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Kultur und Wissen
Interview mit dem Lyriker und Herausgeber Axel Kutsch
Die kleinen Schritte der Poesie
Von Gerrit Wustmann

Axel Kutsch gilt als bedeutender Herausgeber von Lyrik in Deutschland. In dieser Woche erscheint mit „Versnetze_zwei“ der Nachfolgeband seines Übersichtswerks über die deutsche Gegenwartslyrik, in dem Poeten aller Generationen eine enorme Vielfalt präsentieren. Im Gespräch mit der NRhZ gewährt Kutsch Einblick in seine Arbeit, spricht über die deutsche Verlagslandschaft und erklärt, warum die höchste sprachliche Kunstform mehr Leser verdient hätte.

Herr Kutsch, zwei Jahre sind vergangen seit unserem letzten NRhZ-Interview. Zwei Jahre auch, seit die von Ihnen herausgegebene Anthologie „Versnetze. Das große Buch der neuen deutschen Lyrik“ erschienen ist. Der Nachfolgeband erscheint diese Tage unter dem Titel „Vernsetze_zwei. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart“ im Verlag Ralf Liebe. Es ist nach „An Deutschland gedacht“ bereits Ihre zweite umfassende Arbeit als Herausgeber im Jahr 2009….

Es bot sich an, einmal eine Themenanthologie zu unserem Land zu machen, weil in diesem Jahr viele Jubiläen anstehen: unter anderem zwanzig Jahre Mauerfall, sechzig Jahre Gründung der Bundesrepublik, auf der anderen Seite der DDR. Nun folgt mit „Versnetze_zwei“ eine Fortsetzung des 2007 erschienenen Bandes, die zeigt, wie sich die Lyrik weiterentwickelt oder eben auch nicht weiterentwickelt hat.

Kann man in diesen zwei Jahren ausmachen, ob es neue Tendenzen, Entwicklungen in der deutschsprachigen Lyrik gibt?

Im Laufe dieser zwei Jahre nicht so sehr. Es ist nach wie vor so, dass die junge Generation nach vorne drängt, was schon seit einigen Jahren in stärkerem Maße als in früheren Jahrzehnten der Fall ist. Man erkennt den Willen, Schreibweisen zu forcieren. Eine grundsätzlich neue Richtung wird man wohl nicht mehr kreieren können, aber die Jungen, die die Traditionen kennen, versuchen, eigene Noten und eigene Diktionen zu entwickeln, die die Lyrik in kleinen Schritten vorantreiben.

Der jüngste Autor in „Versnetze_zwei“, Leander Beil, ist gerade siebzehn Jahre alt. Überhaupt ist die junge Lyrik wieder, wie Sie schon sagten, stark vertreten. Jan Pehrke hat kürzlich in einem Essay nachvollzogen, dass es in der Politik stets die Jüngeren waren, die den Anstoß zu großen Entwicklungen, auch zu Revolutionen gaben. Kaum eine wirklich wegweisende politische Figur war über dreißig Jahre alt. Gilt das auch in der Literatur?

Im Großen und Ganzen ja. Nimmt man die Lyrik, dann wird man sehen, dass Autoren wie Rimbaud, der schon mit zwanzig Jahren sein Gesamtwerk vollendet hatte, starke Impulse gegeben haben. Das gleiche gilt für die Expressionisten. Das war eine junge Generation, die ab 1910 aufgebrochen ist, um die Lyrik mit neuen Tönen zu beleben. Auch beim Surrealismus, der in Frankreich blühte, war es so: junge Autoren, die nach neuen Formen, neuen Inhalten, neuer Sprache strebten. Ältere Autoren haben dann oft die Einflüsse der Jungen aufgenommen. Auch heute hat der Nachwuchs großes Potential, wenn auch grundsätzliche Neuerungen wie die angesprochenen Stile nicht mehr zu erwarten sind.


Axel Kutsch während einer Lesung im Tee De Cologne
Quelle: Michael Maye


Apropos Politik und Literatur. Im Gegensatz zu vielen Klassikern ist die politische Lyrik heute zumeist platt, plakativ, wenig lesenswert. Wo ist sie hin, die gute politische Lyrik?

Sie versteckt sich. Sie ist nicht mehr so präsent wie noch zu Zeiten eines Erich Fried, in den siebziger und achtziger Jahren also, aber auch da gab es viele platte Texte. Die relevante junge Generation von heute arbeitet stark mit Verfremdung, wodurch manches, das gesellschaftskritisch ist, sich nicht mehr so direkt erkennen lässt. Das hängt auch damit zusammen, dass die aktuelle Generation nicht mehr glaubt, mit Literatur etwas ändern zu können. Die politische Lyrik ist weniger geworden, und wo sie noch auftritt, da ist sie oft verschlüsselt und zumindest in ihren literarisch besseren Ausformungen alles andere als platt oder plakativ.

Lyrik fördert das Hinterfragen, das genaue Hinschauen…

Natürlich, und das ist auch wichtig, gerade in unserer heutigen massenmedialen Gesellschaft, wo vieles sehr oberflächlich an einem vorbeirauscht. Wenn man Lyrik ernsthaft liest – und dieser Ernst kann sehr vergnüglich sein -, ist man gezwungen, anzuhalten, auch mal länger nachzudenken. Man muss ein Gedicht nicht auf Anhieb verstehen. Selbst wenn man es gar nicht versteht, kann man sich dennoch an Rhythmus und Sprache erfreuen. Poesie veranlasst zur Langsamkeit, zum Innehalten. 

