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Aktueller Online-Flyer vom 26. April 2024  

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Globales
Versuch der “demokratischen Öffnung” in der Türkei vorerst gescheitert
Frieden für die Kurden?
Von Filiz Cakmak und Peter Kleinert

Im Zusammenhang mit der “demokratischen Öffnung” zur Lösung der “Kurdenfrage” erlaubte die Regierung des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan vor einigen Wochen die Rückkehr von im Nordirak-Exil lebenden PKK-Mitgliedern in die Türkei. Die 34 Heimkehrer wurden schon an der Grenze von 50.000 Menschen begrüßt und auf ihrem Weg zu einem von der kurdischen Partei für eine demokratische Gesellschaft (DTP) organisierten feierlichen Empfang in Diyarbakır von Tausenden enthusiastisch begrüßt und gefeiert.  

İlker Başbuğ - Generalstabschef der Türkei
Quelle: kurdistancommentary.com.
Mit einer solchen Reaktion der “Jubelkurden” hatte in Ankara und Istanbul offenbar niemand gerechnet. Die empörte Opposition organisierte Gegendemonstrationen. Als auch noch Generalstabschef İlker Başbuğ den Ministerpräsidenten anrief, um ihm die Bedenken der Armee mitzuteilen, verkündete Erdoğan, die Rückkehraktionen zumindest vorerst zu stoppen. Am 28. Oktober hätte eine zweite Gruppe von 15 PKK-Mitgliedern, diesmal aus Europa, in die Türkei zurückkehren sollen. Die DTP mußte den für sie als großes Fest geplanten Empfang in Istanbul wieder absagen.

 
Zu weiteren Folgen der von Erdoğans Regierung geplanten “demokratischen Öffnung” hier zunächst einige Meldungen von zwei liberalen Tageszeitungen aus den letzten zwei Monaten:
 
15. Oktober, Radikal:
 
Um einen Soldaten zu bestrafen, zog ein Offizier in Elazığ in der Osttürkei den Sicherungsstift einer Handgranate und gab diese dem Soldaten. Durch die Explpsion starben vier Soldaten. Der Offizier, Major Mehmet Tümer. Der Offizier gab später als Grund an, dass der Soldat beim Wachehalten eingeschlafen sei. Er ist zurzeit in Haft.  
 
30. September, Taraf:
 
In dem Dorf Lice nahe Diyarbakır wurde die kleine Ceylan Önkol durch eine Mörsergranate in ihrem Dorf in Stücke gerissen. Weder Polizei noch Staatsanwalt sind in das Dorf gefahren. Der Dorf-Muezzin hat den Tatort gefilmt. 

Ceylan Önkol
Quelle: http://kurdistanblogger.blog.de 

Ceylan starb im Alter von 14 Jahren. Die Granate traf sie während sie nur 200 Meter von ihrem Dorf entfernt die Schafe hütete, aus heiterem Himmel. Nach Aussagen von Dorfbewohnern und ihres Bruders Rifak Önkol kam der Schuß von einer nahegelegenen Gendarmeriestation. Das Kriminalamt behauptete dagegen später, ein auf der Weide liegender 40 mm-Blindgänger sei explodiert, weil jemand mit einem harten Gegenstand darauf geschlagen habe.

25.   September, Taraf
                                                                                                                

In Sırnak ist nach Mitteilung der Armee der Offiziersanwärter Ahmet Solgun durch einen Unfall ums Leben gekommen. Bei seiner Beerdigung reagierte seine Mutter sehr empört gegenüber den Soldaten, die an der Beerdigung teilnahmen und schrie: “Ihr habt meinen Jungen zwei Monate lang fertig gemacht. Bevor er starb, rief er mich an und berichtete, wie ihr ihn fertig gemacht habt. Deshalb dürft ihr hier nicht anwesend zu sein. Geht!” Die Mutter glaubt, dass man ihren Sohn ermordet hat und dass die Angabe eines Unfalls ein Vorwand gewesen sei.
 
In derselben Ausgabe der Taraf lesen wir, dass ein aus Sanlı Urfa stammender Soldat namens Vahit Uzun in Izmir ums Leben gekommen sei. Er wurde zuerst als Märtyrer gefeiert, später als Selbstmörder bezeichnet und noch später als Unfallopfer. Sein Vater gab an, dass er mıt seinem Sohn einen Tag vor seinem Tod trlefoniert habe. Dabei habe ihm sein Sohn gesagt: “Vater, ich bin hier im Jitem-Haus. Bitte sprich nicht kurdisch und nicht über Politik. (Jitem ist der Nachrichtendienst der türkischen Gendarmerie, wird mit der deutschen Gestapo verglichen und wie diese für viele nicht aufgeklärte Morde verantwortlich gemacht. Das Militar leugnet aber immer wieder, dass es Jitem überhaupt gibt.)
 
