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Globales
Wahnsinnige reißen den Planeten in den Abgrund
Zieglers heiliger Zorn
Von Hans Steiger

Für die Vereinten Nationen befasste sich Jean Ziegler mit dem Hunger und den fehlenden Menschenrechten in der Welt. Und längst hätte er für seinen Einsatz den Friedensnobelpreis verdient. Nun mündet seine bittere Bilanz in die fast verzweifelte Hoffnung, dass der verständliche Hass des Südens auf den Westen zur rationalen Kraft wird.

„Erniedrigung, Ausgrenzung, Furcht vor dem Morgen sind das Schicksal hunderter Millionen Menschen. Besonders in der südlichen Hemisphäre. Für ihre Völker sind die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Charta der Vereinten Nationen nur hohle Phrasen“, erbost sich Ziegler. Wie lassen sich der in Jahrhunderten gewachsene Hass des Südens entschärfen, der Westen zur Wahrnehmung seiner Verantwortung bringen, der globale Dialog aufrechterhalten? „Wie lässt sich eine Weltgesellschaft schaffen, die versöhnt und gerecht ist, die die Identität, die Erinnerungen und das Lebensrecht eines jeden Menschen achtet?“ Als einen Beitrag zur Antwort auf diese großen Fragen versteht Jean Ziegler sein neues Buch. Wir müssten „der Tragödie ein Ende setzen“, sonst werden Wahnsinnige unseren Planeten mit in den Abgrund reißen, warnt er.


Jean Ziegler vor dem Audimax in Wien im November 2009
Foto: Manfred Werner

Erbe des Kolonialismus

Das klingt pathetisch, fast vermessen im Anspruch. Doch es ist der Weltlage angemessen. Eine tiefe Sorge, dass wir die Chance zur Neuordnung verspielen, durchzieht den Text. Der durch vergangene und gegenwärtige Verbrechen eines selbstgerechten Westens provozierte Hass lähme heute die Arbeit der Vereinten Nationen. Exemplarisch schildert Ziegler das Scheitern der Weltkonferenz gegen Rassismus in Durban. Dort sollte auch das dunkle Erbe des Kolonialismus aufgearbeitet werden. Abdelaziz Bouteflika betonte – als einer der Staatschefs des Südens – dass „ohne Rachsucht“ angesprochen werden müsse, „was die einen erlitten und die anderen verübt haben“. Auf dieser Basis wäre Wiedergutmachung anzustreben, wären „die Funktions- und Gleichgewichtsstörungen eines Systems“ zu beseitigen, „das unbarmherzig auch weiterhin den Mächtigsten zu noch mehr Reichtum verhilft und die Schwächsten in alle Ewigkeit zum Elend verurteilt“. Darauf wurde in den Delegationen der Franzosen, Belgier, Briten, wie Ziegler berichtet, mit Hohn und Spott reagiert. Bouteflika habe mit diesem Paukenschlag nur versucht, die Aufmerksamkeit der algerischen Bevölkerung von der Not in seinem Land abzulenken und sie auf die verteufelten Feinde zu richten. Gedächtnisarbeit? Reue? Alles nur eine politische Erpressung, um dem Westen finanzielle und wirtschaftliche Zugeständnisse abzuringen! „Das roch verdächtig nach kolonialer Verachtung.“ Statt eines Dialoges, wie ihn Kofi Annan erhofft hatte, hagelte es Beleidigungen und Vorwürfe. „Türen knallend verließen Delegierte den Saal, kamen zurück, brüllten, gingen wieder.“ Später wurde an einer Folgekonferenz in Genf keines der Konfliktthemen auch nur erwähnt; die Schlussresolution blieb „ein Monument sinnentleerter, realitätsblinder Diplomatie“.

„Zivilisation“ und „Fortschritt“?

Das Kapitel „Sarkozy in Afrika“ entlarvt mit kommentierten Originalzitaten die unglaubliche Ignoranz eines Repräsentanten unserer Weltregion. 2007 wandte sich der französische Staatspräsident im Audimax einer Universität in Dakar mit einer Rede an die Jugend des Kontinents. Es habe unter den Kolonialisten auch schlechte Menschen gegeben, räumte er ein. Andere aber wollten das Gute befördern. Sie „glaubten, eine zivilisatorische Mission zu erfüllen“. Das wollte offenbar auch Sarkozy bei seinem Auftritt: „Das Drama Afrikas liegt darin, dass der afrikanische Mensch noch nicht genügend in die Geschichte eingetreten ist. Der afrikanische Bauer, der seit Jahrtausenden mit den Jahreszeiten lebt, dessen Lebensideal der Einklang mit der Natur ist, kennt nur die ewige Wiederkehr der Zeit, die von der ewigen Wiederholung der gleichen Gesten und gleichen Worte geprägt ist.“ In dieser Vorstellungswelt sei jedoch „kein Platz für das menschliche Abenteuer, für die Idee des Fortschritts“, und genau dies, „gestatten sie einem Freund Afrikas, das zu sagen“, sei das Problem. Dann habe Sarkozy „vor einem fassungslosen Publikum“ noch sein Agrarrezept zum Besten gegeben: „Wollt ihr, dass auf afrikanischem Boden nie mehr ein Kind verhungert? Dann bemüht euch um eine selbst-versorgende Landwirtschaft.“ Bei deren Entwicklung werde Frankreich helfen. Doudou Diene, ein senegalesischer Intellektueller, der sich für die Vereinten Nationen mit zeitgenössischen Formen des Rassismus befasst, stellte „mit flammendem Zorn“ fest, diese Rede habe „eine tiefe Kränkung“ verursacht. In seiner Argumentation folge Sarkozy direkt dem rassistischen Schrifttum früherer Jahrhunderte. Diene sei „einer der maßvollsten, sanftmütigsten Menschen“, den er kenne, ergänzt Ziegler. Er teilt dessen Zorn.

