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Aktueller Online-Flyer vom 20. April 2024  

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Inland
Interview mit MdB Hermann Scheer über die SPD nach dem Wahldebakel
Kommt Gabriel? „Das ist keineswegs beschlossen!“
Von Jürgen Elsässer

Nachdem die SPD-Führung nach dem Wahldebakel die Posten des Partei- und Fraktionsvorsitzenden bis auf weiteres untereinander neu aufgeteilt und Andrea Nahles als Generalsekretärin designiert hatte, sprach der Abgeordnete Hermann Scheer gegenüber TV-Journalisten von einer „fast putschistischen Selbstnominierung“ eines kleinen Personenkreises. Jürgen Elsässer hat ihn zur Perspektive der SPD interviewt. – Die Redaktion

SPD-MdB Hermann Scheer                                 
Quelle: NRhZ-Archiv
Jürgen Elsässer: Sie waren in den Sitzungen der SPD-Bundestagsfraktion und des SPD-Vorstandes nach den Bundestagswahlen. Es muss hoch hergegangen sein.

Hermann Scheer: Es wurde stets deutlich, dass riesiger Diskussionsbedarf besteht. So riesig, dass mir eine Zusammenfassung gar nicht möglich ist. Hauptkritikpunkt war jedenfalls Hartz-IV, die ganzen Ungereimtheiten, die Art der Durchsetzung dieser 'Reform'. Viele berichteten aus ihrem Wahlkampf, wie stark dieses Thema, aber auch die Rente mit 67 Wähler abgeschreckt hat. Weiterer Kritikpunkt: Der ganze Basta-Stil, der seit Schröder dominiert. Dahinter spüren viele einen unausgesprochenen Unfehlbarkeitsanspruch, jedenfalls einen anachronistischen Führungsstil.

Nur das? Albrecht Müller, seinerzeit Berater von Willy Brandt, führt die Harakiri-Politik, mit der die SPD-Spitze seit 1998 etwa zehn Millionen Wähler vertrieben hat, auf äußere Steuerung zurück – aus den USA und aus der Finanzindustrie.

Das glaube ich nicht. Es handelt sich eher um eine Selbstbewußtseinsschwäche. Man surft gerne mit dem Mainstream der veröffentlichten Meinung, und so haben allzu viele auch Zug um Zug die konformistische Ideologie übernommen, die seit den 90er Jahren im Mainstream dominiert, den Neoliberalismus oder besser Neofeudalismus.

Zur Stärkung ihres Selbstbewusstseins hätte sich die SPD doch nur an einem ihrer erfolgreichen Bundeskanzler orientieren müssen, nämlich an Helmut Schmidt, der seit Jahr und Tag gegen Neoliberalismus anpredigt.

Aber auch der steht gegen den Mainstream der veröffentlichten Meinung.

Er hat jedenfalls die Mehrheit der Bürger hinter sich.

Dafür interessieren sich in der medienfixierten Gesellschaft die politischen Akteure leider kaum noch. Sie orientieren sich stattdessen an der jeweiligen launischen veröffentlichten Meinung, was nicht dasselbe ist. Am Wahltag kommt dann die Quittung, wie jetzt.

Nun soll in der SPD alles anders werden: Für Franz Müntefering als Parteivorsitzenden soll Sigmar Gabriel kommen, für den Generalsekretär Hubertus Heil Andrea Nahles.

Sie widersprechen?Nur Parteigremien können solche offiziellen Personalvorschläge machen. Dies ist inzwischen allerdings geschehen. Und auch dann obliegt es dem Parteitag, der Mitte November stattfindet, diesen Vorschlägen zuzustimmen oder nicht.

Frank-Walter Steinmeier jedenfalls wurde schon zum Fraktionsvorsitzenden gewählt, und zwar von der neuen Bundestagsfraktion zu ihrem Vorsitzenden. Wurde da nicht einer der alten Böcke zum künftigen Gärtner gemacht?

Zu jeder Fehlentwicklung und damit auch zu der, die es in der SPD gegeben hat, gehören immer zwei. Diejenigen, die etwas vorlegen, und diejenigen, die dem zustimmen, häufig wider besseres Wissen. Die Rechtfertigung war in der Regel, dass man die jeweilige Führung nicht durch Widerspruch beschädigen dürfe. Kritiker galten als Miesmacher und Außenseiter – das ist übrigens das Problem aller Parteien, nicht nur der SPD.

Das alles spricht für Erneuerung, zweifellos. Aber kann sie gelingen, wenn man Altlasten wie Steinmeier weiterschleppt?

Es ist nachvollziehbar, dass ein Kanzlerkandidat der Fraktionsvorsitzende der Abgeordneten wird, die ihr Mandat dem von ihm geführten Wahlkampf verdanken.

Das ist eine sehr unterkühlte Formulierung.

