hilden feierte am Samstag, 11. September, in der Stadthalle seinen 100. Geburtstag. Der langjährige Chemie-Lehrer Dr. Walther Enßlin sollte zu der knapp 100 Seiten starken Festschrift über die Geschichte der Schule auch über deren Auseinandersetzungen mit Chemiefirmen wie BAYER und ICI berichten. Drei von vier dafür von ihm verfasste Beiträge wurden von der Schulleitung aber gestrichen. Der Fall dokumentiert einmal mehr den vorauseilenden Gehorsam von Politik, Behörden, Medien und Bildungseinrichtungen gegenüber Konzernen. Die NRhZ wird in ihren nächsten Ausgaben über diese Zensureingriffe in Hilden berichten und die aus der Festschrift gekippten Texte komplett veröffentlichen. Nach einer redaktionellen Einführung folgt hier der erste.


Dr. Walther Enßlin - der nach seiner Pensionierung seit 5 Jahren ehrenamtlich weiter am Helmholtz-Gymnasium arbeitet und dort wie seit 29 Jahren die Chemie-Arbeitsgemeinschaft als Ideengeber betreut - umgeben von Mitgliedern der Chemie AG (Jan Bergner (Student der Physik), Arne Hüneke (Preisträger Geo- und Raumwissenschaften 5. Platz von 1600 Arbeiten), Janjakob Wüsthof (Chemie AG), dem Vater und der Mutter von Arne Hüneke und Jonas, Bruder vom Arne und auch in der Chemie AG.
Foto: Ulrike Brüne

In den letzten Endes nicht gedruckten Beiträgen geht es u.a. um das Aushorchen der Schule durch den Werkschutz der BAYER AG sowie um die unrühmliche Rolle der Stadt Hilden bei der Asbestsanierung der Schule. Schulleiter Karl-Heinz Rädisch entschied, drei kritische Texte nicht in die Festschrift aufzunehmen, da er die Vertreter der Stadt nicht verärgern wolle. Rädischs Vorgänger als Schulleiter, Bodo Wernicke, befürwortete einen Abdruck.
 
Kommentar von Dr. Walther Enßlin, der vor fünf Jahren in Pension gegangen ist: „Die Entscheidung der Schulleitung, kritische Bereiche der Schul-Geschichte in der Festschrift auszuklammern, ist enttäuschend. Mir geht es nicht um den Ruhm der Chemie-AG, sondern um die Frage, wie verantwortungsvoll mit den im Grundgesetz garantierten Gütern wie Meinungsfreiheit, Freiheit der Schule vom Druck durch Interessensvertreter und Recht auf körperliche Unversehrtheit umgegangen wird. Heutzutage geraten die Schulen immer mehr in finanzielle Abhängigkeit von Sponsoren - die Bespitzelung durch BAYER zeigt exemplarisch die hieraus erwachsenden Gefahren für die Beschäftigung mit industriekritischen Themen.“ Nach Ansicht von Enßlin wurde BAYER durch die heftige öffentliche Reaktion auf die damalige Aushorchung davon abgehalten, derartige Praktiken auch in anderen Schulen anzuwenden. „Wenn diese Vorgänge allerdings in Vergessenheit geraten, werden die Begehrlichkeiten von BAYER und anderen Firmen sicher wieder geweckt.“


Was hätte er wohl zu dieser Zensur gesagt? - Hermann von Helmholtz, auf einem Bild von Ludwig Knaus, 1881
Quelle: wikimedia
 
Der Journalist Jürgen Streich, der in seinem Buch „Dem Gesetz zuwider“ über mehrere Hildener Umweltskandale berichtet hat, ergänzt: „Die Schüler der Chemie AG haben unter Anleitung von Dr. Enßlin engagiert und phantasievoll Aufgaben wahrgenommen, die eigentlich Aufgabe der Behörden bis hin zur Staatsanwaltschaft sind. Dies ist Erziehung und Ermutigung zu staatsbürgerlicher Verantwortung und Demokratie! Schade, dass für so etwas angeblich der Platz fehlt. Zensiert wird landauf, landab schon genug - immer weichgespültere und gleichgeschaltete Medien können wir nicht gebrauchen!“
 
Der Jogger, der aus dem Abendrot kam
 
Von Walther Enßlin
 
1988 waren die Schülerinnen und Schüler noch mutiger, ihre Aussichten auf eine Stelle waren sicherer als heute im Jahre 2010. Deshalb konnte Walther Enßlin ihnen im Rahmen des Chemieunterrichtes zwei Veranstaltungen anbieten: 
 
1. „Gift in unserer Nahrung dank Bayer“, vorgetragen durch die Coordination gegen Bayer-Gefahren (CBG).
 
