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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Sport
Turbine Potsdam siegt mit Elfmeterkrimi gegen Olympique Lyon
Nervenstarke Sarholz stoppt Lyon
Von Bernd J.R. Henke

Am Morgen danach: neun Stunden nach dem packenden Champions League-Finale sitzt die zweifache Torverhinderin Anna Felicitas Sarholz, vermummt wie ein Hollywoodstar mit Sonnenbrille, Kapuze und Boardkarte mit ihrem übergroßen Laptop auf dem Steinboden des Wartebereiches im Madrider Flughafen. Kein Fluggast erkennt die Heldin, die die Fußball- Legionärinnen aus Lyon stoppte. Als Sarholz - übermüdet vom gemeinsamen Feiern im Restaurant Halifax bis 4 Uhr morgens - gegen 9 Uhr die Spanair-Maschine nach Frankfurt betritt, ahnt keiner der Mitreisenden, mit welch herausragender Leistung diese unbekannte groß gewachsene Frau zuvor vor 10.372 Zuschauern im Coliseum Alfonso Pérez im spanischen Getafe nahe Madrid in einem 7:6 Elfmeterschießen nach 120 Minuten Torlosigkeit mit geradezu tollkühner Virtuosität ein schon scheinbar verloren geglaubtes Fußballspiel der Königsklasse gewendet hatte.
 

Michel Platini: "Das war wohl der Anfang einer großen Karriere." - Heldin eines Fußballmärchens | Alle Fotos: Jan Kuppert, Potsdam
 
Olympique Lyon glaubte wirklich schon den Sieg in der Tasche zu haben, bis zu dem historischen Zeitpunkt als die nervenstarke Heldin Anna Felicitas Sarholz trotz vorangegangener Schussfehler ihrer erfahrenen Team-Gefährtinnen, Jennifer Zietz und Anja Mittag, mit zwei sicheren Paraden die Elfmeter-Schüsse von Amandine Henry und der frisch eingewechselten norwegischen Stürmerin Isabell Lehn Herlovsen (90.) hintereinander in die richtige linke Ecke flog und hielt.
 
Duell mit Sarah
 
Danach steigerte die tollkühne 17-jährige U17 und U19 DFB-Nationalspielerin mit pokerhafter Berechnung die Dramaturgie, indem sie selbst gegen ihre französische Konkurrentin im Lyoner Tor, Sarah Bouhaddi, zum Schuss antrat und sicher traf. Sarah Bouhaddi, wohl mit dem kabylischen, matrilinearen Temperament ihrer algerischen Vorfahren ausgestattet, reagierte im Gegenzug eiskalt und konterte den frechen Angriff der Potsdamerin Sarholz mit einem unhaltbaren Schuss. Die zahlreichen Fans aus dem Rhonetal waren hin und her gerissen zwischen enthusiastischer Freude und gespannter Resignation. Denn nach der Papierform waren Lyons Fußballlegionärinnen mit blonden und rothaarigen Skandinavierinnen aus Schweden und Norwegen, Brasilianerinnen, einer Schweizerin und einer Stürmerin aus Costa Rica wesentlich stärker einzustufen als die junge international unerfahrene Potsdamer Mannschaft mit einem Altersdurchschnitt von 20 Jahren.
 
