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Aktueller Online-Flyer vom 26. April 2024  

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Globales
Interview mit dem Pakistans Ex-Geheimdienstchef Asad M. Durrani
„Die Taliban führen unseren Krieg“
Von Jürgen Rose

Asad M. Durrani (69) war Generalleutnant der pakistanischen Streitkräfte, 1980 – 1984 Verteidigungsattaché in Bonn, 1989 – 1992 Chef des pakistanischen Geheimdienstes ISI (“Inter Services Intelligence“) sowie Botschafter seines Landes in der Bundesrepublik Deutschland (1994 – 1997) und in Saudi-Arabien (2000 – 2002). Mit ihm sprach Jürgen Rose über den NATO-Krieg am Hindukusch, das Verhältnis zu Iran, Pakistans Atomwaffenarsenal und deutsche U-Boote. – Die Redaktion

Asad M. Durrani 
Foto: Jürgen Rose
Jürgen Rose: Was empfinden Sie als einer der ehemals höchstrangigen Offiziere der pakistanischen Streitkräfte, wenn heute Ihr Heimatland fast tagtäglich von einer fremden Macht bombardiert wird und Hunderte Ihrer Landsleute – fast alle Zivilisten – getötet werden?
 
Asad M. Durrani: Ohne Zweifel bin ich darüber sehr besorgt. In erster Linie auch deshalb, weil das alles einer Politik geschuldet ist, die vom Militär betrieben wurde, namentlich von Pervez Musharraf. Nach dem 11. September 2001 war die Hilfe, um die Pakistan gebeten wurde, wichtig. Das Problem bestand darin, daß Musharraf nicht hart genug über die Bedingungen für die pakistanische Hilfeleistung verhandelt hatte. Es war nicht klar, was Pakistan tun sollte und wollte und was es nicht bereit war zu tun, das hatte er mit den Amerikanern nicht abgemacht. Als wichtiger Partner im sogenannten „Krieg gegen den Terror“ hätte er einige „rote Linien“ festlegen müssen, aber das hat er unterlassen. Manchmal hat er sogar Dinge getan, die von ihm gar nicht verlangt worden waren: z. B. 500 bis 600 eigene Landsleute einfach geschnappt und den Amerikanern übergeben, die dann nach Guantánamo Bay verschleppt wurden. Die meisten von ihnen waren, wie sich herausstellte, unschuldig. 
 

Pervez Musharraf – wurde durch Militärputsch 
bis 2008 Präsident Pakistans
Quelle: wikipedia/ Antônio Cruz/Agência Brasil
Später folgte eine fatale Entscheidung. Viele der vor der US-Invasion nach Pakistan geflohenen Afghanen haben von hier aus, aus den Grenzgebieten, gegen die Besatzer weitergekämpft. Daraufhin haben die Amerikaner von Musharraf verlangt, militärisch gegen die Kämpfer in den Stammesgebieten, den berühmten “Tribal Areas“, vorzugehen, wo bereits die Briten 90 Jahre erfolglos gekämpft hatten. Und das hat er gemacht, indem ab 2004 die pakistanische Armee zu Operationen in den Stammesgebieten eingesetzt wurde. Die Leute dort haben natürlich ganz normal reagiert: Sie haben sich zur Wehr gesetzt. Damit wurde die Eskalationsdynamik in Gang gesetzt. So bildeten sich immer mehr Widerstandsgruppen gegen die Sicherheitskräfte. Zu deren Unterwanderung – an dieser Stelle kommt meine Expertise als Geheimdienstchef ins Spiel – wurden sogenannte “rogue groups“ eingesetzt. Diese bilden ein sehr effektives Mittel gegen die sogenannten Insurgenten. Mittlerweile ist die Lage sehr vertrackt: Die Amerikaner bombardieren Pakistan wegen der Aufständischen, auch um Pakistan unter Druck zu setzen, verstärkt gegen diese vorzugehen. Dabei ist oft aber völlig unklar, gegen wen da eigentlich operiert wird: gegen die afghanischen Taliban, die gegen die Besatzungstruppen kämpfen oder gegen die pakistanischen Taliban, die unsere Regierung attackieren, oder gegen die absichtsvoll eingesetzten “rogue groups“ oder auch gegen kriminelle Banden, die lediglich darauf aus sind, ihren eigen Vorteil aus dem Chaos zu schlagen.
 
