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Arbeit und Soziales
Wir werden alles selber machen müssen (3)
„Zeit des Zorns“
Von Jutta Ditfurth

"Der Kapitalismus ist schon im Normalzustand eine Katastrophe für Mensch und Natur. Es gibt ihn nicht ohne Profit und nicht ohne Ausbeutung“, hieß es - gestützt auf Karl Marx - in unserer Rezension von Jutta Ditfurths Streitschrift “Zeit des Zorns“ (s. NRhZ Nr.199). Inzwischen sind wir weit über den Normalzustand hinaus. Jammern hilft da aber nicht. Es gibt viel zu tun. Was und wie? Einige Antworten gibt Jutta Ditfurth im letzten Kapitel mit der Überschrift “Wir werden alles selber machen müssen“, mit dessen Veröffentlichung wir hier beginnen. Sie will den Zorn, den die Krise auslöst, zu neuen Bündnissen nützen. - Die Redaktion

Rief 1966 zur APO auf – Rudi Dutschke
NRhZ-Archiv
Rief 1966 zur APO auf – Rudi Dutschke
NRhZ-Archiv
 
Einmal ist es in der Bundesrepublik gelungen, mit einer emanzipatorischen Revolte die herrschende Ordnung durcheinander zu wirbeln: mit der außerparlamentarischen Opposition (APO) von 1964 bis 1968. Den Klugen in der APO war damals klar, dass sie nicht nur an der Oberfläche der gesellschaftlichen Ordnung kratzten, sondern dass ihre Gegner in Staat und Kapital sehr viel beunruhigter waren, als sie eingestanden. Auf überraschende Weise wurde das 40 Jahre danach, ungewollt und unverhofft, noch einmal deutlich. Mit einer intensiv vorbereiteten Kampagne sollte im Jahr 2008 angeblich das 40. Jubiläum von »68« gewürdigt werden. Es wurde – natürlich gab es Ausnahmen – eine einerseits verniedlichende und andererseits denunziatorische Kampagne. Noch 40 Jahre danach war zu spüren, dass nicht nur die katholische Kirche in Frankreich den Mai 1968 »als Katastrophe fast schon in den Ausmaßen der Großen Revolution erlebt«(307) hat.

Die Denunziation der außerparlamentarischen Revolte von 1968 passte zur aufkommenden Wirtschaftskrise, denn welche herrschenden Kreise wünschen sich, wenn unberechenbare Zeiten bevorstehen, eine positive kollektive Erinnerung an ­einen der wichtigsten politischen Kämpfe der Nachkriegszeit?
 
Anlässlich der Konstituierung der großen Koalition 1966 rief Rudi Dutschke auf einer Versammlung des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) zur »außerparlamentarischen Opposition« (APO) auf. Später sagte er auch, dass die Revolte mit den Protesten gegen den Besuch des Diktators Moïse Tschombé 1964 in Westberlin begonnen habe. Dass die SPD mit der CDU eine große Koalition einging, dass ein NS-Verfolgter wie Willy Brandt (SPD) Außenminister unter einem früheren Mitglied der NSDAP, dem Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU), wurde, war für die junge Linke Verrat. Die älteren Linken erinnerten sich außerdem noch daran, dass die SPD 1961 den SDS aus der Partei geworfen hatte, dass Willy Brandt den Vietnamkrieg verteidigte und die SPD ihre antimilitaristischen Nachkriegspositionen in den 1950er Jahren verraten hatte. 1968 stimmte sie auch den Notstandsgesetzen zu.
 
Zehn Jahre nach 1968 gab es kein Jubiläum, da steckte der Linken noch der Deutsche Herbst von 1977 in den Knochen. Die brachiale Vorgehensweise der Regierung von Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) gegen jede staatsunabhängige Linke, unter dem Vorwand der Verfolgung der RAF, ließ 1978 keine Zeit für sentimentale Erinnerungen.

1988, 20 Jahre danach, gab es den neuen Code »68« und zum ersten Mal »Veteranentreffen«. Leute waren dabei, die hatte man früher nie auf der Straße gesehen. »68« war schick geworden. Älter gewordene APO-Leute, viele in Parteien, Verbänden und Gewerkschaften etabliert, hielten Reden über ihre ruhmreiche Vergangenheit. Es waren auch gute Texte darunter. Ein Jahr später fiel die Mauer.