2. “Gift in unserer Nahrung?“, gestaltet von einem Vertreter von Bayer.
Ursprünglich sollte es nur eine Podiumsdiskussion geben, aber Bayer weigerte sich, mit seinen Kritikern an einem Tisch zu sitzen. Sicherheitshalber waren in Absprache mit dem Schulleiter die Veranstaltungen als nicht-öffentlich geplant, um den Schülern die Möglichkeit zu geben, Diskussionsbeiträge zu einem kritischen Thema abzugeben, ohne dass sie dadurch später berufliche Schwierigkeiten bekommen könnten.
 
Am 27.1.1988 fand die erste Veranstaltung in der vollbesetzten Aula des HGHs statt. Der Vortrag der Coordination gegen Bayer-Gefahren war fundiert. Leider irritierte Walther Enßlin sein Sitznachbar, der emsig alles notierte. Auf die Frage, woher er käme, antwortete er, dass er als Jogger zufällig vorbeigekommen sei und dabei die Plakate gelesen hätte. Walther Enßlin wies darauf hin, dass hier zwar niemand etwas zu verbergen habe, aber die Veranstaltung nicht öffentlich sei und somit seine Notizen nicht veröffentlicht werden dürften. Die Verwunderung von Walther Enßlin über den guten Anzug und die hochglänzenden Schuhe des Joggers hielt nicht lange an, da er als Diskussionsleiter seinen Platz verlassen musste. 
 
Wochen später bekam Walther Enßlin einen Anruf von Axel Köhler-Schnura von der CBG: „Es liegt ein Dossier vom Werkschutzmann Kramer von Bayer aus der Vorstandsetage von Bayer über die Veranstaltung und über den Unterricht von Walther Enßlin vor.“ Kramer hatte hierfür auch Schülerinnen und Schüler befragt. Das Dossier war der CBG von Bayer-Mitarbeitern zugespielt worden.
 
Da Walther Enßlin zusätzlich schon über Jahrzehnte vom Verfassungsschutz telefonisch abgehört wurde und vielleicht noch wird, bat er den Regierungspräsidenten auf dem Dienstwege um ein Rederecht bei einer von der CBG organisierten Pressekonferenz in Bonn. Dies wurde ihm zugestanden.
 
Der Journalist Martin Stankowski wollte hierüber im “Kritischen Tagebuch“ auf WDR3 berichten, erhielt jedoch einige Schwierigkeiten: Bayer sparte nicht mit Einstweiligen Verfügungen gegen die Veröffentlichung zum „Jogger, der aus dem Abendrot kam“. Juristen und Techniker des WDR harrten bis zur Sendezeit um 19 Uhr aus, damit die Sendung trotz Bayer-Protesten gesendet werden konnte.
 
Abgekämpft von der Pressekonferenz wurde Walther Enßlin schon am nächsten Tag aus dem Unterricht zum Schuldezernenten der Bezirksregierung Düsseldorf gerufen und mit den Worten empfangen: „Hier ist ein Chemielehrer zu viel“. Walther Enßlin sollte an eine Düsseldorfer Schule versetzt werden.
 
Enßlin wies auf das seltsame Zusammentreffen zwischen der Pressekonferenz zu Bayer und die folgende Androhung der Versetzung hin. Der Dezernent leugnete, etwas von der Bespitzelung zu wissen, obwohl die Meldung auf dem Dienstweg auch über seinen Schreibtisch gelaufen war und in allen Presseorganen zitiert worden war. Weiterhin bemerkte Walther Enßlin, dass er sehr engagierte Schülerinnen und Schüler sowohl im Unterricht als auch in seiner Arbeitsgemeinschaft hätte, die seine Versetzung an eine andere Schule nicht tatenlos zusehen würden.
 