Jürgen Rose: Was verstehen Sie konkret unter den erwähnten “rogue groups“?
 
Asad M. Durrani: Wenn man in einen sogenannten “asymmetrischen Krieg“ verwickelt ist, bilden diese ein sehr gutes Mittel gegen Aufstände. Beispiele hierfür sind Vietnam, Kaschmir, Palästina, wo Israel anfänglich die Hamas unterstützte, oder die von Indien geförderten LTTE. Auch wir haben selbst solche Gruppen in Ostpakistan unterstützt, die gegen die Widerstandskämpfer vorgingen. Das ist sehr effektiv, denn solche Kräfte können sich mit den echten Widerstandskämpfern vermischen und nützliche Informationen beschaffen; sie können auch ganz gezielt deren Führung enthaupten, also sogenannte “targeted killings“ durchführen, und – was auch sehr wichtig ist, wie beispielsweise im Swat-Tal geschehen – sie können auch unschuldige Zivilisten ermorden, um den Widerstand in Mißkredit bringen; die Bevölkerung wird dann nämlich sagen: Wenn diese Leute, die sogenannten Mudjahedin, Taliban oder Widerstandskämpfer so brutal sind, dann hegen wir, auch wenn wir ihnen anfänglich wohlwollend gegenüberstanden, nun keinerlei Sympathie mehr für sie.
 
Jürgen Rose: Immer wird behauptet, daß die US-amerikanischen Drohnenangriffe auf die Dörfer in den pakistanischen Stammesgebieten mit der heimlichen Zustimmung der pakistanischen Regierung und der Streitkräfte stattfinden. Stimmt das?
 
Asad M. Durrani: Ja, inzwischen glaube ich, daß Pakistan, wenn nicht an allen, so doch an vielen dieser Angriffe ein Interesse gehabt hat, nicht nur im Falle von Beitullah Massud. Anfänglich haben die Amerikaner diese Angriffe ohne Zustimmung Pakistans durchgeführt, und die pakistanische Regierung hat hinterher ab und zu formal protestiert. Außerdem ist man, wenn man für die Zustimmung zu solchen Operationen vorher, so wie Pervez Musharraf, Geld bekommen hat, nämlich mehrere Milliarden Dollar, in überhaupt keiner guten Position, um zu sagen: Hört auf damit! Man kann das sagen, aber dafür bräuchte man sehr viel Mut. Also ist es zu dem aktuellen Arrangement gekommen, wo die Luftangriffe im Grunde mit der Zustimmung Pakistans erfolgen.
 
Jürgen Rose: Der Afghanistan-Kenner Christoph R. Hörstel sagt: „Die CIA weiß nicht nur, daß der ISI die Taliban unterstützt. Sondern sie fördert das. Das glauben übrigens auch die meisten Afghanen: daß die USA ihre Feinde nähren, damit sie nicht abziehen müssen.“ Was halten Sie davon?
 
Asad M. Durrani: Ich bin nicht ganz sicher, ob die USA oder die CIA ein Interesse daran haben, den afghanischen Widerstand zu unterstützen. Der Grund hierfür liegt meines Erachtens darin, daß die USA verloren hätten, wenn hierdurch der Widerstand so erstarken würde, daß sie ihn nicht binnen kurzem zerschlagen könnten. Dann drohte ihnen ein neuerliches Vietnam und daran können Sie kein Interesse haben. Darüber, inwieweit der ISI die Taliban, den afghanischen Widerstand oder Teile davon unterstützt, liegen mir keine konkreten Informationen vor. Aber ich verstehe den Zweck der Operation. Natürlich versucht man, mit allen Kräften des Widerstandes und insbesondere den Taliban, seit diese 1995 in Afghanistan an die Macht gekommen waren, Kontakt zu halten. Zweitens aber wäre ich persönlich sehr dankbar dafür, wenn der ISI den afghanischen Widerstand unterstützen würde. Denn nur, wenn der afghanische Widerstand – die sogenannten “New Taleban“, das sind nicht die “Mullah Omar-Taliban“ – stark genug bleibt, nur dann existiert eine Möglichkeit, daß sich die fremden Truppen aus Afghanistan zurückziehen; anderenfalls bleiben sie dort.  
 
