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Aktueller Online-Flyer vom 10. Oktober 2024  

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Arbeit und Soziales
Arbeitszwang, immer weniger Rechte und immer geringere Löhne
Sklavenwirtschaft
Von Franz Kersjes

Die Arbeitswelt hat sich in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren erheblich verändert. Immer mehr Menschen sind von schlechteren Arbeitsbedingungen und Arbeitsplatzverlusten betroffen oder bedroht. Die Ziele der Konzerne und Unternehmerverbände sind klar: Tarifverträge und Gesetze zum Schutz der arbeitenden Menschen sollen ihre Verbindlichkeit verlieren,  damit sie den jeweiligen betrieblichen Bedürfnissen unterworfen werden können. Die bestehende Wirtschaftsordnung wird von Grund auf verändert. Das bedeutet für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer: weniger Schutz, weniger Rechte, Einkommensverluste und oft menschenunwürdige Arbeitsbedingungen.
Karikatur: Kostas Koufogiorgos
Cartoon: Kostas Koufogiorgos | www.koufogiorgos.de

Viele Politiker unterstützen die Forderungen von Unternehmern und Investoren, weil angeblich die Arbeitskosten in Deutschland zu hoch sind und die internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen bedroht ist. Eine stärkere Ausbeutung der abhängig Beschäftigten wird politisch und juristisch legalisiert. Im gleichen Maße, wie die Freiheitsrechte der Unternehmen wachsen, schwinden die sozialen Errungenschaften. Die Erpressungsmethoden der Unternehmen funktionieren: Die Angst vor dem Verlust von Arbeitsplätzen führt zur Entsolidarisierung in den Belegschaften und zur Entmachtung der Gewerkschaften.

Menschliche Arbeit nur als Kostenfaktor

Die Nachrichten, Berichte und Gesprächsrunden in den Medien über die angeblich notwendige „Erneuerung des Sozialstaates“ sind von einer unerträglichen Plattheit und Einseitigkeit der Argumente geprägt, weil eine kritische Recherche zu den Zielen und Absichten der Forderungen unterbleibt und über Alternativen  weder diskutiert noch überhaupt nachgedacht wird. Die Behauptung, zu den eingeleiteten Reformen gäbe es keine Alternative, ist absoluter Unsinn. Wer sich keine Alternativen mehr einfallen lässt, um sie wenigstens zu diskutieren, der kann kein Vertrauen in seine Politik erwarten und ist unfähig, die Zukunft unserer Gesellschaft zu gestalten. Wer menschliche Arbeit nur als Kostenfaktor bewertet, der treibt jede Volkswirtschaft in den Ruin. Es ist eine Binsenweisheit: Die Einkommen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind die entscheidende Voraussetzung für die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen. Wer das ignoriert, potenziert die Probleme. Wenn es nur noch um die Frage geht, wie die Verzichte der Beschäftigten zu gestalten seien, dann muss jede gewerkschaftliche Verhandlungsbereitschaft ihr Ende haben.

Immer mehr Unternehmen ohne Tarifbindung

Viele Firmen haben bereits in den vergangenen Jahren den zuständigen Unternehmerverband verlassen und versucht, sich von der Tarifbindung zu befreien. Die Unternehmerverbände sind unter Druck geraten und bieten ihren Mitgliedsbetrieben einen Wechsel in eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung an. Seit über einem Jahrzehnt steigt die Tarifflucht in vielen Branchen erheblich an. Aufgrund der mangelnden Kampfbereitschaft der Belegschaften gelang es den Gewerkschaften in den meisten Fällen jedoch nicht, wenigstens Firmentarifverträge abzuschließen. Inzwischen fallen in Westdeutschland nur noch 39 Prozent der Betriebe unter eine Tarifbindung, im Osten sind es nur noch 24 Prozent. In zahlreichen Tarifbereichen besteht bereits seit Jahren ein tarifloser Zustand. Von 1991 bis 2008 ist die Zahl der allgemeinverbindlichen Tarifverträge von 622 auf 463 gesunken. Nur noch rund 1,5 Prozent aller Tarifverträge sind allgemeinverbindlich. Anfang der 1990er Jahre waren es noch 5,4 Prozent.

