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Aktueller Online-Flyer vom 09. Oktober 2024  

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Inland
Ein „Diskussionsabend“ im Centrum Judaicum Berlin
„Alles Antisemiten!?!“
Von Dr. Sabine Schiffer

Im Zweifelsfalle ist es eben Antisemitismus. – So banal pauschal würde ich das fehlende Fazit vom Dienstagabend vergangener Woche (1) im Berliner Centrum Judaicum beschreiben. Der Einladung der Jüdischen Gemeinde waren Hunderte von Menschen gefolgt, eine lange Schlange und Wartezeit auf Grund der Kontrollen bildeten den Auftakt zu einem turbulenten Abend.  

Centrum Judaicum der Jüdischen
Gemeinde in Berlin
Nach den einführenden und polarisierenden Worten der Gemeindevorsitzenden Lala Süsskind, die zusammen mit Levi Salomon Chefredakteure und Herausgeber von taz, Welt und Tagesspiegel geladen hatte, um über die Publikation eines Beitrags von Iris Hefets in der taz zu diskutieren, gab es eine erste Protestaktion junger Juden aus Israel. In einer Reihe standen sie auf und beklagten hinter ihren hebräisch beschrifteten Schildern mit der Aufschrift „Wir sind alle Iris Hefets“, dass die Veranstalter einen Alleindeutungsanspruch in der Frage um „Antisemitismus, Israelkritik und Antizionismus“ erheben würden und empörten sich darüber, dass Hefets selber nicht auf dem Podium saß. Diese hatte in einem Artikel vom 9. März die Erinnerungskultur in Israel kritisiert und die zunehmende Verunmöglichung von offenen Diskussionsabenden in Deutschland anhand der Erfahrungen um die Verhinderung von Veranstaltungen mit Norman Finkelstein und Ilan Pappe beklagt. Ein schlechtes Zeugnis in Sachen Diskussionskultur sollte es auch an diesem Abend geben.
 

Iris Hefets –
„Erinnerungskultur“
in Israel kritisiert
Protest gegen die jungen Protestler wurde ebenso laut, sie wurden schließlich des Saales verwiesen und von Polizei hinausbegleitet. Ines Pohl, Chefredakteurin der taz und redaktionell verantwortlich für die Veröffentlichung von Hefets' Artikel, schlug vor, doch dieselbe nun tatsächlich aufs Podium einzuladen oder ihr als Auslöserin der Diskussion Gelegenheit zu geben, ihre Position in einem Statement darzulegen. Ein junger Mann protestierte und rief laut: Wenn eine „Antisemitin“ im jüdischen Zentrum sprechen dürfe, dann gehe er sofort. Der zur Moderation bestellte Thierry Chervel vom online-Magazin perlentaucher und Frau Süsskind beschlossen nach sich aufschaukelnden Tumulten die Ablehnung dieses Vorschlags. Daraufhin ging Frau Pohl, weil sie „an einer undemokratischen Veranstaltung wie dieser“ nicht teilnehmen werde. Chervels etwas verspätete Kompromissvorschläge in Richtung Pohl und Hefets gingen ins Leere. Iris Hefets, die – laut eigener Aussage vor der Veranstaltung – auf Grund einer fehlenden Einladung gar nicht bereit gewesen wäre, Stellung zu nehmen, weil sie sich nicht auf eine „Anklagebank“ zerren ließe, war ohnehin nicht im Saal, sondern verbrachte den Abend draußen vor dem Gebäude.
 

Gemeindevorsitzende Lala Süsskind –
Iris Hefets’ Stellungnahme abgelehnt
Foto: Sabine Schiffer
Dennoch machten sich sofort Verschwörungstheorien Luft: Dies sei ein „abgekartetes Spiel“ gewesen, abgesprochen zwischen Hefets und Pohl. Diese Theorie übernahm auch Thomas Schmid, Herausgeber der Welt. Das intellektuelle Desaster des Abends nahm nun seinen Lauf, denn bereits mit der Eröffnung des Restpodiums durch den lavierenden Chervel, den mit äußerst vagen und stets relativierenden Statements agierenden Stephan-Andreas Casdorff, Chefredakteur des Tagesspiegel, sowie seinen Kollegen aus dem Hause Springer war klar, dass der Abend nicht viel Substanz haben würde. Immerhin – einer erwähnte die EU-Arbeitsdefinition über Antisemitismus, aber sowohl diesbezüglich als auch ansonsten wurde wenig Reflexionsvermögen in der Sache sichtbar. Vielleicht hatte man sich auch einfach nur auf Pohl- und taz-Bashing statt auf die Erörterung der Abgrenzungsfragen, die im Titel angekündigt waren, vorbereitet. Denn zum Thema „Zum Umgang deutscher Medien mit [deutscher] Erinnerungskultur, Israelkritik und Antisemitismus“ hätte es ja wohl ausreichend Stoff zur Bearbeitung gegeben.