Am letzten Ferientag der Sommerferien kam um 16 Uhr eine Verfügung der Bezirksregierung, dass der Kollege von Walther Enßlin, Herr P., am nächsten Tag an einer Schule in Düsseldorf seinen Dienst anzutreten hätte. Dieser erfuhr es am nächsten Tag und musste sofort zur neuen Schule fahren, wo er zu seiner Verwunderung drei zusätzliche neue Chemiekollegen vorfand, für die diese Schule nun keinen Bedarf hatte. Herr P. meldete sich krank, und die Düsseldorfer Schule hatte wenig Freude an der Versetzung.
 
Interessant war das Verhalten der Rechtsabteilung der Stadt Hilden, die die schriftliche Bitte des Schulleiters, Herrn Oberstudiendirektor Schmitz, nach rechtlicher Unterstützung – bei diesem Hausfriedensbruch durch Bayer – unbeantwortet ließ. Bei einem persönlichen Besuch stellte der Rechtsdezernent Sch. fest, dass Walther Enßlin durch die Wahl solch kritischer Themen die Bespitzelung durch Bayer selbst heraufbeschworen hätte. Darüber hinaus hätte Walther Enßlin das Hausrecht und die Stadt hätte damit nichts zu tun. Letztere Antwort wurde Walther Enßlin sicherheitshalber(?) erst nach Ablauf der Frist für eine Anzeige gegen Bayer zugestellt. 
 
Eine Unterstützung, die Firma Bayer auf ihr unrechtmäßiges Tun hinzuweisen, fand Walther Enßlin nur beim Schulleiter, den Kollegen und der Elternpflegschaft. Vertreter der drei Parteien des Landtags (FDP, CDU, SPD) fanden nur abenteuerliche Ausflüchte dafür, nicht gegen Bayer vorgehen zu müssen oder hüllten sich in Schweigen. Am Rande: Die Bespitzelung war durch den ehemaligen Helmholtzianer B. ausgelöst worden, der auch Walther Enßlin erläuterte, dass nicht ein Werksschutzmann, sondern deren zwei die Schule ausspioniert hatten. 
 
Bayer lud zur Wiedergutmachung die Schülerinnen und Schüler des HGHs zu drei Veranstaltungen ein: Zu zwei Diskussionsrunden und zu einer Besichtigung des Pflanzenschutzzentrums in Monheim. Beim obligatorischen Photo vor dem Bayerportal drehten die Schülerinnen und Schüler entweder dem Fotografen den Rücken zu oder trugen schwarze Brillen – ein Horrorbild. Die Diskussionsveranstaltung zum Thema Gentechnologie wurde nach Aussagen des Vertreters von Bayer, Dr. Stadler und der Landtagsabgeordneten der Grünen, Frau Grüber, die bisher heißeste in ihren Laufbahnen. Zwei Jahre später entschuldigte sich Bayer bei Walther Enßlin und sandte ihm den Bayerbildband zum 100-jährigen Bestehen des Unternehmens zu. 
 
Die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN hatte zur selben Zeit folgenden Satz auf einem Flugblatt verewigt: „In seiner grenzenlosen Sucht nach Gewinnen und Profiten verletzt BAYER demokratische Prinzipien, Menschenrechte und politische Fairness. Missliebige Kritiker werden bespitzelt und unter Druck gesetzt, rechte und willfährige Politiker werden unterstützt und finanziert.“[1]
 
Bayer klagte dagegen und bei den folgenden Gerichtsverfahren ging es darum, ob dieser Text eine Tatsachenbehauptung oder eine Meinungsäußerung darstelle. In dem Verfahren spielte auch das Protokoll von Werkschutzmann Kramer eine wichtige Rolle, da es den Vorwurf der Bespitzelung erhärtete. Aus diesem nervenaufreibenden und kostspieligen Prozess über alle Instanzen, der die kleine Gruppe der Kritiker mehrmals beinahe in den Ruin trieb, stieg sogar Greenpeace als Verbündeter aus. Die Gerichte befanden schließlich in letzter Instanz, dass die Meinungsfreiheit höher einzustufen sei.[2] Die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN hatte bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen müssen, um dem Recht auf Meinungsfreiheit fünf Jahre nach Beginn des Verfahrens wieder Geltung zu verschaffen.[3] 
 