Mehr Leistung für weniger Geld  

In Tarifverhandlungen haben Unternehmer immer wieder damit gedroht, nur dann neue Tarifverträge abzuschließen, wenn ihre Forderungen berücksichtigt werden. Sie fordern vor allem Öffnungsklauseln bei der Arbeitszeit und bei den tariflichen Einkommen der Beschäftigten. Die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit soll bei Bedarf für Arbeitnehmergruppen, für einzelne Abteilungen oder für den ganzen Betrieb durch Betriebsvereinbarungen ohne Lohnausgleich erhöht werden. Der Samstag wurde derweil oft als Regelarbeitstag wieder eingeführt.

Die meisten Unternehmen versuchen über die Reduzierung der Kosten ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und zu verbessern. Mit Personalabbau und erhöhtem Leistungsdruck für die verbliebenen Beschäftigten sollen Umsatzverluste kompensiert und Renditen gesichert werden. Täglich werden Betriebsräte und Belegschaften gezwungen, auf tarifliche und soziale Leistungen zu verzichten, weil angeblich nur dadurch Arbeitsplätze gesichert und vielleicht neue geschaffen werden können. Aber solche Versprechungen schaffen und sichern grundsätzlich keine Arbeitsplätze.

Die Ausbeutung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wächst ständig und ist unerträglich geworden. Der erpresserische Druck auf die Beschäftigten in den Betrieben, auf ihre Rechte zu verzichten, ist fast zum Regelfall geworden und hat weitgehend unvorstellbare Ausmaße angenommen. Die Angst der Erwerbstätigen vor dem Verlust des Arbeitsplatzes lähmt bei ihnen jede Form von Widerspruch oder gar Widerstand. Laut einer Umfrage der Hans-Böckler-Stiftung arbeiten beispielsweise in 84 Prozent der Betriebe die Beschäftigten erheblich mehr als sie bezahlt bekommen. Würden sie vereinbarungsgemäß pünktlich Feierabend machen, müssten rund eine Million Arbeitslose zusätzlich eingestellt werden.

Mit Billiglöhnen Exportüberschüsse erzielen

Kürzlich kritisierte Frankreichs Finanzministerin Christine Lagarde die deutsche Exportwirtschaft. Denn die hohen Ausfuhrüberschüsse gehen zulasten anderer EU-Staaten. Deutschland spare durch seine Lohnzurückhaltung und die dadurch hohe Produktivität seiner Industrie die europäische Konkurrenz kaputt. Die Bundesrepublik produziere fortdauernd Überschüsse in der Leistungsbilanz was spiegelbildlich zu einem hohen Kapitalexport, leeren Geldbeuteln bei den Arbeitnehmern und zu einem massiven Lohndruck in anderen EU-Staaten führe. Lagarde fordert, die Deutschen sollten endlich ihre Binnenkonjunktur ankurbeln, anstatt nur einseitig auf Export zu setzen. Ökonom Gustav Horn vom Forschungsinstitut IMK sagt: „Die Kritik ist vollkommen gerechtfertigt. Mich wundert, dass sie nicht früher gekommen ist.“ Deutschland habe viele Jahre einseitig auf den Export gesetzt, fügte er hinzu. „Und zwar auf einen Export, bei dem wir in Europa mit Billiglöhnen agiert haben.“

Die Lohnstückkosten sind in Deutschland in der Zeit von 2000 bis 2008 nur um 2,7 Prozent gestiegen. Im Durchschnitt der Euro-Zone dagegen um 17 Prozent! Die Lohnquote ist in keinem europäischen Land derart gesunken wie in Deutschland. Von 2000 bis 2008 fiel der Lohnanteil am Volkseinkommen um elf Prozent. Demgegenüber stieg im gleichen Zeitraum der Anteil aus Unternehmensgewinnen und Zinseinkünften am Volkseinkommen von 28 auf 39 Prozent. Etwa 6,5 Millionen Menschen arbeiten zurzeit im Niedriglohnbereich. Davon etwa zwei Millionen mit einem Stundenlohn von weniger als fünf Euro. Rund 1,3 Millionen Erwerbstätige erhalten von ihrem Unternehmer einen viel zu geringen Lohn, so dass sie zu den Bedürftigen mit einem Anspruch auf Unterstützung durch Hartz IV gehören.