Jürgen Rose: Der pakistanische Geheimdienstes ISI (Inter Services Intelligence) hat den Aufbau der Taliban unterstützt. Zugleich haben an diesem Unternehmen auch der US-Geheimdienst CIA und Saudi-Arabien mitgewirkt. Wie und warum kam es dazu?
 
Asad M. Durrani: Vorausschicken muß ich, daß es die Taliban zu meiner Zeit als ISI-Chef noch gar nicht gab. Die Taliban sind erst 1995 in Erscheinung getreten, während meine Zeit als ISI-Chef im Februar 1992 endete. Zu diesem Zeitpunkt gab es nur die Mudjahedin, die in sich in die berühmten sieben Parteien aufgliederten. Die Bewegung der Taliban richtete sich gegen diese Mudjahedin, denen es nicht gelang, Afghanistan zu einen und Frieden herzustellen. Gegen diese unfähigen Mudjahedin formierte sich, ausgehend von Kandahar, unter Führung von Mullah Omar eine Bewegung von Madrassa-Schülern unter dem Namen Taliban. Diese fanden schnell die Unterstützung der afghanischen Bevölkerung, weil diese von den Mudjahedin und natürlich erst recht von den Kommunisten enttäuscht war. Und als die Taliban eine gewisse Stärke erreicht hatten – das war zu meiner Zeit als Botschafter in Deutschland –, begann der ISI diese zu unterstützen. Freilich, und das wird immer wieder vergessen, haben auch die USA und Saudi-Arabien die Taliban-Bewegung gefördert. Letztere waren vor allem am Projekt einer Pipeline interessiert, die durch Herat führen sollte – und das kontrollierten die Taliban. Außerdem war diesen beiden Staaten, die sehr gespannte bis feindselige Beziehungen zum Iran hatten, daran gelegen, die Taliban gegen diesen als eine Art Gegenmacht ins Spiel zu bringen. Pakistan wiederum unterstützte die Taliban, weil es davon ausging, daß diese die einzige Kraft waren, die Afghanistan wieder vereinen konnten. Außerdem spielte es eine große Rolle, daß die Taliban Paschtunen waren. Man mag das als kurzsichtig bewerten, aber der Paschtunenfaktor ist deshalb so wichtig, weil diese Volksgruppe so stark ist. Immerhin leben in Pakistan doppelt so viele Paschtunen wie in Afghanistan, wo sich diese in der Mehrheit befinden. Gegründet hat Pakistan die Taliban-Bewegung allerdings nicht.
 
Jürgen Rose: Wie schätzen Sie heute die Rolle und Funktion der Taliban ein?
 
Asad M. Durrani: Auch wenn das seit 2001 nicht mehr der offiziellen Haltung der pakistanische Regierung entspricht, so führen die Taliban in Afghanistan, die gegen die Besatzung Selbstverteidigung üben, meiner Meinung nach unseren Krieg, und zwar in dem Sinne, daß, wenn sie Erfolg haben, die fremden Truppen abziehen. Wenn sie aber scheitern und wenn Afghanistan unter Fremdherrschaft bleibt, werden wir weiter Probleme haben. Zweitens: Wenn sich die NATO, die stärkste Militärmacht der Welt, wegen ökonomischer und geopolitischer Interessen – denken Sie an das sogenannte „New Great Game“ – praktisch an der pakistanischen Grenze festsetzt, dann erzeugt das in Pakistan enormes Unbehagen. Bei uns lautet ein altes Sprichwort: Sei vorsichtig, wenn Du neben einem Elefanten schläfst, denn er könnte sich umdrehen.
 
Jürgen Rose: Nach acht Jahren Krieg und Besatzung hat sich die Lage in Afghanistan immer desaströser entwickelt. Es sterben immer mehr Zivilisten und Besatzungssoldaten. In dieser Situation hat der neue US-Präsident Obama eine Eskalation und Ausweitung des Krieges auf Pakistan angeordnet. Glauben Sie, daß Obamas Politik der kriegerischen Eskalation eine Aussicht auf Erfolg besitzt?
 
