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Kultur und Wissen
Zwei Rezensionen zu einem Buch von Iris Gusner und Helke Sander
„Fantasie und Arbeit – Biografische Zwiesprache“
Von Anita Baldauf und Hans Helmut Prinzler

Endlich ist es da – das Buch, das sich heraushebt aus der Flut der Veröffentlichungen im Jahre 20 nach dem Mauerfall! Endlich geht es einmal um Verbindendes, nicht um Trennendes. Hier haben sich zwei Frauen die Aufgabe gestellt, uns Ähnlichkeiten in ihren Lebensläufen zu zeigen, ohne die Unterschiede zu verwischen. In diesem Buch wird ein Stück deutsche Geschichte lebendig, auch für die nach der Wende Geborenen.


Helke Sander –
Filmemacherin aus der BRD
Foto privat
Es handelt sich um die im Schüren Verlag erschienene Biografische Zwiesprache „Fantasie und Arbeit“ von zwei deutschen Filmemacherinnen. Iris Gusner (DDR) und Helke Sander (BRD) schreiben über ihre Erfahrungen, Erfolge und Enttäuschungen, über ihr Leben in einem geteilten Land. Ihre Sicht ist ganz subjektiv und dennoch in vieler Hinsicht allgemeingültig. Sie ist weit entfernt von Opfer- oder Siegermentalität und ermöglicht Einblicke „hinter die Kulissen“ des Filmgeschäfts – ohne Starrummel oder Prominentenklatsch.

Spannend, humorvoll, fast schon mit einer gewissen „Altersweisheit“ erzählen uns zwei Frauen von ihrem Alltag in einer patriarchalisch geprägten Zeit, von ihren Schwierigkeiten, Träumen und Hoffnungen, und sie entdecken trotz der gegensätzlichen Gesellschaftssysteme Gemeinsamkeiten. Es geht den Autorinnen wohl um dieses Gemeinsame, das „starke“ Frauen in Ost und West in ihrem Ringen um Anerkennung erlebten – wenn auch unterschiedlich: Hier Beschneidung der Freiheit bei relativer sozialer Sicherheit – da nahezu grenzenlose Freiheit ohne soziales Netz. Und beider unausgesprochene Sehnsucht, ohne materielle Nöte frei arbeiten und leben zu können, erinnert mich an das Perpetuum mobile, von dem Iris Gusner in einem ihrer Filme und im Buch spricht…
© Anita Baldauf, Chemnitz


In der Mitte des Buches, auf den Seiten 144 und 145, gibt es zwei Bilder, die einzigen in diesem Band: Helke Sander, fotografiert von Abisag Tüllmann, Iris Gusner, fotografiert von Wolfgang Ebert. Die Aufnahmen stammen aus den siebziger Jahren, die beiden Protagonistinnen schauen uns nicht an, sie blicken nachdenklich in eine Berufs- und Lebensperspektive, die sich für jede von ihnen ganz unterschiedlich und dann doch wieder vergleichbar konkretisieren wird.

„Biografische Zwiesprache“ heißt das Buch im Untertitel. Es handelt in 30 Kapiteln von zwei Filmemacherinnen, die derselben Generation angehören und, durch die Mauer getrennt, ihren Beruf gelernt, Kinder geboren und spezielle gesellschaftliche Erfahrungen gemacht haben. Es ist im Jahr 20 nach dem Mauerfall ein ganz besonderes Buch, weil es deutsche Filmgeschichte in der konkretesten und differenziertesten Form darstellt, als Lebensbericht zweier Künstlerinnen, die viel erreicht haben und zu wenig gewürdigt wurden.


Iris Gusner –
Filmemacherin aus der DDR
Iris Gusner
Foto: Jürgen Rieger
Gusner, geboren 1941 in Trautenau, hat in den sechziger Jahren an der Moskauer Filmhochschule Regie studiert, brachte in dieser Zeit zwei Töchter zur Welt, war Regieassistentin bei Konrad Wolf, drehte 1972 den Verbotsfilm DIE TAUBE AUF DEM DACH, realisierte später für die Defa unter anderem ALLE MEINE MÄDCHEN, KASKADE RÜCKWÄRTS und ICH LIEBE DICH – APRIL! APRIL!. Nach der Wende entstand nur noch der Film SOMMERLIEBE. Einige ihrer Filme sind auf DVD verfügbar.

Helke Sander, geboren 1937 in Berlin, heiratete nach der Schauspielschule in Finnland, bekam einen Sohn und inszenierte am Theater, kehrte 1965 in die BRD zurück, gehörte zum ersten Studienjahrgang der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin und wurde vor allem mit den Filmen DIE ALLSEITIG REDUZIERTE PERSÖNLICHKEIT – REDUPERS, DER SUBJEKTIVE FAKTOR, DER BEGINN ALLER SCHRECKEN IST LIEBE und BEFREIER UND BEFREITE bekannt. Sie war 1968 Mitbegründerin des „Aktionsrats zur Befreiung der Frau“, initiierte die Zeitschrift Frauen und Film, schrieb Bücher und lehrte an der Hamburger Kunsthochschule. Eine DVD-Werkausgabe gibt es bei Absolut Medien.

Die Idee zu diesem Buch stammt von Iris Gusner. Auf einer Ebene ist es ein Gespräch zwischen Gusner und Sander, in dem persönliche Erlebnisse und Erfahrungen konfrontiert werden. Der Tonfall ist von spürbarer Neugier auf die Schilderungen der Kollegin geprägt: ohne Ungeduld, ohne Hektik, selbst zu Wort zu kommen. Die zweite Ebene sind Lebensberichte, in denen konkrete Erfahrungen vertieft werden. Sie sind, auch wenn sie kein Autorinnensignet tragen, schnell der einen oder der anderen Person zuzuordnen. Auf einer dritten Ebene gibt es Porträts von Menschen, die für Gusner oder Sander große Bedeutung hatten, im künstlerischen Bereich zum Beispiel Joan Littlewood, Michael Romm, Doris Lessing oder Peter Weiss. Und natürlich handeln einige Kapitel von den Filmen, die im Leben der beiden Autorinnen eine wichtige Rolle spielten. Hier wird auch viel von den Männern gesprochen, die diese Filme ermöglicht, gefördert oder verhindert haben. Die Kapitel sind klug montiert, das Leseinteresse wird durchgehend wach gehalten.

Beide Autorinnen sind selbstbewusst und selbstkritisch, sie gestehen Fehler ein, die sie gemacht haben, und sie wundern sich, wie sie all das schaffen konnten, was sie in ihrem Doppelleben als Mütter und als Künstlerinnen zu leisten hatten. Sie verfügen über ein erstaunliches Erinnerungsvermögen, können existentielle Situationen aus der Vergangenheit sehr konkret beschreiben und stellen in ihren Texten – ohne sentimental zu werden – eine emotionale Nähe her. Sie sind einfach gute Autorinnen.

Das einzige, was mich an diesem Buch stört, ist der fantasielose Umschlag, der den aktuellen Strichcode-Manierismus des Schüren-Verlages auf die Spitze treibt.
© Hans Helmut Prinzler


Im August 2009 wurde das Buch von der Deutschen Kinemathek, deren Direktor Hans Helmut Prinzler ist, zum “Buch des Monats“ ernannt.   (PK)















Fantasie und Arbeit - Biografische Zwiesprache“ von Iris Gusner und Helke Sander
Schüren Verlag 304 Seiten, ISBN: 978-3-89472-692-8, Preis: 19,90 €

Online-Flyer Nr. 220  vom 21.10.2009

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