Das Podium zu Beginn der Veranstaltung (v.l.n.r.): Stephan-Andreas Casdorff, Thierry Chervel, Ines Pohl und Thomas Schmid. Nach einem Eklat vor Beginn der eigentlichen Debatte verließ Ines Pohl den Saal. Mit Recht!
Foto: Sabine Schiffer
 
Eine peinliche Posse – nicht nur das relativ zusammenhanglose Podiumsgeschehen, sondern auch durch die vermeintliche Einbeziehung von Publikumsfragen und -anmerkungen, die schließlich weder vom Moderator noch von anderen auf dem Podium wirklich aufgegriffen wurden oder inhaltlich auch nur zur Kenntnis genommen worden wären. Das Betreten eines Minenfelds mit jeder einzelnen Aussage konnte man am Raunen in den gespaltenen Lagern des Publikums feststellen – bei einer Gruppe stieß gar der Hinweis darauf, dass es im Nahen Osten Frieden für alle geben müsse, auf offene Ablehnung im Sinne eines Verrats am Judentum. Was soll man da noch sagen? Und so fielen vielleicht als Angstreaktion darauf die Schlussstatements der Podiumsteilnehmer noch plakativer aus als die Eingangsstatements: längst enttarnte Mythen oder Plattitüden wie: „Israel als einzige Demokratie im Nahen Osten“, dass es „ein klares Opfer und einen klaren Schuldigen“ gäbe bis hin zur Kritik an der „Fixierung auf Israel“ (unter Ausklammerung der Frage, ob ein Ignorieren dessen nicht auch als Antisemitismus gedeutet werden könnte, weil man dann nämlich seiner historischen Verantwortung nicht nachkäme…) wurden als „Fakten“ noch einmal „festgehalten“. Chervel hatte wohl schon resigniert und hielt sich mit weiteren Plattitüden zurück.
 
Einige interessante Ansätze, aber…
 
Dabei hat es in den Diskussionsbeiträgen einige interessante Ansätze gegeben, die man hätte aufgreifen und diskutieren können, wenn es wirklich um die Frage des Festmachens von aktuellem Antisemitismus gegangen wäre. Etwa den Hinweis von Daniel Bax, Redakteur der taz, der als Interessierter im Publikum saß und darauf hinwies, dass es gar nicht stimme, dass alle sogenannten Nazi-Vergleiche verpönt würden und dass etwa auch ein Vergleich Saddam Husseins mit Hitler ein solcher sei, der den Nationalsozialismus relativiere. Das wäre ein interessanter Impuls zum Weiterdenken gewesen, denn in der Tat scheint es eine Reihe von „legal“ erachteten Nazi-Gleichsetzungen zu geben, wie etwa das Heraufbeschwören einer „Appeasement“-Politik oder beispielsweise im Kompositum „Islamo-Faschismus“ angedeutet, während andere Gleichsetzungen vehement skandalisiert werden. Woran aber macht sich die Akzeptanz auf der einen und die Ablehnung der für „illegal“ empfunden Nazi-Vergleiche auf der anderen Seite fest? Und was bedeutet der unterschiedliche Umgang mit der beobachtbaren Tatsache? Und wie wollen wir das in Zukunft gestalten?
 
…pauschalierende Formulierungen
 
Eine weitere Frage drängte sich angesichts der Tatsache auf, dass die Podiumsteilnehmer sogar Selbstverständlichkeiten in Frage stellten, indem sie genau das den sogenannten „Israelkritikern“ unterstellten – etwa in Bezug auf das „Existenzrecht“ Israels. Auch die Jüdische Allgemeine hat einen Beitrag unter diesem Schlagwort auf der Titelseite der aktuellen Ausgabe: Was kann die Folge sein, wenn die angeblichen Wohlmeiner Prämissen und Selbstverständlichkeiten so zur Disposition stellen? Und was richten pauschalierende Formulierungen wie „israelkritisch“ oder „anti-“ bzw. „pro-israelisch“ an? Den verschiedenen Menschen und Meinungen in Israel wird man mit derlei verallgemeinernden Formulierungen nicht gerecht, wie man ja an den Ausgangstumulten gut sehen konnte. Was aber bringt es, wenn man sich hinter vermeintlicher „Israelsolidarität“ verbirgt, statt zu bekennen, dass man für oder gegen diese oder jene Politik ist? Dass man eventuell sogar bereit ist, Menschen- und Völkerrecht zu ignorieren – angeblich aus Freundschaft.
 