Atypische Erwerbsformen sind von 6,4 Millionen im Jahr 1996 auf 9,8 Millionen im Jahr 2008 gestiegen. Zur Gruppe der atypisch Beschäftigten gehören Teilzeitbeschäftigte, befristet und geringfügig Beschäftigte sowie Zeitarbeitnehmer/innen. Auch 11,1 Prozent der unbefristet Beschäftigten in so genannten Normal-Arbeitsverhältnissen werden inzwischen für einen Niedriglohn beschäftigt. Immer häufiger werden Stammbelegschaften reduziert, und den entlassenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wird die Fortsetzung ihrer bisherigen Tätigkeit über eine Zeitarbeitsfirma zu wesentlich schlechteren Bedingungen angeboten. Und aus diesem Ghetto kommt kaum noch einer raus.

Einen gesetzlichen Mindestlohn lehnt die Bundesregierung ab. Es sei Sache der Tarifvertragsparteien, über Mindestlöhne zu verhandeln. Tatsache aber ist: Die Unternehmer und ihre Verbände weigern sich immer öfter, sich überhaupt noch auf Tarifverhandlungen einzulassen.

Kündigungsschutz vollkommen aushöhlen?

Die Zahl der befristeten Arbeitsverträge ist deutlich gestiegen. Im Vergleich von 1996 zu 2008 stieg die Zahl der Teilzeitbeschäftigten von 3,2 auf 4,9 Mio. (+53 %), die Zahl der befristet Beschäftigten von 1,8 auf 2,7 Mio. (+50%), die Zahl der geringfügig Beschäftigten von 1,1 auf 2,6 Mio. (136 %) und die Zahl der Zeitarbeitnehmer/innen von 0,2 auf 0,6 Mio. (+200 %). Jeder 11. Beschäftigte besitzt heute nur noch einen befristeten Vertrag. Vor allem junge Menschen sind betroffen. Nur eines wird immer seltener: die ganz normale Stelle – unbefristet und sozialversichert. Vollzeit ohne Leiharbeitgeber.

Wie aus Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit hervorgeht, stieg der Anteil der befristeten Verträge an den Neueinstellungen von 32 Prozent im Jahre 2001 auf 47 Prozent im ersten Halbjahr 2009. Damit nicht genug. Die Bundesregierung will wieder einmal den Unternehmern bei der rechtlichen Absicherung ihrer Interessen helfen. Der Abschluss befristeter Arbeitsverträge soll erleichtert werden. Derzeit ist ein Gesetzentwurf in Vorbereitung, der letztlich den Kündigungsschutz vollkommen aushöhlen kann. Zukünftig soll es wieder möglich sein, unbegrenzt häufig ohne sachlichen Grund einen befristeten Arbeitsvertrag mit demselben Betrieb abzuschließen. Zwischen zwei Verträgen muss lediglich eine Frist von einem Jahr liegen. Das Jahr Pause zwischen den beiden Verträgen lässt sich jedoch leicht umgehen: Ein Erwerbstätiger wird beispielsweise im Konzern A für zwei Jahre befristet beschäftigt. Anschließend wird er für ein Jahr in einem Tochterunternehmen eingestellt. Und dann beginnt das Ganze von vorn. So könnten Beschäftigte jahrelang im selben Konzern arbeiten, ohne dass für sie jemals der Kündigungsschutz gilt.