Ich weiß nicht, wie viele frühere APO-Leute an der Legende mitstrickten, bei der Bundesrepublik handele es sich um eine nachhaltig zivilisierte Gesellschaft. Adenauer und Brandt hatten Diktatoren empfangen und Mörder, man hatte Kriege wie den in Vietnam gutgeheißen, hatte sich die Hände zwar mit Rüstungsgeschäften, aber noch nicht wieder in einem Krieg schmutzig gemacht. Kurz nach dem 30. Jubiläum der APO, im März 1999, zog Deutschland in seinen ersten Krieg nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Nicht einmal 50 Jahre hatte der Schwur »Nie wieder Krieg« gehalten. Ohne die Propaganda einiger alter APO-Leute, allen voran Gerhard Schröder (SPD), Joseph Fischer (Grüne) und Daniel Cohn-Bendit (Grüne), wären die Bomben auf Belgrad in der rot-grünen Wählerschaft nicht durchzusetzen gewesen. Das obszönste Argument war das von Joseph Fischer, dass Deutschland sich wegen Auschwitz am Krieg beteiligen müsse.
 
Im vierzigsten Jahr der Revolte, 2008, erlebten wir zum ersten Mal, dass sich einige frühere APO-Linke, befördert nicht nur mit Literaturpreisen und Bundesverdienstkreuzen, als Kronzeugen aggressiv auf die Seite der herrschenden Kreise schlugen.

Linke machen Fehler. Manche Linke machen manchmal sogar böse Fehler. Wären also gewisse APO-Leute aufgetreten und hätten darüber gesprochen, was sie und ihre politischen Zirkel in Theorie und Praxis damals falsch gemacht hatten, wäre das unter Umständen lehrreich gewesen. Was sie 2008 fabrizierten, war aber etwas ganz anderes. Sie bauten hier und da marginale Selbstkritiken ein, um dann umso grobschlächtiger gegen die APO auszuholen. Die Geschichte wurde gefälscht. Es entstanden »wissenschaftliche« Texte und Beiträge, in denen sogar die Entstehungsbedingungen der APO geleugnet wurden: die alten Nazis, die uns damals überall umgaben, der Vietnamkrieg, die grausamen Verhältnisse in den Kinder- und Jugendheimen, die widerlichen autoritären Strukturen allüberall, pädagogische Konzepte und Ordnungsvorstellungen aus der Nazizeit und nicht zuletzt der Antikommunismus.


Verglich die 68er mit den Nazis – Wendehals Götz Aly
NRhZ-Archiv

 
Der auffälligste Wendehals war Götz Aly, der ein ganzes Buch breit (und in der Frankfurter Rundschau, PK) die APO mit der NS-Studentenbewegung verglich.(308) Und damit den NS-Faschismus auch mit der APO. War also die faschistische Machtergreifung nichts als eine »schreckliche Jugenddiktatur«? Es gab auch eine frauenspezifische Variante von Denunziation und Relativierung: Jutta Brückners Theaterstück von 2008, Bräute des Nichts, in dem sie allen Ernstes Ulrike Meinhof mit Magda Goebbels verglich.(309)

Die Botschaft dieser Kronzeugen und der Kronzeugin war: Rebellion ist kriminell, der Rebellierende faschistoid oder geisteskrank. Die Abrechnung mit der APO war eine organisierte Kampagne, an deren Ende alle begriffen haben sollten, wie verwerflich Protest, Widerstand und Revolte sind. Rechtzeitig für die Erschütterungen durch die kommende Weltwirtschaftkrise.

Schön, dass es nicht geklappt hat. Die Idee, die APO zu diskreditieren, flog auf, als der Frankfurter Kulturdezernent Semmelroth (CDU) sie, Seit an Seit mit dem konservativen Herausgeber Alfred Neven DuMont, auf der Frankfurter Buchmesse 2007 ausplauderte. Gegenöffentlichkeit und politische Auseinandersetzungen konnten vorbereitet werden, keine Denunziation blieb unwidersprochen stehen. Am Ende standen die Kronzeugen so nackt, rechts und angepasst da, wie sie es waren.
 

