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Inland
Vom Verlierer nicht lernen, heißt verlieren lernen
Ohne Osten kein Westen
Von Dr. Heinrich Senfft

Es ist gut für die Deutschen in West und Ost, dass sich die früheren Bewohner der DDR seit einer Weile gegen die Besatzer- und Siegerpolitik der Westdeutschen zu wehren beginnen und mehr und mehr Bücher zu diesem Thema erscheinen. Eine der Vorkämpferinnen ist Daniela Dahn; schon 1996 erschien ihr Erfolgsbuch „Westwärts und nicht vergessen“. Damals wurde sie im letzten Kapitel etwas optimistisch und schwärmte von den unabhängigen Gerichten, der Rechtssicherheit und vom „Sich-Einmischen-Können“, das zu den „vereinigungsbedingten Errungenschaften“ gehöre, „die ausgesprochenes Behagen bereiten“.

Buchautorin und Journalistin Daniela Dahn
Quelle: www.weisseritzkreis.net
2009 ist Daniela Dahn auch das partielle Behagen gründlich vergangen. Sie hat, obwohl von „drüben“, ohne Schaum vor dem Mund ein vorzügliches Buch geschrieben, das sich in erster Linie mit der These beschäftigt: „Vom Verlierer nicht lernen, heißt verlieren lernen“.

Aber wie sollten die alten Bundesrepublikaner etwas lernen können oder wollen, da sie von der DDR doch fast gar nichts wussten, nichts wissen wollten, und von „Wiedervereinigung“ nur sprachen, weil sie sicher waren, dass sie nicht kommen würde? Als sie dann aber doch über Nacht kam, belehrten sie die in der „Zone“, wie sie 45 Jahre hätten leben sollen – für sie hatte die DDR in all diesen Jahren fast nur aus Stasi und SED-Terror bestanden, nicht aber auch als ein Land, in dem es dies zwar gab, aber auch ein ganz normales Leben.

Daniela Dahn stellt schon bald fest, dass „der Osten mit Charakterisierungen wie ‚totalitäre Diktatur’ und ‚Unrechtsstaat‘“ nicht hinlänglich beschrieben sei und die Nostalgie vieler Ostdeutscher damit zu tun habe, dass sich der Traum vom Westen nicht erfüllt hat, dass fast alle Argumente der Westdeutschen der Unkenntnis und dem ideologischen Antikommunismus entstammen. Dahn zitiert auch die FAZ: „Manchem wird erst jetzt bewusst, wie sehr die Konkurrenz des Kommunismus, solange sie bestand, auch den Kapitalismus gebändigt hat“, und erwidert: „Kaum ist das Gespenst des Kommunismus aus dem Haus, tanzt die Bourgeoisie auf dem Tisch.“ 
 
So ist es kein Wunder, dass man heute bei der Erwähnung des – westdeutschen – „Ahlener Programms der CDU“ vom Februar 1947, das eine „gemeinwirtschaftliche Ordnung“ anstrebte, eher den Besuch des Verfassungsschutzes als den eines zustimmenden Vertreters dieser Partei zu erwarten hätte. Aber richtig bleibt, was Daniela Dahn von Diether Döring zitiert: „Die Existenz eines anderen Gesellschaftssystems zwang die Bundesrepublik, ein sozialeres Profil auszubilden, als dies vermutlich ohne diese Konstellation der Fall wäre.“ Wahr ist auch, wenn Dahn sagt: „So wie die DDR an die Westlöhne nie heranreichen konnte, so hat die BRD den östlichen Vorsprung bei der Gleichstellung der Frau und im progressiven Familienrecht nie einholen können.“ Schon im August 1946 forderte der Befehl der Sowjetischen Militäradministration gleichen Lohn für gleiche Arbeit für Männer und Frauen. „In den 80er Jahren waren jedenfalls 91 Prozent aller DDR-Frauen berufstätig und hatten gleichzeitig mindestens ein Kind. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie war das vorherrschende Lebenskonzept“ – Emanzipation sei eben mehr als soziale Selbstbestimmung, sagt die Autorin.
 