Asad M. Durrani: Die sogenannte „Surge“-Politik könnte auf zweierlei abzielen. Die optimistische Möglichkeit liegt darin, daß sie im Rahmen einer Exit-Strategie dazu dienen soll, trotz der fast hoffnungslosen Lage, in der man sich befindet, einen Rückzug unter Wahrung des Gesichts zu ermöglichen – was durchaus verständlich ist. Denn gerade die USA und Großbritannien, aber auch die übrigen NATO-Verbündeten, haben sich so kategorisch auf einen Erfolg der Mission am Hindukusch festgelegt. Deshalb muß nach außen unter allen Umständen der Eindruck vermittelt werden, die NATO hätte gesiegt. Hierfür erhöht man die Truppenstärke und intensiviert die militärischen Operationen, beispielsweise in Helmand. Parallel dazu werden mit Teilen der Taliban Vereinbarungen hinsichtlich eines Truppenabzugs innerhalb bestimmter Fristen getroffen. An einem gewissen Punkt kann die NATO dann erklären, daß sie ihre Ziele erreicht und das Land soweit stabilisiert hat, daß sie abziehen kann – „declare victory and go“, und das war‘s.
Die weniger schöne Variante könnte darin bestehen, daß die Amerikaner nachdem sie soviel militärisch und auch politisch in den Krieg investiert haben, den Glauben an einen Sieg doch noch nicht gänzlich aufgeben wollen. Eine wichtige Rolle dabei spielen die Interessen des Militärisch-Industriellen Komplexes. Das bedeutet, daß einfach immer mehr Geld in den Militäreinsatz und in Wiederaufbauprojekte gepumpt wird, in der Hoffnung, daß dadurch die Lage in einigen Jahren günstiger aussehen könnte. Bei uns zuhause wird diese Vorgehensweise mit dem berühmten Spruch Winston Churchills kommentiert, der einst angemerkt hatte: „You can count on the Americans to ultimately do the right thing, but before that they must exhaust all other options.“ Er, der ja ein Freund der Amerikaner war, meinte damit, daß die USA stets versuchen, alle verfügbaren Mittel einzusetzen, bevor sie bereit sind, sich der Einsicht zu beugen, daß die Niederlage unvermeidlich ist.
 
Jürgen Rose: Offiziell behauptet die NATO, ihre Truppen stünden am Hindukusch, um Krieg gegen den Terror zu führen und in Afghanistan den Wiederaufbau und die Entwicklung des Landes abzusichern? Halten Sie diese Propaganda für glaubwürdig oder stecken Ihrer Ansicht nach nicht ganz andere, nämlich geostrategische und geoökonomische Interessen hinter der westlichen Truppenstationierung in Afghanistan – immerhin bauen die USA in Bagram eine ihrer größten Militärbasen weltweit und britische Offiziere betonten jüngst, daß die NATO-Truppen noch vierzig Jahre in Afghanistan stationiert bleiben müssen?
 
Asad M. Durrani: Es handelt sich bei dem sogenannten “Krieg gegen den Terrorismus“ mehr oder weniger um Propaganda, denn beide, nicht-staatliche und staatliche Akteure, setzen Terror-Methoden ein. Alle tun das, die Staaten eigentlich in noch viel stärkerem Maße – denken Sie an Hiroshima, Nagasaki, Dresden, Fallujah im Irak oder die Operation Balusha in Afghanistan und viele weitere mehr. All dies sind Beispiele für Terror, weil dabei vorsätzlich unbeteiligte Nicht-Kombattanten bekämpft wurden, um politische Zwecke zu erreichen. Außerdem: Man kann gegen ein Konzept oder eine Technik wie den Terrorismus nicht kämpfen, vor allem nicht mit militärischen Mitteln wie es die NATO versucht – das funktioniert einfach nicht.
Was die Interessen angeht, so habe ich schon das “New Great Game“ erwähnt. Um die Energieressourcen kontrollieren zu können, ist Präsenz erforderlich. Daneben gibt es natürlich noch andere Gründe: China beispielsweise. Allerdings werden die USA ihre Ziele in Afghanistan nicht erreichen können, denn es geht nicht nur um die Afghanen. Dagegen stehen auch die Interessen der Chinesen, Rußlands, der Iraner, der Zentralasiaten und auch Pakistans. Um die Präsenz aufrechterhalten zu können, ist jedoch die Unterstützung der Länder und Völker notwendig. Strobe Talbott, der Nationale Sicherheitsberater Bill Clintons, hat dazu einmal angemerkt: „Either we play together or no one can play there.“ Das heißt, wenn nicht alle mitspielen, kann niemand seine Interessen durchsetzen. Denken Sie an das berühmte Pipeline-Projekt: Natürlich kann man gegen den Willen der Bevölkerung eine Pipeline bauen, aber man kann auf Dauer nicht verhindern, daß sie dann immer wieder in die Luft gesprengt wird.
 
