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Inland
Rassismus – die Chance für Dresden – die deutscheste Großstadt?
Ein Trauerspiel geht zu Ende
Von Victor Vincze

Die Menschen brauchen Krisen, Kriege und Konflikte, um sich weiterentwickeln zu können. Ohne solche Schicksalsschläge werden die Entscheidungsträger oft blind, missachten deutliche Signale. Was am 1. Juli 2009 im Landgericht in Dresden passierte, ist so abstrakt, so unglaublich, wie eine antike Tragödie. Was aber danach passierte, wirkt wie eine schlechte Komödie, die vergangenen Donnerstag mit einer Kundgebung zum Gedenken an den Mord an Marwa El-Sherbiny vor dem Rathaus mit ca. 120 Menschen vorläufig endete. 
 

Gedenken an Marwa El-Sherbiny vor dem
Gericht
NRhZ-Archiv
Dieser Todesfall hat viele Menschen aufgerüttelt. Seit der Ermordung des Mosambikaners Jorge Joao Gomondai 1991 geschah lange kein rassistischer Mord mehr in Dresden. Die alltäglichen Diskriminierungen, Pöbeleien, Angriffe auf Farbige, Andersdenkende und Anders-gläubige in und um die Stadt nahm man stillschweigend in Kauf oder sie wurden unter den Teppich eines „fremdenfreundlichen Dresdens“ gekehrt. Trotz zahlreicher Tricks der Statistik-schönfärberei, wie z.B. Fremden-feindlichkeit als Tatmotiv abzuerkennen oder den Opfern von Anzeigen abzuraten, verzeichnen die Opferberatungs-stellen einen starken Anstieg dieser Straftaten. Die Wahrheit lässt sich im Internetzeitalter nicht mehr so leicht hinter bunten Broschüren und hohlen Werbeslogans verstecken. Das Fernbleiben ausländischer Touristen, Absagen an Dresden als Wohnort ausländischer Studierender und Forscher sind deutliche Zeichen, der Ruf Dresdens bewirkt bereits ökonomisch spürbare Folgen.
 
Nach dem Tod der schwangeren Marwa El Sherbiny zerriss die Lüge von der toleranten Elbmetropole endgültig. Rasch kamen sanftere, versöhnlichere Töne aus dem Rathaus an die Migranten, die Stadtverwaltung bemühte sich unter dem Druck der weltweiten Empörung um Schadensbegrenzung.
 

Dirk Hilbert (FDP) – Erster
Bürgermeister mit
koreanischer Frau
Alles, was nach dem Mord kam, glich aber einem schlechten Theater. Die Weltpresse machte Schlagzeilen und spiegelte die Empörung der Bevölkerung wider. Diverse Migrantenorganisationen riefen zur Kundgebung auf. Die Oberbürgermeisterin unterbrach aber ihren Griechenlandurlaub trotzdem nicht, und der Erste Bürgermeister Hilbert hielt auf der Kundgebung „Weiße Rosen für Marwa“ eine Rede, die bis heute wie eine Tirade klingt.
Seine Unterscheidung zwischen Menschen nach ökonomischem Nutzen und daraus eine Wertigkeit zu ziehen, ist mehr als befremdlich, es ist verwerflich und unmenschlich. Und als er zum Schluss seine koreanische Frau als „Beweis“ der Weltoffenheit Dresdens präsentierte, fühlte man sich wie im falschen Film. Das war auch alles, was Dresden öffentlich vorzeigen konnte.
 
Ein weiteres Jahr verging. Eigentlich wäre genügend Zeit gewesen, wenn man hätte ernsthaft handeln wollen. Am 1. Juli 2010, bei der Gedenksteineinweihung und bei der Kundgebung erwartete man sowohl von der Staatsregierung als auch von der Oberbürgermeisterin, dass sie die Möglichkeit nutzen, eine Bilanz zu ziehen, welche der großen Versprechungen nach dem „Doppelmord“ im letzten Sommer eingehalten wurde. Viele hatten den Eindruck, dass die Liste wohl recht knapp ausgefallen ist. Nun, ein Fazit:


Justizminister Dr. Jürgen Martens - will Rechtsextremismus bekämpfen
Quelle: www.justiz.sachsen.de
 
Die Rede vom Justizminister Dr. Martens enthielt zumindest ein glaubwürdig erscheinendes Bekenntnis: Er wolle Rechtsextremismus hart bekämpfen. Der Begriff „Rechtsextremismus“ klingt aber hier im Osten Deutschlands wie ein Euphemismus, als ob es sich hierbei um Randprobleme einer kleinen Minderheit handelt, obwohl jeder hier spürt, dass Fremdenfeindlichkeit und Rassismus schon längst in der Mitte unserer Gesellschaft endemisch sind.
 