Ausgerechnet der Vertreter eines der reichen OECD-Staaten, die mit ihrer Agrar-Dumpingpolitik „systematisch die Nahrungsmittel produzierende Landwirtschaft Afrikas“ zerstören, tritt als großer Lehrmeister auf! „Und ein paar Kilometer weiter arbeitet der Wolof-, Tukuleur- oder Bambara-Bauer täglich zwölf Stunden unter glühender Sonne mit seiner Frau und seinen Kindern, ohne die geringste Aussicht auf ein erträgliches Existenzminimum zu haben.“

Bolivien – eine Hoffnung

Ziegler, der sich vom Verlag zuerst als „Bürger der Republik Genf“ vorstellen lässt und die Maschinerie der Vereinten Nationen bestens kennt, weiß um seine Privilegien. Er nutzt sie als Anwalt der Armen, deckt Manöver der Mächtigen auf, setzt auf Bewegungen von unten. Personen zeigt er stets in ihren gesellschaftlichen Rollen. Dies zuweilen mit schneidender Schärfe, oft aber auch mit spürbarer Liebe, neben notwendiger Distanz differenziert. 


Quelle: C. Bertelsmann-Verlag
Jean Ziegler zu seinem Buch:
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Seine konsequente Solidarität mit den Schwächeren im Süden wird nie unkritisch. Eliten kooperieren global und Korruption gehört zum Kapitalismus, den er klar für das Kernproblem hält. Hoffnungsvoll sind für ihn Entwicklungen wie die in Bolivien, wo mit der Wahl von Evo Morales ein neues Identitätsbewusstsein erwacht sei. „Morales hat einen historischen Bruch mit der kannibalischen Weltordnung vollzogen und dem Westen eine bittere Niederlage zugefügt.“ Das strahle auf den ganzen Kontinent aus, gebe Kraft für weiteren Widerstand und für ungeahnte schöpferische Leistungen. Aber auch hier sei „ein genaues Mass anzulegen. Ist die fortwährende Aufwertung indigener Politik und Kultur, geboren aus dem Hass auf den Westen, mit den universellen Rechtsgrundsätzen vereinbar?“, fragt er.
 
Eine der stärksten Passagen ist die Schilderung der Eindrücke vom 1. Mai-Fest des Jahres 2007 in La Paz, ein Jahr nach dem Entscheid, die Kontrolle der Bodenschätze und damit der Reichtümer des Landes zum besseren Nutzen für die Bevölkerung zu übernehmen. Morales blickte auf den entscheidenden und wohlvorbereiteten Schritt zurück, dankte Freunden in Norwegen, Algerien und Venezuela: „Sie haben uns geholfen, gute Verstaatlichungsverträge aufzusetzen“. Und dann gedachte er der Märtyrer, die in Bolivien und anderswo im Kampf „gegen die Invasoren, die Zinnbarone und gegen den Sechzehn-Stunden-Tag“ gestorben waren. „Unvermittelt verstummt der Präsident. Andächtig verharrt die Menge. Kein donnernder Applaus.“ Da geht es wieder um die „heilige Wunde“, welche – als Zitat von Aime Cesaire – schon in der ersten Zeile den Ton des Buches bestimmt.
 
Einen langen, blutigen Krieg hat der expandierende Kapitalismus geführt. Und der geht weltweit weiter. Fanatismus und Rassismus sind nicht verschwunden. Auch in Bolivien bleibt die Lage ernst, wie das letzte Kapitel mit Blick auf den Hintergrund separatistischer Strömungen und die Ungeduld der eigenen Bewegung zeigt. Als eine junge Frau wissen wollte, was der Weiße neben ihr von ihrem Präsidenten und dessen Rede halte, habe er „mit der etwas lächerlichen Feierlichkeit des gesetzten europäischen Sozialdemokraten“ gesagt, dieser l . Mai in La Paz sei der schönste in seinem Leben gewesen. „Ein armer Mensch wie wir, ein Bauer“, sei jetzt Präsident und er habe „dem Imperialismus getrotzt“, erwiderte sie mit gesenkten Augen. „Eine verstohlene Handbewegung. Dann verschwindet sie in der Menge.“ (HDH)

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JEAN ZIEGLER
Der Hass auf den Westen
Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren
Originaltitel: La Haine de l'Occident
Originalverlag: Éditions Albin Michel, Paris 2008
Aus dem Französischen von Hainer Kober
DEUTSCHE ERSTAUSGABE
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 288 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-570-01132-4
€ 19,95 [D] | CHF 34,90 (UVP)Unverbindliche PreisempfehlungVerlag: C. Bertelsmann
Erscheinungstermin: Sept. 2009



Online-Flyer Nr. 229  vom 23.12.2009

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