Sind Infragestellungen von Selbstverständlichkeiten durch die Verteidiger der israelischen Politik nicht kontraproduktiv und gefährlich? Ja nahezu entlarvend in Bezug auf einen gangbaren Fortschritt, der nämlich nicht in der Entscheidungsfrage eines Richard Herzingers liegen kann, der in der genannten Jüdischen Allgemeinen fordert, man müsse sich endlich für eine Seite entscheiden? Nein, denn in der Tat wird es Frieden nur für alle oder für keinen geben und wenn angesichts der fortschreitenden Wirtschaftskrise einmal die Unterstützung für die aktuelle israelische Politik nachlässt, spätestens dann wird man sich auf eine zukunftsfähige Politik einstellen müssen, die die Menschenrechte aller gleichwertig anerkennt.
 
„Pro-palästinensisch“ gleichzeitig „pro-israelisch“
 
Dafür setzen sich ja gerade in Israel viele Gruppierungen ein, wie man an dem Statement von Frau Fruchtmann an dem Abend im Centrum Judaicum hätte hören können: Sie vertritt als Mitglied der jüdischen Gemeinde wie der Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost eine ganz klare völkerrechtliche Position und beschrieb das Gerede vom „strengeren Maßstab in Bezug auf Israel“ als Umkehrung dessen, was sie erlebt. Völker- und Menschenrecht würden nämlich ungleich härter anderswo eingefordert, als von den israelischen Regierungen. Ihre Sorge um das langfristige Fortbestehen dieses Staates war dabei durchaus spürbar. Und während sie bemängelte, dass es an der Zeit wäre, auch den Palästinensern ihr Existenzrecht und möglichst auch einen Staat zuzubilligen, schien durch, dass diese von einigen als „pro-palästinensische“ Äußerung abqualifizierte Haltung im Grunde gleichzeitig eine „pro-israelische“ ist.
 
Auf solche Diskussionen wollte man sich auf dem Podium wohl gar nicht einlassen oder man war, wie es schien, völlig überfordert mit dem Thema, dem heterogenen Publikum, den im Raum schwebenden Erwartungen und Enttäuschungen und dem stets gärenden Antisemitismusvorwurf. Beim Herausgehen hörte ich zwei ältere Damen streiten und die eine der anderen, die irgendetwas über Islam und Muslime gesagt hatte, antworten: „Der [Islam] ist ja schlimmer als der Faschismus!“ Ja, wenn das nicht Holocaust-Relativierung ist. Genau hieran müssen wir in zukünftigen Diskussionen ansetzen und neben den genannten Themen und Aspekten wird sich dann noch weiterer Klärungsbedarf aufdrängen – wie mindestens die längst in die wissenschaftliche Diskussion geratene Arbeitsdefinition „Antisemitismus“.
 
Verminte Themenfelder in Deutschland
 
Interessant wäre noch ein gar nicht aufgetauchter Aspekt gewesen: Die Klärung der Frage, ob Frau Hefets’ Äußerungen als Israelin durch den Kontextwechsel nach Deutschland erst richtig pikant oder gar gänzlich missverstanden wurden. Eine solche Beobachtung lässt sich im Mediendiskurs häufig machen. Eine Äußerung etwa wie die eines israelischen Soldaten, der sich erschrocken und öffentlich in israelischen Medien fragt, ob er vielleicht „Nazi-Methoden“ anwende, in den deutschen Kontext übertragen, bedeutet nun einmal hier etwas völlig anderes: nämlich Gleichsetzung, Relativierung und schließlich Holocaustleugnung in letzter assoziativer Konsequenz. Dessen muss man sich immer bewusst sein, wenn man etwa Israelis zitiert, die in Israel einen offeneren Umgang mit so manchem in Deutschland verminten Themenfeld gewohnt sind. Neugierde und echtes Interesse an dem Gemeinten, statt vorschneller Aburteilungen wären dann hilfreich und erkenntnisfördernd.
 
Manchmal drängt sich jedoch der Verdacht auf, als wolle man nicht zu verstehen suchen, klären und vorankommen. Und während man so vor sich hin diskutiert oder auch nicht, wie an besagtem Abend, so wird anderswo in der Welt Recht gebrochen und Menschen kommen zu Schaden. Solange wir die Menschen nicht alle – ausnahmslos – im Gefühl haben, wird es vermutlich weiterhin bei unproduktiven Scheingefechten bleiben. Was für ein „Luxus“!
 
Die Autorin Dr. Sabine Schiffer ist Medienwissenschaftlerin und Leiterin des Instituts für Medienverantwortung in Erlangen.
 