Jürgen Rose: Sind die westlichen Besatzungstruppen Ihrer Meinung nach eher Teil des Problems oder Teil der Lösung?
 
Asad M. Durrani: Teil des Problems. Sie könnten nur dann Teil der Lösung sein, wenn ihr Daseinszweck einzig und allein darauf beschränkt würde, dazu beizutragen, daß die verschiedenen Fraktionen der Afghanen selbst eine gemeinsame Lösung für die Probleme Afghanistans finden können. Keinesfalls aber, um dort militärisch zu kämpfen. Natürlich hätte ein Abzug der fremden Truppen umgehend einen afghanischen Bürgerkrieg zur Folge. Trotzdem ließen sich die unbeliebten Kräfte der Amerikaner und Briten durch andere ersetzen, indonesische zum Beispiel. Und unter den richtigen Voraussetzungen, d. h. wenn die fremden Truppen ausschließlich für Entwicklung und Wiederaufbau da wären, könnte man das akzeptieren. Das Problem liegt allerdings darin, daß diese auch für einen militärischen Sieg kämpfen. Der Friede ist unmöglich zu erreichen, solange die “Operation Enduring Freedom“ andauert.
 
Jürgen Rose: Wie könnte aus Ihrer Sicht eine tragfähige Friedenslösung für Afghanistan aussehen?
 
Asad M. Durrani: Eigentlich wäre das sehr leicht: Aufhören mit Schießen und mit allen Beteiligten sprechen. Zudem besteht der Vorteil in Afghanistan darin, daß fast alle Probleme lokal gelöst werden können. Man muß also in den Regionen ansetzen, die eigentlich schon immer von der Zentrale in Kabul unabhängig waren. Wenn es beispielsweise um ein Problem in Kunar geht, dann ist der dortige Machthaber wichtig und nicht Karzai. Gerade in den Problemregionen im Osten und Süden muß man also mit den lokalen Akteuren Arrangements treffen, wobei auch der Faktor Geld eine Rolle spielt. Wenn das geschehen ist, besteht der nächste Schritt darin, eine Loya Jirga (eine große Ratsversammlung, PK) einzuberufen. Eine glaubwürdige Loya Jirga zu konstituieren ist natürlich nicht so leicht. Aber wenn das gelingt, dann gelangen die Beteiligten auch zu einer Vereinbarung, auch wenn das mitunter Jahre dauern kann – meistens geht es aber viel schneller, manchmal in nur wenigen Tagen, Wochen oder Monaten. In dem Moment, wo eine solche Vereinbarung steht, entlastet das die fremden Truppen. Mit solchen praktischen Schritten muß man vorgehen. Wie das funktioniert, zeigt das Beispiel Helmand, wo die Briten zu einem Waffenstillstand mit den Taliban gelangt waren – den dann nicht etwa die Taliban, sondern die Amerikaner gebrochen haben.
 
Jürgen Rose: Was erwarten Sie von den, unter der Regie der NATO-Truppen abgehaltenen Präsidentschaftswahlen?
 
Asad M. Durrani: Wahrscheinlich wird Karzai gewinnen, das war eigentlich schon seit Monaten klar, auch wenn die Mehrheit der Afghanen mit Karzai sehr unzufrieden ist. Da aber für die Afghanen die Verhältnisse in den Regionen viel wichtiger sind, als die Frage, wer in Kabul regiert, ist die Präsidentschaftswahl den meisten Afghanen ziemlich egal.
 
Jürgen Rose: Lassen Sie uns den Blick noch auf einen weiteren hochbrisanten Konflikt richten, der auch Pakistan unmittelbar betrifft: Ihr Land hat im Süden, in Belutschistan eine lange gemeinsame Grenze mit Iran – wie schätzen Sie die Beziehungen zwischen Ihren Ländern ein und welche Rolle spielt Iran in der außen- und sicherheitspolitischen Strategie Pakistans?
 