Wie schon 2007 ist auch in „Versnetze_zwei“ eine gewisse Zentrierung erkennbar. Die junge Lyrikszene spielt sich vorwiegend in Berlin, Leipzig, Köln ab, viele drängen in die Hauptstadt. Manche widersetzen sich dem Trend. Die 27jährige Kölner Autorin Marie T. Martin sagte kürzlich, sie wolle nicht nach Berlin. „Das macht doch jeder.“

Eine Zentrierung auf nur eine einzige Stadt wäre nicht so gut. Leipzig, Berlin, Köln und Umgebung, auch München sind Schwerpunktstädte. Man darf dabei aber nicht übersehen, dass sich in ganz Deutschland, auch in der Provinz, viele Talente finden. Augsburg oder Hannover sind keine Städte, die man mit Literatur in Verbindung bringt. Brecht ist aus Augsburg abgehauen. Das sind Städte, aus denen manche junge Autoren schnell fliehen. Aber auch dort sitzen sowohl jüngere als auch ältere Poeten, die sehr gute Lyrik schreiben und durchaus Kontakt halten zu Autoren in den Schwerpunktstädten. Die Gefahr einer zu starken Zentrierung sehe ich nicht. Die Szene ist sehr vielfältig.

Lyrik ist nach wie vor die Gattung der kleinen Auflagen. Inzwischen scheint es aber für kleine, ambitionierte Verlage, nicht zuletzt durch die Wirtschaftskrise, eng zu werden. Wie die Süddeutsche Zeitung im Mai berichtete, fährt der Schweizer Verleger Urs Engeler die Buchproduktion fast gänzlich zurück. Erst letzte Woche wurde dann offiziell, dass auch der Ammann Verlag seine Tore schließen muss. Ist zu befürchten, dass Großkonzerne wie Random House über kurz oder lang die kleine, engagierte Literatur zugunsten ihrer Massenware ganz vom Markt verdrängen?

Komplett vermutlich nicht. Die Kleinen werden aber auch nicht mehr wachsen. Als Kleinverleger, aber auch als Herausgeber von Lyrik zu arbeiten ist nicht selten mit Selbstausbeutung verbunden, während die großen Verlage auf den Massenmarkt ausgerichtet sind. Da muss schnell der Bestseller her, es muss schnell Umsatz generiert werden. Das geht bis in die Buchhandlungen hinein, wo die kleinen Verlage kaum mehr Chancen haben, zumal die großen meist sogar Geld bezahlen, um die beste Auslagefläche im Geschäft für sich belegen zu können. Es gibt sie zwar noch, aber die Buchhändler, die den Kleinen Platz einräumen, werden weniger. Im Grunde könnten sich die Großverlage durchaus die Veröffentlichung von Lyrikbänden leisten, aber was die Gewinnerwartungen nicht erfüllt, das wird gar nicht erst gemacht. Es gibt zwar noch Ausnahmen. Aber sie sind seltener geworden.

Lyrik sei die spannendste Gattung in der deutschsprachigen Literatur, steht im Vorwort zu „Versnetze_zwei“. Wie kann man einen Nichtlyrikleser dazu animieren, einmal seinen Krimi oder seinen Ratgeber beiseite zu legen und einen Lyrikband zur Hand zu nehmen?

Ein Gedicht beansprucht den Leser nicht über mehrere Tage wie etwa ein Roman. Mit einem Gedicht kann man sich einige Minuten oder auch eine Stunde lang beschäftigen. Es gibt gute Lyrik, die eingängig ist, andere Gedichte fordern heraus, erschließen sich nicht unmittelbar. Poesie bringt eine gewisse Ruhe und Selbstbesinnung, wenn man sich darauf einlässt, etwa indem man den Fernseher ausschaltet und sich zehn Minuten lang intensiv einem Gedicht widmet. Dafür sind Anthologien gut. Die kann man kreuz und quer lesen, kann neue Texte von Autoren lesen, die man schon kennt, und man kann auch Neuentdeckungen machen. Man kann sich dabei in relativ kurzer Zeit auf hohem Niveau mit Inhalt, Hintergrund, mit Sprache beschäftigen. Gerade in unserer verflachenden Sprachlandschaft lohnt sich das. Im Fernsehen und in den Zeitungen wimmelt es vor Klischees und Wortmüll. Mit Gedichten kann man wieder ein Gespür für die innovativen Möglichkeiten von Sprache entwickeln und diese Erkenntnisse auch für sich verwenden.

LESUNG
Am Freitag, den 2. Oktober um 20 Uhr stellen Axel Kutsch, Amir Shaheen und Rolly Brings & Bänd im Köln Ehrenfelder Tee De Cologne die Anthologie "An Deutschland gedacht. Lyrik zur Lage des Landes" vor, aus der die NRhZ einige Auszüge veröffentlicht hat. 

Eine musikalische Lesung in gemütlicher Atmosphäre im Herzen Kölns. Der Eintritt beträgt 8 €, Karten können unter 0221 5007507 reserviert werden.

DAS BUCH

Versnetze_zwei
Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart

Herausgegeben von Axel Kutsch

Verlag Ralf Liebe, Weilerswist, 2009
ISBN 978-3-941037-37-3
320 Seiten

20 €



(GW)




Online-Flyer Nr. 213  vom 02.09.2009

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