Sekunde der Entscheidung
 
Als dann die neunte Lyoner Spielerin, die dunkelhäutige Stürmerin Élodie Thomis, an der Reihe war und beim 6:7 Spielstand für Potsdam zum Elfmeter antrat, hatte Potsdam mehr Glück als Verstand. Thomis traf nur die Querlatte. Die glückselige Anna Felicitas riss vor Freude die Arme hoch, tänzelte im Sekundenbruchteil auf der Stelle, um dann schnell laufend in die Mitte des Platzes, jubelnd verfolgt von ihrer gesamten Mannschaft, in den Mittelkreis zu rennen. „Das war wohl der Anfang einer großen Karriere“, bemerkte der französische UEFA Präsident Michel Platini mit italienischem Namen gegenüber dem DFB Präsidenten Dr. Theo Zwanziger. Deutschlands Frauenfußballförderer Nummer 1 „Theo überall“ noch ganz perplex: „Das wird nix mehr, dachte ich.“ Turbine-Ehrenmitglied Zwanziger sprang mit einem Jubelschrei hoch, umarmte UEFA-Präsident Platini und herzte jede Spielerin im Konfettiregen der Siegerehrung. Und weiter: „So was habe ich lange nicht mehr gesehen. Es war unglaublich, einfach fantastisch, so nervenaufreibend. Ich bin extrem stolz auf alle.“


Fatmire Bajramaj - beste Spielerin des Tages
 
Dreizehn Stunden nach dem Triumph vom 1.FFC Turbine Potsdam in der Champions League der Königsklasse landete die Spanair JK 126 mit der Heldin mit Sonnenbrille auf dem Flughafen Rhein-Main. Während am selben Morgen die deutschen Sportkommentatoren ihre ersten Artikel in’s Internet stellten, aber noch keine Morgenzeitung (außer BILD) vom Spektakel in Getafe in gedruckten Ausgaben berichten konnte, ging die Heldin unerkannt durch das Terminal 1 und fuhr zielstrebig zum Hotel des DFB-Stützpunktes in die Nähe von Frankfurt. Dort wartete die U19 DFB-Trainerin Maren Meinert auf die Potsdamerin. Anna Felicitas Sarholz war überglücklich und gefasst. Kein Anzeichen von Übermut, volle Konzentration suchend und in sich ruhend.
 
Was war geschehen?
 
Noch am Vorabend des Spieles nach dem Training hatte ich Cheftrainer Bernd Schröder gefragt, wen er denn von seinen beiden erstklassigen Torhüterinnen - Desirée Schumann oder Anna Felicitas Sarholz - aufstellen würde. Es wäre noch alles offen, er entscheide kurz vor dem Anpfiff, entgegnete Schröder ziemlich offen und ehrlich. Nach dem Spiel ließ der alte Fuchs die Katze aus dem Sack: „Entscheidend war die Mannschaftsaufstellung von Lyon. Die hatten groß gewachsene Stürmerinnen aufgestellt und “Felix“ (so lautet der offizielle Spitzname von Anna Felicitas) ist ein paar Zentimeter größer als Desirée. Das war der eigentliche Grund. Wir sind ein Team. Bei uns spielt jeder für jeden.“
 
Pflichten einer 17-jährigen
 
Damit hatte eigentlich niemand gerechnet, denn Sarholz hatte noch kein Saisonende zu erwarten. Sie war nämlich für die am Pfingstmontag beginnende Europameisterschaft der U 19-Frauen in Mazedonien nominiert, die schwarz-rot-goldenen Farben zu vertreten. Und in den folgenden Tagen sollte sie auch die U19 Europameisterschaft Endrunden-Spiele gegen Italien in Kumanovo, gegen Schottland und gegen England in Skopje bestreiten. „Ich bin eben eine coole Sau", meinte Torfrau “Felix“, nachdem sie für Turbine den Sieg in der Champions League gesichert, dabei zwei Elfmeter gehalten und noch einen selbst verwandelt hatte.