Asad M. Durrani: Der Konflikt zwischen unseren beiden Ländern wird zumeist überschätzt. Tatsächlich sind die Beziehungen viel besser. So besteht Konsens, daß die Grenze zwischen den beiden Ländern in Belutschistan festliegt. Zwar hat es zu Zeiten Chomeinis in Iran und Zia ul-Haqs in Pakistan erhebliche Spannungen gegeben, mittlerweile aber haben beide Seiten ein starkes Interesse an guten Beziehungen.
 
Jürgen Rose: Wie schätzen Sie die Gefahr eines militärischen Angriffs auf Iran ein und wie wird sich Pakistan in einem solchen Fall verhalten?
 
Asad M. Durrani: Wegen dessen gravierenden und unkontrollierbaren Auswirkungen halte ich einen solchen Angriff für eher unwahrscheinlich. So wäre auch in Afghanistan Chaos die Folge, und in Pakistan, wo ohnehin ein starker Anti-Amerikanismus in weiten Teilen der Bevölkerung herrscht, würde die Lage wohl unbeherrschbar.
 
Jürgen Rose: Wenden wir uns abschließend kurz noch einem Thema zu, das hierzulande immer wieder für Besorgnis sorgt. Häufig wird in den westlichen Medien die Gefahr beschworen, das pakistanische Nuklearwaffenpotential könnte in die Hände einer fundamentalistisch gesonnenen Regierung fallen und daraus eine Anspruch auf die Einmischung in die innerpakistanischen Angelegenheiten abgeleitet. Sie selbst haben mehrfach dargelegt, daß diese Befürchtungen unbegründet sind, weil sichergestellt sei, daß das nukleare Arsenal nicht in falsche Hände geraten könne. Können Sie das unseren Lesern näher erläutern?
 
Asad M. Durrani: Unter den jetzigen politischen Bedingungen ist die Kontrolle der Nuklearwaffen hundertprozentig sichergestellt. Aber selbst wenn theoretisch in Pakistan eine Regierung wie die der Ajatollahs in Iran oder selbst wenn jemand wie Mullah Omar an die Macht käme, dann hätten diese Leute die Kontrolle über das Atomarsenal und würden diese Kontrolle mit Realismus und Pragmatismus ausüben. Auch solche Leute wären keineswegs verrückt und würden die nationalen Interessen Pakistans in verantwortlicher Weise berücksichtigen.
 
Jürgen Rose: Letztes Jahr gab es in Deutschland heftige Aufregung um die Lieferung von deutschen U-Booten der Klasse 212A nach Pakistan, derselben Kampfschiffe, die zuvor bereits in das Kriegsgebiet des Nahen Ostens, nämlich nach Israel geliefert worden waren, nachdem sie auf Wunsch der Israelis zuvor noch auf deutschen Werften für das Verscheißen von Nuklearwaffen umgerüstet worden waren. Können Sie angesichts dieser Fakten die Aufregung um die U-Boot-Lieferung an Ihr Land rational nachvollziehen?
 
Asad M. Durrani: Diese Aufregung überrascht mich keineswegs. Dennoch stellen solche U-Boote das beste Mittel für die Garantie der Zweitschlagsfähigkeit dar und wirken daher innerhalb eines Systems der nuklearen Abschreckung sehr stabilisierend. Problematisch sind allerdings die Effekte im Hinblick auf den Rüstungswettlauf. (PK)  
 
Asad M. Durrani, ursprünglich Artillerieoffizier, absolvierte im Verlauf seiner militärischen Karriere unter anderem einen Generalstabslehrgang an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg, diente als Generalstabsoffizier in verschiedenen Stabs-, Lehr- und Führungsverwendungen, war Brigadekommandeur, leitete als Generalmajor den G2-Bereich (militärische Sicherheit und Nachrichtengewinnung) der pakistanischen Streitkräfte, bevor er 1989 bis 1992 den ISI übernahm, war anschließend Chef der Ausbildung im pakistanischen Heer und zuletzt bis zu seinem Ausscheiden aus dem militärischen Dienst Kommandeur des National Defense College in Islamabad.
 
Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr und aus disziplinarrechtlichen Gründen gezwungen, darauf hinzuweisen, dass er in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen vertritt.

Online-Flyer Nr. 215  vom 16.09.2009

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