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Aktueller Online-Flyer vom 28. April 2024  

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Inland
Bremer Anwalt kann 179 zivile Opfer des Angriffs in Kundus beweisen
“Partisanenkrieg“
Von Hans Georg und Peter Kleinert

Nach dem jüngsten Vertuschungsskandal im Bundesverteidigungsministerium fordern Militärkreise eine bessere Einstimmung der Öffentlichkeit auf zivile Kriegsopfer in Afghanistan. Dass der Luftangriff auf einen Tanklaster in Kunduz Zivilisten zu Tode gebracht habe, sei "von Anfang an klar" gewesen, erklärt ein Dozent an der Münchener Bundeswehr-Universität. Zivile Opfer lägen "im Wesen des Partisanenkriegs" begründet. Dies dürfe nicht verschleiert, sondern müsse "der Öffentlichkeit offen erklärt" werden, um Kritik und ähnlichen Skandalen nach künftigen Ziviltoten vorzubeugen.

Rechtsanwalt Karim Popal (rechts) mit seiner
Frau, Rechtsanwältin Afet Popal, und seinem 
Kollegen RA Eckart Schneider 
Quelle: www.anwalt.de/kanzlei-popal
Welche Folgen der Versuch des Bundesverteidigungs- ministeriums, das offenkundige Kriegsverbrechen zu verschleiern, über den Rücktritt des Generalinspekteurs der Bundeswehr und eines Staatssekretärs hinaus hat, ist offen. Die Tatsache, dass das Ministerium einen einschlägig relevanten Bericht der Feldjäger vor den Justizbehörden verborgen habe, erfülle zumindest den Tatbestand der Strafvereitelung, ist im Hinblick auf den damaligen Minister Franz Josef Jung zu hören. Unabhängig davon will der Bremer Rechtsanwalt Karim Popal Beweise vorlegen, denen zufolge sich die tatsächliche Zahl ziviler Opfer auf 179 beläuft. Er vertritt 78 Familien afghanischer Opfer.
 
Das Feldjäger-Papier
 
Der Bericht der deutschen Feldjäger über das Massaker von Kunduz, dessen Inhalt in Auszügen über die Presse der Öffentlichkeit bekannt wurde, geht nicht wesentlich über den bisherigen Kenntnisstand hinaus. So dokumentiert der Bericht zahlreiche zivile Verletzte, darunter Jugendliche, die kurz nach dem Massaker im Krankenhaus von Kunduz behandelt wurden; dort habe man auch Leichen von Kindern gesehen, die als Opfer des Luftschlags eingestuft wurden. Auch bestätigt der Bericht, dass die Aufklärungsbilder, die von US-Flugzeugen geliefert wurden, eine Unterscheidung von Zivilisten und Kombattanten nicht zuließen - ein hinlänglich bekannter Sachverhalt, der nicht nur beim Angriff auf den Tanklaster verheerende Folgen hatte. Schließlich bekräftigt das Dokument, dass der V-Mann der deutschen Militärs, der als Zeuge dafür genannt wird, dass sich angeblich nur Aufständische bei den Tanklastern aufhielten, keinen Sichtkontakt zu den Fahrzeugen hatte. Es sei "offensichtlich" gewesen, "dass der Bombenabwurf zu zahlreichen Toten und Verletzten führen wird bzw. geführt hat, ohne dass unmittelbar vor und nach dem Vorfall adäquat gehandelt wurde", heißt es in dem Feldjäger-Papier.[1]
 
Wegbegleiter
 
Wegen des offenkundigen Widerspruchs zwischen den Verlautbarungen des Bundesverteidigungsministeriums und den Tatsachen, die nach Auskunft des Feldjäger-Berichts dem Ministerium schon früh bekannt waren, sind zwei Militärs von ihrem Amt zurückgetreten, die den Umbau der Bundeswehr zur weltweit intervenierenden Kampftruppe über lange Jahre begleitet hatten. Wolfgang Schneiderhan war von 2000 bis 2002 als Leiter des Planungsstabes im Verteidigungsministerium tätig; während dieser Zeit wurde die Intervention der Bundeswehr in Afghanistan in die Wege geleitet. Vom 1. Juli 2002 an begleitete Schneiderhan den Afghanistan-Einsatz als Generalinspekteur der Bundeswehr. Oberstleutnant der Reserve Peter Wichert hatte den Posten des Staatssekretärs im Verteidigungsministerium bereits seit 1991 inne; in den frühen 1990er Jahren wirkte er an den Weichenstellungen für die "Transformation" der Bundeswehr mit. Im Jahr 2000 erstmals entlassen, kehrte er 2005 auf den Posten zurück, bis er ihn nun erneut räumen musste. Schneiderhan und Wichert befanden sich kurz vor dem Ruhestand.
 