Noch heute setzt sich Bayer über die Meinung und Ängste der Anwohner hinweg und legte eine Giftgasleitung direkt durch deren Gärten.[4] Kritiker der Giftgasleitung wie einzelne Kinderärzte des Kreises Mettmann werden unter Druck gesetzt, indem ihnen von Bayer mit dem Entzug von Geldern gedroht wird. (PK)
 
[1] http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv085001.html
 
[2] http://books.google.de/books?id=Kyo5s6Dda9kC&pg=PA230&lpg=PA230&dq=Bayer+verletzt+demokratische+Prinzipien&source=bl&ots=Zq3al0lfVv&sig=fbkggdUotrmOJgLRFHzu7U2RWQc&hl=de&ei=PYVFTIudIcLqOMOordgD&sa=X&oi=book_result&ct=result&resnum=2&ved=0CBsQ6AEwAQ#v=onepage&q=Bayer%20verletzt%20demokratische%20Prinzipien&f=false
 
[3] http://www.cbgnetwork.org/3173.html
 
[4] www.CBGnetwork.org


Tagung zu CO-Pipeline und Störfall-Risiken am 13. November

Zeit: 13. November, 9.30 – 17.30 Uhr
Ort: Umweltzentrum Düsseldorf, Merowinger Str. 88
Eintritt: frei (Spende erwünscht)
Veranstalter: Coordination gegen BAYER-Gefahren e.V.
 
Nordrhein Westfalen ist eine der dichtest besiedelten Regionen Europas. Gleichzeitig findet sich in NRW die größte Anzahl gefährlicher Chemie-Werke Deutschlands: die Phosgen- und Pestizid-Produktion bei BAYER, die Blausäure-Herstellung bei DEGUSSA, Acrylnitril und Benzol bei INEOS, die riesigen Chemieanlagen in Marl, Raffinerien von SHELL und BP, etc.
 
Zu allem Überfluss will der BAYER-Konzern von seinem Dormagener Werk aus hochgiftiges Kohlenmonoxid per Pipeline nach Krefeld leiten. Dicht vorbei an Wohngebieten, Schulen und Kindergärten. Das jahrzehntelange Prinzip, wonach Gefahrstoffe nur am Ort ihrer Verwendung produziert werden, soll aufgegeben werden – ein gefährlicher Präzedenzfall. Tausende Anwohner sollen künftig im „Todesstreifen“ (O-Ton CDU-Bürgermeister von Monheim) leben.
 
Proteste und Gerichtsverfahren konnten die für 2007 geplante Fertigstellung der Pipeline bis heute verzögern. Einmal mehr zeigt sich, dass wirksamer Bürgerprotest auch gegen mächtige Konzerne nicht chancenlos ist! Doch BAYER will von dem Projekt bis heute nicht abrücken.
 
Wir wollen in der Tagung mit Aktiven und Betroffenen über die Risiken der chemischen Industrie in NRW sprechen, den Widerstand gegen CO-Pipeline und Störfällgefahren vorstellen, die Störfallbilanz von BAYER - dem größten Chemie-Unternehmen der Region – präsentieren und über Möglichkeiten künftiger Gegenwehr diskutieren.
 
Themen und Referenten:
ð     Geballte Risiken: Die Chemie-Industrie in NRW; Dr. Walther Ensslin, Chemiker
ð     CO-Pipeline: Kritik und Widerstand; Erich Hennen, Sprecher der Duisburger Pipeline-Gegner
ð     Von Baytown bis Ankleshwar – Störfälle bei BAYER; Philipp Mimkes, Dipl. Phys., Coordination gegen BAYER-Gefahren
ð     Kohlenmonoxid-Vergiftungen: Hilfe unmöglich; Dr. Gottfried Arnold, Kinderarzt, Initiator eines Offenen Briefs von 100 Ärzten
 
Das vollständige Programm findet sich unter: www.cbgnetwork.de/downloads/CBG_Jahrestagung2010.pdf
 
ANMELDUNG:
e-Mail: CBGnetwork@aol.com
Fax 0211 - 33 39 40
Tel 0211 – 333 911


Online-Flyer Nr. 267  vom 15.09.2010

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