(1) Die Veranstaltung fand am 27. April 2010 statt
(2) Iris Hefets ist im Vorstand der "Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden" und arbeitet für das hebräische Internetportal www.kedma.co.il. Sie hat Israel vor acht Jahren aus politischen Gründen verlassen und lebt heute in Berlin.
 
Es ist Zeit, Tacheles zu reden!
Stellungnahme der israelischen “StörerInnen”
 
Nachdem in vielen Berichten zu dem Geschehnis letzten Dienstag im Zentrum der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, bestimmte Tatsachen bewusst verschwiegen wurden, fühlen wir uns dazu veranlasst diese Stellungnahme zu veröffentlichen. Letzten Dienstag wollten RepräsentantInnen der Jüdischen Gemeinde zu Berlin eine Veranstaltung mit dem Namen “Pilgerfahrt nach Auschwitz - Zum Umgang deutscher Medien mit Erinnerungskultur, Israelkritik und Antisemitismus” durchführen. Obwohl der Anlass zu dieser Veranstaltung ein Artikel der israelischen Autorin Iris Hefets war, der vor einigen Wochen in der taz veröffentlicht worden war, wurde sie nicht eingeladen.
 
Der Einladungstext und die Aussagen von MitarbeiterInnen der Jüdischen Gemeinde ließen von vornherein keinen Zweifel daran, dass es in dieser Veranstaltung um ein Tribunal gegen Iris Hefets und ähnliche kritische Stimmen aus Israel oder der jüdischen Gemeinden gehen sollte. Daher war es uns wichtig, klarzustellen, dass Iris Hefets nicht allein steht und die Thesen ihres Artikels ein Teil einer legitimen und notwendigen Diskussion nicht nur innerhalb Israels sind. Deswegen hielten wir Papierschilder hoch, auf denen stand „Wir sind alle Iris Hefets“ und versuchten, ihre Teilnahme auf dem Podium einzufordern.
 
Die hassgeladene Einführungsrede der Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Lala Süsskind übertraf in ihren persönlichen Diffamierungen gegen Hefets sogar unsere Befürchtungen und zeigte, dass es kein wirkliches Interesse an einer inhaltlichen Auseinandersetzung gab. Die Reaktion der VeranstalterInnen auf unseren friedlichen Protest machte uns darüber hinaus klar, dass die Anwesenheit von Israelis, die das von der Jüdischen Gemeinde gepflegte Bild von Israel in Frage stellen, von dieser nicht toleriert wird. Mehr noch: nachdem die von den VeranstalterInnen angeforderten Polizeikräfte eintrafen, fühlten wir uns gezwungen, als Menschen, die keine europäische Staatsbürgerschaft besitzen, den Saal zu verlassen.
 
In der Presseerklärung der Jüdischen Gemeinde und auch in anderen Medienberichten wurde die Tatsache, dass die „StörerInnen“ der Veranstaltung alle Israelis waren, merkwürdigerweise weggelassen. Dies überrascht uns noch mehr, da vergangene Presseerklärungen der Jüdischen Gemeinde und die allgemeine Berichterstattung in Deutschland immer gerne den Migrationshintergrund von Personen betonen, denen eine nicht-deutsche ethnische Zugehörigkeit unterstellt wird. Da wir selbst lautstark unseren Migrationshintergrund kundtaten, ist es umso verwunderlicher, dass dieser Fakt in so vielen Berichten unter den Tisch fiel. Es wirkt noch befremdlicher, dass der Titel der Presseerklärung der Jüdischen Gemeinde über die Geschehnisse lautet „Kein innerjüdisches Problem“. Sollte damit gemeint sein, dass israelische oder deutsche Juden, die eine andere Sichtweise über die Politik des Staates Israel haben, keine Juden seien? Oder dass wir kein Teil der jüdischen Gemeinschaft sind?
 
In Israel wird längst reflektiert und zu Recht kritisiert, wie die staatliche Erinnerung an den Holocaust zu einem politisches Instrument werden kann, welches Nationalismus und Militarismus rechtfertigt. Dutzende Filme, Theaterstücke, akademische Forschung und Diskussionen in der Zivilgesellschaft thematisieren diese Instrumentalisierung und setzen sich damit kritisch auseinander. Der Versuch der OrganisatorInnen der Veranstaltung, diese wichtige und notwendige Diskussion in Deutschland durch Antisemitismusvorwürfe zum Schweigen zu bringen, ist unerträglich. Er hinterlässt den Eindruck, dass sie eher daran interessiert sind, die Politik der israelischen Regierung zu decken, als den realen Antisemitismus und Rassismus in Deutschland zu bekämpfen.
 
Israelis gegen die Besatzung – Berlin, 30. April (PK)


Online-Flyer Nr. 248  vom 05.05.2010

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