„DDR aufgekauft und entmündigt“
 
„Die Großoffensive des Kapitals“ beginnt bei ihr mit dem Fall der Mauer 1989: „Dass die DDR mit all ihren sozialistischen Flausen aufgekauft und damit entmündigt werden sollte, stand von Anfang an fest.“ Damit kam „der Sprung von der sozialen Marktwirtschaft zur radikalen.“ Die Mitherausgeberin der Berliner Wochenzeitung „Der Freitag“ erinnert zu Recht daran, dass im ganzen „Ostblock“ nur die DDR einem geteilten Land entsprungen war und deshalb auch nur sie die Währungsunion über sich ergehen lassen musste, die neben der Misswirtschaft der Treuhandanstalt zum Zusammenbruch des Exports führte – mit dem Ergebnis, dass 95 Prozent des volkseigenen Wirtschaftsvermögens in westdeutsche Hände übergingen.
 
Es war auch kein anderes Land dem Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ unterworfen – mit der Folge, dass fast jede fünfte beanspruchte Immobilie zurückgegeben werden musste. Die Westdeutschen holten an der DDR nach, was sie bei den Nazis nur zu gerne versäumt hatten – die kamen überwiegend gut weg, kehrten in ihre alten Stellungen zurück, bezogen gute Renten, weshalb es auch nach dem Krieg im Westen mehr Nazimitglieder als davor gab, weil so viele rechtzeitig die spätere Ostzone verlassen hatten.
 
Zwei Diktaturen in Deutschland?
 
Daniela Dahn schreibt auch eine Verlustgeschichte. „Der Westen hat praktisch Erprobtes verloren“, heißt der Untertitel des 3. Kapitels. Dahn schildert darin die Situation der DDR: „Bankiers, Börsianer, Spekulanten, Unternehmer und Großgrundbesitzer gaben nicht mehr den Ton an. Wenn es überhaupt eine historisch zu nennende Leistung des Pseudosozialismus gegeben hat, dann war es diese.“ Aber wer interessiert sich wirklich dafür? In einer Zeit, „wo einiges nun heimlich wieder ausgegraben wird, um es möglichst als eigene Idee zu verkaufen. Ob einheitliche Krankenversicherung, Schulen, Krippen oder Polikliniken.“ Was sich heute als „Revolution“ geriere, „hätte 1989 eine schlichte Übernahme der Instrumente aus der DDR sein können.“ Es ist haarsträubend, wenn man liest, dass beispielsweise das Institut für Hygiene des Kinder- und Jugendalters ebenso geschlossen wurde wie das Vorsorgesystem der Kinderzahnheilkunde. Noch toller ist die Entlassung von 5.500 Gemeindeschwestern aus den Landambulatorien. Nach der Pisa-Studie machte sich eine Gewerkschaftsdelegation nach Helsinki auf den Weg, um das Geheimnis des finnischen Bildungserfolges zu ergründen: „Dort war man überrascht, weshalb sich die Berliner den weiten Weg gemacht haben, wo doch die Ansätze des finnischen Schulwesens einst aus der DDR übernommen worden waren.“
 
Dahn wehrt sich erwartungsgemäß gegen den Abschlussbericht der Enquete-Kommission des Bundestages zu den Folgen der SED-Diktatur. Darin heißt es: „Am Ende des 20. Jahrhunderts müssen die Deutschen mit der Erinnerung an zwei deutsche Diktaturen und ihre Opfer leben“ – gerade so, als hätten die Machthaber der DDR genauso gewütet und massenhaft gemordet wie die Nazis. „Vergleichen kann und sollte man grundsätzlich alles, solange es nicht um Gleichsetzen geht, sondern um das Deutlichmachen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden“, sagt Dahn. Daran freilich fehlt es bis heute: DDR-Unrecht betrachtet man in Westdeutschland mit anderen Augen als NS-Verbrechen: „Wer geschichtsvergessen ohne weitere Erläuterungen von ‚zwei Diktaturen in Deutschland‘ spricht, muss wissen, wie viel Verharmlosung des Nationalsozialismus er auf sich laden will.“
 
„An der Werkbank die größte Freiheit“
 
Zu Recht wundert sich Dahn, „wie schnell die Forderung aus der Wendezeit, man müsse auch die Akten des – westdeutschen – Verfassungsschutzes zugänglich machen, in der Versenkung verschwunden ist.“ Sie erinnert daran, dass Ende der 80er Jahre bekannt wurde, dass selbst die Schweiz Staatsschutzakten von 900 000 Personen führte – in einem Land von sechs Millionen Einwohnern!
 