Mit Götz Aly offenbar einig – 
FR-Mehrheitseigner Alfred Neven DuMont
NRhZ-Archiv
Es gab auch den – erfolgreicheren – Versuch, die APO zu entpolitisieren. Auch hierfür gab es die passenden Zeitzeugen. Der Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann antwortete im Mai 2008 – im selben Interview, in dem er keine Weltwirtschaftskrise kommen sieht – auf die Frage »Sie sind ein Achtundsechziger?«: »[…] ich war kein Revoluzzer, wenn Sie das meinen. Aber ich gehöre natürlich der Generation an, und ich habe miterlebt, wie eine in mancherlei Hinsicht erstarrte Gesellschaft, zum Beispiel in puncto Erziehung oder Sexualität, aufgebrochen wurde. Leider ist dann später aus manchen positiven Absichten und Ansätzen viel Negatives erwachsen. Aber zweifellos gab es damals eine Aufbruchstimmung.«310

Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll – es sei ihm gegönnt. Die Mitläufer und Zuschauer, so streberhaft sie sich auch auf ihre Karrieren vorbereiteten, profitierten eben auch von besserer Musik, freizügigerem Sex und entspannteren Umgangsformen. Natürlich bleibt in ihrer Erinnerung der politische Kern der außerparlamentarischen Revolte auf der Strecke: der Kampf gegen Krieg und Kapitalismus, die Abscheu gegen alte und neue Nazis und ein umfassender Begriff sozialer Emanzipation.
 
2008 wurde versucht, die »68er« zu diffamieren, 2009 wird versucht, nationale Gefühle zu stimulieren. Beides soll helfen, die Vorstellung klein zu halten, dass diese Verhältnisse Widerstand verdienen. Wir sind aber nicht »alle in einem Boot«, sondern die einen ersaufen im Meer oder schuften im Maschinenraum, und die anderen logieren im Penthouse der Reederei. Es bedarf also einer Meuterei. (PK)
 
Fortsetzung in der nächsten NRhZ-Ausgabe
 
Anmerkungen
 
(307) Jürg Altwegg: »Benedikt und die Brandstifter«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 30.1.2009
(308) Götz Aly: Unser Kampf, Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag 2008 (siehe auch http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=12050)
Die Kampagne gegen die APO begann mit dem vierseitigen Götz-Aly-Text: »Die Väter der 68er« in der Frankfurter Rundschau v. 30.1.2008, S. 19–22. Aly versucht nachzuweisen, wie ähnlich sich die NS-Studentenbewegung und die APO gewesen seien. Die Frankfurter Rundschau bebilderte seinen Beitrag auf der ersten Seite mit dem Farbbild eines strammen »arischen« Studenten vom Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund. Die darauffolgende Doppelseite zeigte das Farbfoto einer Bücherverbrennung. Bildunterschrift: »Schlechtes Vorbild? Studenten und andere Nationalsozialisten verbrennen am 10. Mai 1933 in Berlin verfemte Bücher. 1968 richtete sich die Wut der Studenten gegen die Springerpresse.«
Das Fragezeichen macht die Gleichsetzung nicht weniger infam. Nicht nur weil auf diese Weise die Werke der geächteten und verfolgten jüdischen, sozialistischen und kommunistischen und antifaschistischen Schriftsteller mit den Machwerken der Springerpresse verglichen werden.
Die vierte und letzte Seite des Beitrages von Aly schmückten zwei Fotos. Das obere zeigte eine Kundgebung des NS-faschistischen Studentenbundes. Bildunterschrift: »Für andere Hochschulen: Kundgebung von NS-Studenten vor der Universität Berlin.« Das untere Foto ist wahrscheinlich bei der internationalen Demonstration gegen den Vietnamkrieg am 18. Februar 1968 in Westberlin aufgenommen worden. Es zeigt den ins englische Exil geflohenen jüdischen Lyriker Erich Fried, den chilenischen Exilanten Gaston Salvatore, einen Neffen des später ermordeten chilenischen Staatspräsidenten Salvador Allende, und Rudi Dutschke (dem wenige Wochen später ein rechtsextremer Hilfsarbeiter zwei Kugeln in den Kopf schießt. An den Folgen des Attentats starb Rudi Dutschke 1979). Unter dieses Foto plazierte die FR eine so widerwärtige Bildunterschrift, dass einem der Atem stockt. Mit Verweis auf das darüber plazierte Foto der Nazi­studenten steht da: »Ähnliche Ziele: Rudi Dutschke (Mitte) bei einer Demonstration im Februar 1968«.
(309) Jutta Brückner: Bräute des Nichts, Berlin: Theater der Zeit 2008.
Aus dem Begleittext: »Zwei deutsche Traumata, der Nationalsozialismus und die RAF, sind untergründig miteinander verwoben. In beiden hat der weibliche Fanatismus eine besondere Rolle gespielt. Weil im 20. Jahrhundert die Frauen zusammen mit den Massen zu politischen Subjekten werden, vollzieht sich ein Umbau nicht nur der traditionellen Geschlechterrollen, sondern auch des Politischen selbst. Triebe werden zu politischen Faktoren. Jutta Brückner entdeckt in den Seelenbiografien von Ulrike Meinhof und Magda Goebbels den gemeinsamen Bodensatz: einen romantischen Fanatismus, in dem Politik als Religion gelebt wird und Erlösung garantieren muss, bis hin zu einem Sado-Masochismus, der in der Destruktion mündet.« Die Akademie der Künste (Berlin) erklärte: »Das Projekt ist Teil des Programms Kunst und Revolte, in dessen Rahmen sich die Akademie der Künste mit dem Erbe der 68er im Spannungsfeld von Ästhetik und Politik befasst.«
Vgl. zu Meinhof: Jutta Ditfurth: Ulrike Meinhof. Die Biografie, Berlin: Ullstein 2007
(310) Interview mit Josef Ackermann, a. a. O.
 
