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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Inland
Demo gegen den Vertrag von Lissabon in Berlin
Wollt ihr den totalen EU-Staat?!
Von Johannes Heckmann

Während am 5. September rund 50.000 Demonstranten auf einer Kundgebung vor dem Brandenburger Tor den endgültigen Atomausstieg forderten, warnten – zeitlich und räumlich nur wenig entfernt – 1.000 weitere vor dem endgültigen Verlust der Demokratie. Während die einen Schilder mit dem Motto „Mal richtig abschalten! Atomkraft, nein danke“ hochhielten, setzten sich die anderen mit dem Slogan „Nein zur EU-Diktatur – Volksentscheid über den Lissabonner Vertrag“ am Bahnhof Friedristraße in Bewegung. Aufgerufen hatten „ja nur“ Bürgerinitiativen, Kleinstparteien und Weblogs – doch beides lag sicher näher, als man zuerst vermutete.


Es geht um ganze Demo gegen den Lissabon-Vertrag Foto: Johannes Heckmann
Groß und klein: wenigstens auf einem (Grünen-)Plakat wurde die Symbiose erreicht – oder die Umdeutung? | Foto: Johannes Heckmann

Ausgangspunkt der in Rekordzeit organisierten Demonstration war die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009, den Lissabonner Vertrag – unter Auflagen – anzuerkennen. Das von den Karlsruher Richtern beanstandete Begleitgesetz wurde in Zwischenzeit neu entworfen, passierte am 8. September den Bundestag und ebnet so der Ratifizierung den Weg. Endgültig in Kraft treten kann der Vertrag allerdings erst dann, wenn auch die Iren, die ihr Referendum wiederholen müssen, dieses Mal mehrheitlich dafür stimmen sollten. Der politische Druck auf das Volk „tief im Westen“ wurde also rechtzeitig noch einmal erhöht.

„Ireland, Ireland, please say no!“


Und so lag es nah, vor der Irischen Botschaft einen Zwischenstopp einzulegen: Mit lautstarken Sprechchören warb man für ihr Nein und machte auf die faktisch erschreckenden Inhalte des Vertrags aufmerksam, die der breiten Öffentlichkeit nur wenig bekannt sein dürften. Hauptkritikpunkte der Redner des Bündnisses gegen den Lissabonner Vertrag sind Sozialbau, Militarisierung und die Aufgabe des demokratischen Prinzips, der Gewaltenteilung.


Demonstranten halten die Irland-Fahne Anti-Lissabon Demo Foto: Johannes Heckmann
Solidarität mit Irland – oder umgekehrt (bei der Auftaktkundgebung)
Foto: Johannes Heckmann

Politische Entscheidungen werden nach dem Vertragswerk nur noch von Ministerrat und EU-Kommission getroffen und der Kontrolle nationaler Parlamente entzogen. Das EU-Parlament werde zwar gewählt, habe aber keine Befugnis mehr, Gesetze zu erlassen, kritisierten die Redner. Die Veranstalter sprachen von einem unwiderruflichen Weg in eine neue Diktatur, die sogar Aufstände unter Aussetzung des Tötungsverbots legal niederschlagen dürfe. Hierfür kann man laut Vertrag sogar Einsatzkräfte aus benachbarten EU-Ländern einsetzen, die im Zweifelsfall weniger Skrupel hätten, gegen ein Volk, das nicht „ihr eigenes“ ist, gewaltsam vorzugehen.

Lissabon: Kriege ausdrücklich gebilligt

Klaus Buchner ÖDP | Foto: Christian Heinrici
Buchner bei der Zwischenkundgebung am
Brandenburger Tor | Foto: Christian Heinrici
Klaus Buchner von der ÖDP wies darauf hin, dass über 80 Prozent der neu erlassenen Gesetze in Deutschland von der EU-Kommission vorgeschrieben werden. Die Besetzung der Kommission wiederum werde „ausgeschachert zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten und den Wirtschaftsverbänden“; Volk und nationale Parlamente seien faktisch ausgeschlossen. Das EU-Parlament dürfe nur ja sagen, nicht aber die Gesetzesentwürfe ändern. Des Weiteren kritisierte Buchner die neoliberale Grundausrichtung des Vertrags, der gemäß Artikel 151 festschreibt, dass kein Sozialgesetz die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft beeinträchtigen darf. Für noch bedenklicher hält er den ständigen Zwang zur Aufrüstung, der in Artikel 42 zum Ausdruck kommt. Kriege werden darin zur Durchsetzung der Interessen der EU ausdrücklich gebilligt. Zu guter letzt prangerte er an, dass die konventionellen Parteien, die den Vertrag unterstützen, die Bedingungen des Bundesverfassungsgerichts auch im neuen Begleitgesetz nicht berücksichtigt hätten. Eine erneute Klage hält er deshalb für zwingend erforderlich. Er hielt alle Anwesenden dazu an, ordentliche Verfassungsbeschwerden in Karlsruhe einzureichen. „Wir sind begeisterte Europäer, haben aber was gegen diese EU-Diktatur.“ schloss er seine Ansprache unter Applaus.