Es gab und gibt auch noch andere Unterschiede: „An der Werkbank herrschte die größte Freiheit der DDR (viel mehr als zum Beispiel bei den Intellektuellen und Kulturschaffenden).“ In der alten und vor allem in der vor bald 20 Jahren größer gewordenen Bundesrepublik traut sich kaum einer, die Arbeitsbedingungen zu kritisieren: Die Mehrheit will es schlicht nicht riskieren, schikaniert oder entlassen zu werden.
 
Immer wieder weist Dahn auf die real existierenden Klischees von der DDR hin. So reibt sie sich etwa auch an dem so viel gerühmten Film „Das Leben der Anderen“ des Grafen Henckel von Donnersmarck: Der Film habe nichts „mit der realen Situation prominenter Künstler im Ostberlin der 80er Jahre zu tun.“ Man kann es als die Quintessenz des Buches nehmen, wenn Dahn schon mitten im Buch sagt: „Der Realsozialismus hätte sich allein durch Repression nicht 70 oder auch nur 40 Jahre halten können, wenn nicht wenigstens einige klassische antikapitalistische Gerechtigkeitsziele der Arbeiterbewegung tatsächlich in Angriff genommen worden wären.“
 
Ein Land, das Angriffskriege führt
 
Doch die Autorin blickt nicht allein in die Vergangenheit, sondern befasst sich auch mit dem Leben in Gesamtdeutschland: „Worauf ich nicht vorbereitet war und woran ich mich auch niemals gewöhnen werde, ist, in einem Land zu leben, das Angriffskriege führt“. Gemeint ist der Jugoslawienkrieg 1999, dessen Ablehnung in Ostdeutschland stärker als im Westen war. Das sagt Daniela Dahn nicht nur so daher, sondern sie reiste auch nach Belgrad, um sich die Kriegsfolgen anzusehen. Bilder des jugoslawischen Fernsehens hatte das europäische Satelliten-Konsortium nach deutscher Initiative damals abgeschaltet. Auch im Inland schränken Gesetze die Freiheitsrechte der Bürger im Interesse ihrer angeblichen Sicherheit immer weiter ein.
 
„Ist Deutschland noch eine Demokratie?“
 
Dahn berichtet aus eigener Erfahrung: Als Gründungsmitglied des Demokratischen Aufbruchs war sie von Goethe-Instituten regelmäßig zu Veranstaltungen eingeladen worden. Als sie dann sogar brandenburgische Verfassungsrichterin werden solle, stritt man sich über die Frage, ob sie überhaupt verfassungstreu sei. Seither ist sie von keinem Goethe-Institut mehr eingeladen worden. „Aber als radikal gilt man leicht, wenn man sich hartnäckig auf seine im Grundgesetz garantierten Rechte beruft.“ Wohin steuern wir also? „Ist Deutschland noch eine Demokratie?“ Mit der Feststellung, es fehle nicht an Entwürfen für eine gerechtere Welt, aber an der Kraft, sie durchzusetzen, endet das aufrüttelnde Buch.
 
Es ist gewiss keines einer verbissenen DDR-Bürgerin, sondern das Buch einer Autorin, die von Anfang an genau hingeschaut hat, die darüber informiert, wie es im Osten des Landes zuging und wie man sich gleich hätte verständigen können. Hoffentlich ist es dafür noch nicht zu spät. (PK) 
 
Daniela Dahn: „Wehe dem Sieger! Ohne Osten kein Westen“, Rowohlt. Hardcover, 304 S., 2009, 18,90 €, 978-3-498-01329-5
 
Dr. Heinrich Senfft (81) ist Rechtsanwalt und Autor in Hamburg. Wurde schon früh bekannt als Verteidiger von Journalisten in presserechtlichen Fragen, z.B. gegen den Springer-Konzern. 1993 bzw. 1994 vertrat er erfolgreich Gregor Gysi in den berühmt-berüchtigten Verfahren gegen Bärbel Bohley und Freya Klier vor der Pressekammer des Hamburger Landgerichts.
 
Diese Rezension erschien zuerst in der Novemberausgabe der „Blätter für deutsche und Internationale Politik“ http://www.blaetter.de/

Online-Flyer Nr. 226  vom 02.12.2009

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