Die Familie und die in- und ausländischen Bürgerinnen und Bürger der Stadt erwarteten - vergeblich - eine Entschuldigung, ein Bekenntnis, Fehler einzugestehen. Ein Wort, eine kleine Geste hätte gereicht, einiges gutzumachen. Nach der Gedenksteineinweihung nutzten Mitglieder des Sächsischen Migrantenbeirates die Chance, die Vertreter der Staatsregierung darauf hinzuweisen. Sie stellten klar, dass der Freistaat es nicht tun wird, trotz der vielen quälenden Fragen, die der Fall immer noch aufgibt. Selbst wenn juristisch keine direkte Mitschuld festzustellen war, moralisch bleibt immer ein bitterer Beigeschmack.
 
Es gab mehr als deutliche Hinweise auf die Gewaltbereitschaft des Täters, warum wurden sie ignoriert? Hätte z.B. ein „Mohammed Mustermann“ so einen Drohbrief dem Gericht zugeschickt, hätte vermutlich binnen 10 Minuten das SEK vor seiner Wohnungstür gestanden. Hätte der Polizist auch so reagiert, wenn im Gegensatz zu den Opfern, der Täter eine dunkle Hautfarbe gehabt hätte? Warum identifiziert man den Täter nicht durch die Mordwaffe in der Hand?
 

Oberbürgermeisterin Helma Orosz (CDU)
– leere Phrasen, alte Versprechungen
Die Rede der Oberbürger-meisterin Helma Orosz am 1. Juli 2010 war ein Armutszeugnis der Handlungsunfähigkeit, es klang für viele wie reine Opferver-höhnung. Wieder die leeren Phrasen, wieder alte Verspre-chungen.
 
OB Orosz redete von Integration als Chefsache. Ist sie realisiert worden? Ganz im Gegenteil, die Integrationspolitik stagniert nach wie vor, ihre kurzsichtige Personalpolitik rief die aktiven Migrantenvereine auf die Barrikaden, der Umgang der Stadtverwaltung mit dem Ausländerbeirat, das von den Migranten gewählte Gremium, ist wirklich enttäuschend. Ohne politisches Mitbestimmungsrecht werden die Entscheidungen weiter statt „MIT“ nur „ÜBER“ die Migranten getroffen. Dabei auf die Gunst der Stadtverwaltung zu hoffen, erwies sich stets als ungenügend.
 
OB Orosz redete vom Dialog mit den Vereinen, stattdessen steht eine Antwort der Stadtverwaltung auf den Maßnahmenkatalog mehrerer Vereine seit vielen Monaten aus.
 
OB Orosz redete von der geplanten Antirassismuskampagne und vom lokalen Handlungsplan, von dessen Maßnahmen ist aber bis dato keine einzige verwirklicht. Und das war alles, was die Stadt zum Thema berichten konnte.
 
Der Kampf gegen „Rechtsextremismus“ bleibt so lange in der Hand engagierter Bürgerinnen und Bürger. Dank der Initiative des Rektors der Technischen Universität Dresden mit der Menschenkette sowie der Blockade durch das linke Bündnis konnte man den größten Neonaziaufmarsch in Europa am 13. Februar 2010 – im Gegensatz zum Vorjahr – verhindern.
Und es zeigt die Richtung, in die wir gehen müssen, wenn die Stadtverwaltung unwillig oder unfähig ist zu handeln. Die Frage, die sich immer mehr Dresdener stellen, ist, ob unter dieser Führung doch noch etwas möglich ist oder erst mit einem/r neuen Oberbürgermeister/in?
 
Vielleicht sollte die Stadt an die Thematik anders herangehen und die Schwäche in eine Chance umwandeln. Statt Worten, die sich rasch als falsch erweisen, sollte man mit Werbesprüchen wie „Dresden – die deutscheste Großstadt Deutschlands“ oder „Bei uns sehen Sie keinen Mitarbeiter mit Migrationshintergrund“ werben, als Landeshauptstadt Sachsens, wo die NPD aus dem Landtag nicht mehr wegzudenken ist, im einzigen Bundesland Deutschlands, das noch kein Integrationskonzept verabschiedet hat. Solche Tatsachen ziehen auch gewiss einen bestimmten Kreis von Touristen an. - Will die Stadt wirklich dieses Image?
 
Wir haben ein gemeinsames Ziel: ein für alle lebenswertes Dresden, dafür müssen wir alle an einem Strang ziehen. Die Blockadepolitik der Stadt wird vermutlich bis zur politischen Gleichberechtigung von Migrantinnen und Migranten aufrechterhalten. 
 
Horst Köhler dankte nach einem Fehler konsequent ab. Hätte Dresden auch so ehrliche Politikerinnen und, die sich an ihm ein Beispiel nehmen würden, wäre der Himmel über Dresden bald gewiss nicht so schwarzbraun wie heute.(PK)

Zum Thema in dieser Ausgabe auch ein Beitrag über eine Diskussion mit dem Dresdener Oberstaatsanwalt Christian Avenarius im Internationalen Begegnungszentrum  
 
Victor Vincze ist Mitglied im Koordinierungskreis Sächsischer Migrantenbeirat.
Mehr dazu: www.kulturdiplomat.de


Online-Flyer Nr. 258  vom 14.07.2010

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