Sieben tote Kurden in einem Monat

Insgesamt starben innnerhalb eines Monats sieben Menschen aus dem Osten der Türkei. Alle waren Kurden. Einer von ihnen starb im Westen, in Izmir. Grund für ihren Tod ist der noch immer anhaltende Krieg gegen die Kurden, in dem im Vergleich zu früher allerdings nur noch wenige Menschen sterben, weil ja nicht mehr gekämpft wird. Dass diese sieben Menschen sterben mußten, hat andere Gründe als in den Jahren zuvor.
 
Zu der von der Regierung propagierten “demokratischen Öffnung” gehört natürlich als  wichtigste die “kurdische Frage”. Die Regierung stand vor dem Problem, wie diese zu lösen sei. Demokratie in einem “Kriegsgebiet”, auch wenn die Kurden nicht mehr kämpfen? Also lud man PKK-Anhänger, die nicht “straffällig” geworden waren, ein, aus den Bergen wieder nach Hause zurückzukehren. In diesem Zusammenhang wurde 34 PKK-Anhängern die Einreise aus dem Nordirak in die Türkei gewährt. Um die Heimkehrer zu emfangen wurde von der kurdischen Partei DTP in Diyabakir ein Begrüssungsfest organisiert. Es wurden sogar Friedenstauben freigelassen und der DTP-Vorsitzende Ahmet Türk sagte: “Diese Freude ist eine Freude über einen lange ersehnten Frieden. Die Menschen haben wieder ıhre Kınder, die aus den Bergen nach hause zurückkehren konnten, umarmt.”
 
“Märtyrer-Familien”
 
Im westlichen Teil unseres Landes aber wurden durch Medien, durch die CHP und die MHP und andere Oppositionsparteien im Parlament, viele Menschen aufgehetzt, die daraufhin rebellierten: Wie kann man PKK-Anhänger nur so freundlich emfangen? Es wurden und werden Demonstrationen organisiert, bei denen ganz vorne natürlich die “Märtyrer-Familien” laufen, deren Söhne als Soldaten im Osten getötet worden sind. Diese Familien zu verstehen ist ja nicht schwer. Weil ıhre Söhne im Krieg für die Heimat starben, hat man sie mit Ehrenmedaillen ausgezeichnet. Die Familien können nicht verstehen, dass die “Mörder” ıhrer Kınder so festlich empfangen wurden, anstatt im Knast zu landen. Unvorstellbar für sie, dass so etwas passieren konnte.
 
İn der Türkei muss jeder Mann, es sei denn, er studiert, im Alter von 20 Jahren für eineinhalb Jahre in der Armee seinen Pflichtwehrdienst leisten. Gerade diese “Kinder” wurden dann in die Berge geschickt, um gegen die PKK zu kämpfen. Sicherheit und Ruhe dieses großen Landes wurden durch diese “Kinder” garantiert, und dabei sind mehr als sechstausend von ihnen getötet worden. Nur einige wenige der Toten waren Berufssoldaten. Bei der Beerdigung ihrer Kinder riefen die Familien “Hoch lebe unsere Heimat!” und erhielten die Ehrenmadaillen. Nach dem Empfang der 34 PKK-Anhänger sind diese Medaillen für sie völlig wertlos geworden. Sie sagen: “Unsere Kınder sind umsonst gestorben.”
 
“Aber die waren doch unsere Feinde”

Und nun soll in diesem Land Frieden herrschen und Märtyrer-Sein nichts mehr bedeuten? Wer erklärt das diesen Familien? Doch wer wird den Mut haben, das auch den kurdischen Familien klar zu machen, nachdem mehr als zehntausend kurdische “Kinder” getötet wurden, einigen von ihnen Nasen und Ohren abgeschnitten und dann von Offizieren ihren Familien übergeben wurden? Wie erklärt man ihnen solche Erniedrigungen und wie erklärt man ihnen, dass nun im “Frieden” innerhalb nur eines Monats sieben Kurden getötet wurden.
 
“Aber die waren doch unsere Feinde”, höre ich manche Türken dagegen einwenden. - Ein 12 Jahre altes Kind unser Feind?  “Ja klar”, sagen sie, “aber wenn Kurden in unserer Strasse wohnen, sagen wir doch auch: “Arme Nachbarn”. Und wenn sie in ihrem Dorf verhungern, sagen wir: “Arme Dörfler”. Und wenn sie als Arbeitslose bei uns im Café in der Stadt sitzen, sagen wir: “Arme aussichtslose Bürger”. Und wenn sie aufgrund ihrer unseligen Tradition ihre Frauen ermorden, sagen wir: “Arme aussichtslose Frauen”. Und nun stellen wir fest, dass sie plötzlich wieder unsere Feinde aus den Bergen sind.” - Warum ist das so?
 
Frıeden zu schaffen ist immer sehr schwierig. Nach dreissig oder noch mehr Jahren Feindschaft Frieden zu schaffen, ist nicht innerhalb von ein paar Wochen möglich. Es ist sehr sehr schwer. (PK)            

Online-Flyer Nr. 223  vom 11.11.2009

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