Rechtfertigen statt leugnen
 
Militärkreise werfen beiden sowie dem ehemaligen Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung vor, beim Umbau der Bundeswehr zur globalen Interventionsarmee nicht offensiv genug in der Öffentlichkeit für den Krieg geworben zu haben. Wie etwa Michael Wolffsohn, Professor an der Münchener Bundeswehr-Universität, urteilt, sei "das schlechte Image" der Streitkräfte auch dadurch zu erklären, "dass weder die deutsche Politik noch die Bundeswehrführung der deutschen Öffentlichkeit das Wesen des Partisanenkriegs erklärt hat". Im "Partisanenkrieg", wie er zurzeit in Afghanistan geführt werde, seien jedoch tote Zivilisten praktisch nicht zu vermeiden, legt Wolffsohn nahe. So sei es zum Beispiel "von Anfang an klar" gewesen, "dass es zivile Opfer bei jenem Angriff" am 4. September bei Kunduz "auf die Taliban-Partisanen gegeben haben muss".[2] Der Bundeswehr-Professor meint in Berlin nun Tendenzen zu offensiverer PR-Tätigkeit für den "Partisanenkrieg" zu erkennen. Verteidigungsminister Guttenberg hatte kürzlich das Bombardement von Kunduz trotz der Ziviltoten für "angemessen" erklärt [3] - ein Hinweis auf die von Wolfssohn geforderte Strategie, tote Zivilisten nicht mehr zu leugnen, sondern sie zu rechtfertigen.
 
Anzeige gegen Jung
 
Welche unmittelbaren Folgen der Versuch des Verteidigungsministeriums, die Aufklärung des Massakers zu behindern und den Feldjäger-Bericht zu verbergen, über den Rücktritt des Bundeswehr-Generalinspekteurs und eines Staatssekretärs hinaus hat, ist noch offen. Gegen den ehemaligen Verteidigungsminister Franz Josef Jung ist bereits Anzeige wegen Strafvereitelung im Amt erstattet worden; Jung schützt vor, den Feldjäger-Bericht - immerhin einen Untersuchungsbericht der ihm damals unterstellten Militärpolizei zu einem der heikelsten Themen der letzten Monate - dem Inhalt nach überhaupt nicht zur Kenntnis genommen zu haben und auch keine Verantwortung dafür zu tragen, dass er der Justiz nicht zur Verfügung gestellt wurde. In Bedrängnis bringt der Bericht zudem die Generalbundesanwältin, die eigentlich selbst Ermittlungen aufzunehmen hat, sollte auch nur ein Anfangsverdacht für ein Kriegsverbrechen vorliegen. Ein solches ist aber im Falle des deutschen Obersts Georg Klein, der den Luftangriff angefordert hat, nicht mehr zu leugnen.
 
Nicht der letzte
 
Unabhängig davon will der aus Afghanistan stammende Bremer Rechtsanwalt Karim Popal Beweise vorlegen, dass die Zahl der zivilen Opfer des Massakers sich tatsächlich auf 179 beläuft - darunter rund 20 Verletzte und 20 Verschollene - also 137 Tote, darunter viele Kinder und Jugendliche. Popal vertritt gemeinsam mit drei Kollegen 78 afghanische Familien, die Opfer zu beklagen haben. Durch den Angriff auf die Tanklaster sind nach seinen Recherchen 91 Frauen zu Witwen und 163 Kinder zu Waisen geworden. Fotos, Filme, Zeugenaussagen, Filmmaterial, die er bei bisher drei Reisen nach Afghanistan gesammelt hat, dazu Recherchen bei afghanischen Menschenrechtsorganisationen und bei der UNO würden diese Zahlen beweisen, während die Bundesregierung bisher von 30 bis 40 zivilen Opfern sprach.

Der Tag des Bombardements lag im Ramadan, dem islamischen Fastenmonat. Gegen Abend seien, so der Anwalt, fünf bewaffnete Taliban in der regionalen Moschee aufgetaucht und hätten die Betenden aufgefordert, ihnen beim Abzapfen und Abtransportieren des Treibstoffs aus den zwei umgestürzten, nicht mehr fahrbaren Tanklastzügen zu helfen. Sie dürften sich aber auch selbst mit Benzin versorgen. Dadurch hätten sich zeitweise etwa 800 bis 1.000 Kinder, Frauen und Männer in der Nähe der Fahrzeuge befunden, wie auch der Pilot gemeldet habe, der anschließend trotzdem den Befehl zum Bombardieren bekam.

Außergerichtliche Einigung?
 
Rechtsanwalt Popal, der diese Recherchen aus Mitleid mit den Hinterbliebenen durchführt, weil sie ihn dafür natürlich nicht bezahlen können, strebt zunächst eine außergerichtliche Einigung auf eine Entschädigung für die Familien an und wird mit dieser Forderung von 30 afghanischen Parlamentsabgeordneten unterstützt. Er gibt dem Verteidigungsministerium dafür jedoch nur noch bis Ende dieser Woche Zeit, nachdem er bis zum vergangenen Donnerstag keine Stellungnahme dazu erhalten hat. Danach will er auf Schadensersatz klagen.[4]

Zuletzt hatten Opfer der NATO-Attacke auf die jugoslawische Kleinstadt Varvarin vom 30. Mai 1999 gegen die deutsche Regierung geklagt - ohne Erfolg.[5] Sollte Popal wegen des Massakers von Kunduz vor Gericht ziehen, wäre das der zweite größere Prozess wegen deutscher Kriegsverbrechen seit dem Neubeginn der deutschen Kriegstätigkeit in den 1990er Jahren - und aller Voraussicht nach nicht der letzte. (PK)
 
[1] Hat Minister Jung die Wahrheit verschwiegen?; Bild 26.11.2009
[2] "Die Bundeswehr muss Offenheit lernen"; Welt Online 26.11.2009
[3] Guttenberg nennt Luftangriff "angemessen"; netzeitung.de 06.11.2009
[4] In der Aufklärung; Tagesspiegel 27.11.2009
[5] s. dazu "Kriegsverbrechen"
 
Dieser um einiges ergänzte Bericht erschien zuerst bei www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/57680

Online-Flyer Nr. 226  vom 02.12.2009

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