Nachvollziehbar sage ich, weil es in der SPD seit dem Wahlabend an diesem Punkt durchaus geteilte Auffassungen gegeben hat. Außserdem bedeutet Erneuerung nicht zwingend Kompletterneuerung. Betrachtet man sich den Werdegang Steinmeiers, stößt man übrigens darauf, dass er als Kanzleramtsminister unter Gerhard Schröder durchaus als Scharnier zwischen Kanzler und Fraktion gewirkt hat. So gesehen ist er kein Basta-Typ.
 
Von der Personal- zur Perspektivdebatte: Plädieren Sie für die Öffnung der Bündniskonstellationen Richtung Rot-Rot auch im Bund?

Die bisherige freiwillige Einengung der Machtperspektive hat die SPD in ein heilloses Dilemma geführt. Vor der Bundestagswahl gab es nur die Machtperspektive Weiterführung der Großen Koalition oder Neubeginn mit der Ampel. Dabei muss man bedenken, dass die Ampel in unserer Wählerschaft noch unpopulärer ist als Rot-Schwarz, und zwar wegen der FDP, die von uns tatsächlich programmatisch weiter entfernt ist als die Union. Vermutlich wäre es bei dieser Bundestagswahl besser gewesen, hätten wir, wenn schon das Bündnis mit der Linken kategorisch ausgeschlossen wurde, von vornherein auf die Weiterführung der Großen Koalition orientiert und dann darum gekämpft, dass wir das Rennen mit der Union um den höchsten Stimmenanteil aufnehmen, um die strategische Führungsrolle zu bekommen.

Viele Verfechter einer Öffnung zu Rot-Rot wurden bei diesen Wahlen noch mehr gerupft als der Durchschnitt der SPD. Otmar Schreiner und Andrea Nahles haben ihre Wahlreise verloren, der Kreuzberger Björn Böhning landete bei den Erststimmen sogar nur auf Platz 3, das Berliner Ergebnis insgesamt ist katastrophal.

Diese Analyse ist neben der Kapp'. Die Verluste der SPD waren flächendeckend, wie von einem Rasenmäher, im ganzen Bundesgebiet. In den urbanen Zentren waren die Resultate besonders schlecht, aber nicht wegen der Rot-Rot-Präferenzen einzelner Kandidaten, sondern weil die Grünen eine idiotische Erststimmenkampgne gemacht haben. Das haben sie noch nie gemacht, nicht 1998, nicht 2002, nicht 2005, und zwar aus gutem Grund: Weil ihre Kandidaten mit Ausnahme von Christian Ströbele nirgends einen Wahlkreis direkt gewinnen können. Dass sie es dieses Mal trotzdem versucht haben, hat der SPD viele Direktmandate gekostet – und der Union viele Überhangmandate gebracht.

Sie waren designierter Wirtschaftsminister in der von Andrea Ypsilanti anvisierten rot-rot-grünen Hessenregierung. Glauben Sie, dass der SPD das aktuelle Debakel erspart geblieben wäre, wenn diese Koalition zustandekommen wäre?
 
Unbedingt. Schon Kurt Beck hat Mitte 2008 gesagt, dass die SPD in das Bundestagswahljahr 2009 am besten starten würde mit einer SPD-geführten Regierung in Hessen. Das wäre ein wichtiges Signal gewesen. Und daraus wurde nur deswegen nichts, weil zum Widerstand vom politischen Gegner auch noch das Sperrfeuer aus der eigenen Partei kam. Das war ein großer Unterschied zu der strategischen Wende, die Mitte der achtziger Jahre Holger Börner, der damalige SPD-Ministerpräsident in Hessen, zu den Grünen vollzog. Auch er musste diese Wende gegen seine ursprüngliche Absicht und sein Wahlversprechen machen – aber anders als Ypsilanti wurde er von der Parteispitze gedeckt.

Nun besteht vielleicht die Gelegenheit zum Bessermachen. Rot-Rot kann aber nur klappen, wenn sich beide bewegen. Was heißt das beim Thema Afghanistan, einem der brisantesten Streitpunkte?

Ein Kompromiss ist nötig und möglich. Die Lösung ist nicht der schlichte einseitige Abzug, wie ihn die Linken fordern, und nicht das endlose Weitermachen. Wir brauchen eine Exitstrategie, einen konkreten Abzugsfahrplan, der mit den NATO-Verbündeten, der afghanischen Regierung und den Taliban ausgehandelt wird.
 
Und wenn die Taliban dem schrittweisen Abzug zustimmen, die USA aber nicht?
 
Barack Obama ist nicht George W. Bush. Er hat schon begonnen, die Einsatzregeln am Hindukusch zu entschärfen, um zivile Kollateralschäden zu vermeiden. (PK)


Online-Flyer Nr. 216  vom 07.10.2009

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