Die Bandbreite auf Demo gegen Lissabon-Vertrag, Berlin | Foto: Christian Heinrici
Mit Titeln wie „Angst vor Lissabon“ begleitete die Duisburger HipHop-Band Die Bandbreite den langen Zug durch Berlin Mitte: unermüdlich, lautstark und immer wieder im wahrsten Sinne bewegend | Foto: Christian Heinrici

„Zu allem Mumpitz ja sagen“


Christoph Hörstel von der Neuen Mitte ging anschließend auf die möglichen militärischen Einlassungen einer undemokratischen EU ein, in der nicht mehr nationale Parlamente über Krieg und Frieden entscheiden. Aber bereits jetzt, fügte er an, wo unsere Parlamente noch was zu entscheiden hätten, würden sie bereits „zu allem Mumpitz ja sagen“. Neue Kriegseinsätze unter Einsatz neuer Uranbomben drohen Hörstel zufolge in Afrika und in Iran. In seinem Abschlussstatement regte er dazu an, an die „Träume der Eltern anzuknüpfen“ – einst erhofften sie sich Frieden und Freiheit. Doch, dazu bedarf es der Stärkung der Demokratie durch plebiszitäre Elemente und der Schwächung des Brüsseler Machtapparats.


Christoph Hörstel und Sandra Müller, Demo gegen Lissabon-Vertrag in Berlin Foto: Christian Heinrici
Christoph Hörstel berichtet aus Afghanistan und eigener Erfahrung (im Bild mit Sandra Müller) | Foto: Christian Heinrici

Sandra Müller von der Bürgerinitiative „Volksabstimmung über den EU-Vertrag“ sprach von einem „Blindflug der Politik“ und verdeutlichte die EU-Verfahrensweise anhand Friedrich Schillers Werk „Wallenstein“, wo bekanntlich alle Parteien ein leeres und „friedensstiftendes“ Papier unterschreiben sollen. Am Ende aber wird eine Klausel hinzugefügt, die dafür sorgt, dass der Krieg weitergeht. Die Abgeordneten, die über den Vertrag von Lissabon abstimmen mussten, seien auf ähnliche Weise getäuscht worden: Der vollständige Vertragstext habe den Parlamentariern bei der Abstimmung im Bundestag schließlich gar nicht vorgelegen.

Vorboten der Diktatur?

Die geringere Teilnehmerzahl der Demonstration ist nicht nur dem offensichtlichen Presseboykott und der verweigerten Schaltung eines Werbespots in den Berliner U-Bahnen geschuldet, sondern rührt wohl auch daher, dass ein gemeinsames Interesse beider Demonstrationen nur wenig bekannt war. Von den 50.000 Menschen auf der Anti-Atom-Demo dürfte den Wenigsten vertraut gewesen sein, dass nach in Kraft treten des Vertrags von Lissabon, die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM) über den Atomausstieg entscheidet. Eine Hochrisikotechnologie wie Atomkraft lässt sich letztlich nur totalitär durchsetzten – nicht demokratisch. Dass die neue EU nicht nur Atom-Megastaat, sondern auch Atommacht sein wird, sollte niemanden mehr überraschen.

Demo gegen den Lissabon-Vertrag Berlin | Foto: Christian Heinrici
Vorboten und Himmel über Berlin: Vielleicht nicht so viele, aber viele junge Teilnehmer vor dem Brandenburger Tor | Foto: Christian Heinrici

Jürgen Elsässer von der Volksinitiative merkte an, dass die Werbung für die „Nein zur EU-Diktatur“- Demonstration mit der Begründung sie sei „zu politisch“ verweigert wurde, was einem klaren Verstoß gegen die Meinungsfreiheit gleichkäme. Die Demonstration sei – einem kleinen Wunder gleich – praktisch ohne Unterstützung zustande gekommen und nur übers Internet verbreitet worden. Die beklagte Zensur fände aber nur gegen gewisse Inhalte statt, der Werbespot der Anti-Atom-Demo durfte ja bekanntlich in der U-Bahn laufen. „Freeman“ von „Alles-Schall und Rauch“, einer der bekannteren Blogautoren, der zur Demo aufgerufen hatten, war sogar eigens aus der Schweiz angereist.

„Freiheit statt Angst“

Mitorganisator und NRhZ-Autor Jürgen Elsässer zeigte sich in seiner Abschlussrede zuversichtlich, dass die Iren – wie einst die „comischen“ Gallier den Römern – dem „EU-Imperium“ trotzen werden. Er bezeichnete die EU-Institutionen als „Agenten des internationalen Finanzkapitals und beschwor die Stärke der antifaschistischen und antiglobalistischen Bewegung: „Die Macht geht von uns aus, nicht von Brüssel. Denn wir sind das Volk!“

Volk zieht durchs Berliner „Presseviertel“ Foto: Johannes Heckmann
Und da zieht es, das Volk, unbeachtet durchs Berliner „Presseviertel“
Foto: Johannes Heckmann

Am Samstag, den 12. September und dem achten Jahrestag nach Aussetzung essenzieller Freiheitsrechte in unzähligen Staaten wird unter dem Motto „Freiheit statt Angst – Stoppt den Überwachungswahn“ auch in Berlin eine weitere Demonstration stattfinden, die genauso mehr Beachtung verdient, als ihr in den Massenmedien zugestanden wird. Wer Zusammenhänge vermutet, liegt richtig. (CH)

Online-Flyer Nr. 214  vom 09.09.2009

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