Dank und Bewunderung der Mannschaft für die "Heldin von Madrid"
 
Dass Felicitas - das Glück des deutschen Frauenfußballs - nach dieser reifen Leistung auch Mut und Reife hat, sich nicht zu überschätzen, bewies sie einen Tag später. Am Samstag gegen 20:07 Uhr meldet erfuhr man: „Für die am Montag beginnende Europameisterschaft der U 19-Frauen in Mazedonien muss DFB-Trainerin Maren Meinert auf Anna Felicitas Sarholz verzichten. Die 17-Jährige bat einen Tag vor der Abreise der Mannschaft aus persönlichen Gründen darum, von ihrem Einsatz bei der EM abzusehen. Anna Felicitas Sarholz gab in einem Gespräch mit dem Trainerteam an, dass sie sich nach dem Finale in der Champions League der Frauen am vergangenen Donnerstag nicht mehr in der Lage gesehen habe, bei der U 19-EM zur Verfügung zu stehen. Nach diesem Saisonhöhepunkt, so die Erklärung der Torfrau, sei die Konzentration auf Fußball derzeit nicht möglich. Der Trainerstab entsprach dem Wunsch von Anna Felicitas Sarholz und nominierte Laura Benkarth vom SC Freiburg für die Europameisterschaft nach. Während sich die U 19-Frauen am Samstag auf den Weg nach Mazedonien machten, kehrte Anna Felicitas Sarholz wieder zurück in die Obhut ihres Vereins, der die Torfrau, in Absprache mit dem DFB, betreuen wird.“ So lautete die Pressemeldung des DFB, die durch die Ticker ging.
 
Nachlese beim Sonnenaufgang
 
Unser NRhZ Fußballexperte Johann Blaha, der mit der Heldin Anna Felicitas Sarholz, der Champions League Matchwinnerin Fatmire Bajramaj, Potsdams Präsident, Brandenburgs Minister für Arbeit, Soziales, Frauen und Familie Günter Baaske und Hauptsponsor ZAL (Zentrum für Aus- und Weiterbildung Ludwigsfelde)-Geschäftsführer Reiner Rabe bei Schampus und Longdrinks die sturmfreie Party mit tanzenden Turbinen in der Bar und im Restaurant Halifax miterleben konnte, bemerkte beim gemeinsamen Rückflug: „Anna Felicitas Sarholz hat mit ihrer originellen frischen Unbekümmertheit und ihrer sächsisch-anhaltinischen Disziplin sowie ihrer inneren Reife dem FC Bayern München gezeigt, wer nun in Deutschlands Fußball zur Zeit die wahre Nummer Eins ist – der 1.FFC Turbine Potsdam.“ „We are the Champions“, sang die fußballerische Zukunft des Deutschen Fußballbundes mit einem Durchschnittsalter von nur knapp 20 Jahren in dieser Nacht bis zum Sonnenaufgang in Madrids Stadtteil Alcorcon. Ein Fußballmärchen mit einer 17-jährigen.
 
Society is more
 
„The winnerin of the match“ in Getafe, Fatmire Bajramaj, war der Mittelpunkt der Pressekonferenz nach dem Spiel. Sie fragte einfühlsam und zugleich neugierig in der Mixed-Zone die spanische Turbine-Dolmetscherin Blanca Jimenez, ob denn Lyons Cheftrainer Farid Benstiti auch Migrationshintergrund habe. „Wohl Algerier“, meinte ich. Cheftrainer Farid Benstiti nennt seine beste Spielerin, Louisa  Necib, bei Olympipue Lyon „la Zidanette de France“. Das Frauenfußballmärchen von Madrid erreichte allein in Deutschland über 5 Millionen Fernsehzuschauer. Unsere Mädchen in den Fußballschulen haben nun echte Vorbilder. Eine der weltbesten Trainerinnen - die US National Team-Trainerin Pia Sundhage - brachte es jüngst in einem respektvollen  Hintergrundgespräch mit mir in Frankfurt am legendären Sportpark Brentanobad auf den zentralen Punkt: „Society with womensoccer is more than only womensoccer.“ Frauenfußball bedeutet eben gelebte Gesellschaft durch Vorbilder, Integration und Gleichberechtigung. (PK)

Hier weitere Bilder eines unserer besten Sportfotografen, Jan Kuppert aus Potsdam:











Bewunderung, Stolz und Freude | Foto: Steffen Langbein, Jena
















 


Online-Flyer Nr. 251  vom 26.05.2010

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