Kapitalinteressen verdrängen den Sozialstaat

Die Arbeitslosigkeit ist in Deutschland erheblich größer als statistisch ausgewiesen. Die Kluft zwischen jenen, die nach den gesetzlichen Vorgaben als arbeitslos registriert sind, und jenen, die ebenfalls Arbeit suchen, aber durch das Definitionsraster fallen, weil sie sich in einer Weiterbildungsmaßnahme befinden, ist groß. Beide Gruppen zusammen gelten in der Nomenklatur der Bundesagentur für Arbeit als „unterbeschäftigt“. Legt man diesen Maßstab zur Messung von Arbeitslosigkeit an, waren im März nicht 3,568 Millionen, sondern 4,731 Millionen Menschen arbeitslos und damit rund 143.000 mehr als im Vorjahr. Nach wie vor entlastet auch die Kurzarbeit die Statistik. Durchschnittlich waren im ersten Quartal 2010 rund 850.000 Arbeitnehmer/innen betroffen. Gestiegen ist im März auch die Zahl der Langzeitarbeitslosen, die länger als ein Jahr ohne Beschäftigung sind, auf 970.000. Insgesamt waren im März nach Angaben des Deutschen Landkreistages 6,6 Millionen Menschen auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen.

Mehr Arbeitslose, weniger Löhne

Etwa fünf Millionen Menschen suchen nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit einen Job gegen Bezahlung. Und es dürften noch viel mehr sein, wenn man Hunderttausende Arbeit suchende Jugendliche hinzuzählt, die nirgendwo erfasst sind. Wer arbeitslos wird, ist nach Auffassung vieler Politiker und selbsternannter „Experten“ meist selber schuld. Arbeitslose werden als Faulenzer und Arbeitsverweigerer beschimpft und sollen zur Arbeit gezwungen werden. Wer sich als Hartz-IV-Empfänger weigert, Arbeit auch zu miserablen Bedingungen anzunehmen, wird von den Arbeitsbehörden mit Leistungskürzungen von mindestens 30 Prozent der Regelleistung für drei Monate bestraft. Mit sinkenden Löhnen in den Betrieben werden Forderungen aus CDU und FDP zur Kürzung von sozialen Leistungen begründet. Auch manche Ökonomen fordern, die Hartz-IV-Sätze müssten sinken, damit sich die Menschen einen Job suchen. Doch die staatliche Unterstützung ist bei weitem nicht zu hoch. Die Löhne und Gehälter in den Betrieben sind zu niedrig! In Wahrheit sollen weitere Steuerentlastungen für Unternehmen und Kapitalbesitzer durchgesetzt und durch geringere Sozialleistungen finanziert werden.

Auf dem Weg in die Barbarei

Zu fragen ist nach den Ursachen für die entstandene negative wirtschaftliche Situation. Haben etwa die abhängig Beschäftigten, die Arbeitslosen und die Aufwendungen für staatliche Sozialleistungen die Probleme verursacht? Oder war es nicht die Geldgier der Kapitalbesitzer, die das System ins Wanken gebracht hat? Ein Beispiel: Während für Hartz-IV-Leistungen im Jahr 2009 Kosten in Höhe von 36 Milliarden Euro entstanden sind, spricht kaum noch jemand darüber, dass satte 480 Milliarden Euro für die Rettung der Banken allein in Deutschland bereitgestellt wurden. Nicht die Bezahlung von Arbeit war und ist zu teuer und macht unsere Gesellschaft arm, sondern Steuersenkungen für Kapitalbesitzer und ihre wachsenden Renditeerwartungen. Und solange sich das nicht grundlegend ändert, wird die Armut und Verzweiflung in großen Teilen unseres Volkes weiter dramatisch zunehmen. Deshalb muss der aktive Widerstand gegen die herrschende Politik zugunsten der Kapitalbesitzer erheblich stärker werden und zu einer demokratischen Wirtschaftsordnung führen. Sonst führt uns diese Politik in die Barbarei. (PK)

Lesen Sie auch den DGB-Artikel des Autors in dieser NRhZ

Online-Flyer Nr. 245  vom 14.04.2010

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