Jutta Ditfurth "Zeit des Zorns - Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft". Droemer Verlag München 2009, 267 Seiten, 16,95 €, ISBN 978-3-426-27504-7.

Jutta Ditfurth, Jahrgang 1951, ist Soziologin, Publizistin und aktiv in der außerparlamentarischen Linken. Sie war Mitbegründerin der Grünen, von 1984 bis 1988 deren Bundesvorsitzende. 1991 trat sie aus wegen deren Marsch nach rechts aus der Partei aus. Dazu ihr Buch “Das waren die Grünen. Abschied von einer Hoffnung“, Econ, München 2000. Lesenswert auch ihr Interview in der Monatszeitschrift konkret 6/09.
 
Lesungstermine, soweit bekannt:
 
Mo. 7.9.2009, 19:30 Uhr FRANKFURT/M., Lesung & Diskussion über »Zeit des Zorns«, Club Voltaire, Kleine Hochstr. 5, Eintritt: 9 Euro/ ermässigt: 6 Euro/ Hartz IV: 1 Euro.

Mi. 7.10.2009, Uhrzeit?, STUTTGART. Anlässlich des 75. Geburtstags von Ulrike Meinhof: Lesung & Diskussion zu »Ulrike Meinhof. Die Biografie«,Theaterhaus Stuttgart, Siemensstr. 11, 70469 Stuttgart

Mo. 26.10.2009 GIESSEN, Lesung & Diskussion über »Zeit des Zorns«. Ort: Altes Schloss, Netanya-Saal. Veranstalterin: Die Frauenbeauftragte, Magistrat der Stadt Gießen. MitveranstalterInnen: ASTA und die Frauenbeauftragte der Justus-Liebig-niversität. Eintritt: 10 Euro/ 5 Euro

Do. 19.11.2009, 10:00-16:00 Uhr, Frankfurt/Main, GEW-Seminar zu »ZEIT DES ZORNS«. Veranstaltungsort vermutlich: GEW Landesverband Hessen, Zimmerweg 12, 60325 Frankfurt am Main, Telefon: 069 / 97 12 93 - 0, Fax: 069 / 97 12 93 93. Vorherige Anmeldung notwendig: anmeldung@lea-bildung.de. Weitere infos: www.lea-bildung.de.

Sa. 28.11.2009, 15:00 Uhr, NÜRNBERG, Lesung & Diskussion über »Zeit des Zorns, Linke Literaturmesse Nürnberg,

Di. 8.12.2009, BREMERHAVEN, Lesung und Diskussion über »ZEIT DES ZORNS. Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft«

Mehr siehe: www.jutta-ditfurth.de

Online-Flyer Nr. 204  vom 01.07.2009

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